Abdichten am Außenposten

Von Jan Marot · · 2007/07

Die sozialistische Regierung Spaniens hat wohl mehr als einer Million MigrantInnen einen legalen Aufenthaltsstatus gewährt, doch steigt die Zahl der Einwanderungswilligen aus Afrika und Lateinamerika. Tausende von ihnen bezahlen diesen Versuch mit dem Leben.

Greifbar nahe erscheint Afrika von der Punta Marroquí im südspanischen Tarifa aus betrachtet, trennen doch nur 14 Kilometer Meer die zwei Kontinente. Hier befindet sich Europas am stärksten bewachte Außengrenze. Die kürzeste Flüchtlingsroute ist mitunter die gefährlichste und chancenloseste: Radar, Infrarot, Küstenwache, die kommerzielle Schifffahrt, Haie und Strömungen machen die Überquerung dieser 14 Kilometer zu einem praktisch unmöglichen Unterfangen für MigrantInnen. Schlepper sehen sich gezwungen, andere Wege zu suchen, etwa zum Küstenabschnitt rund um die Stadt Motril, den Kanarischen Inseln oder neuerdings den Balearen.
Masseneinbürgerung und Zwangsabschiebungen prägen das ambivalente Bild der spanischen Migrationspolitik. Wer keine Aufenthaltsbewilligung hat, lebt versteckt als „clandestino“. Doch wer legal im Land ist, der hat Chancen, erhält Förderungen und darf bereits nach einem Jahr ein Familienmitglied aus der Heimat nachholen. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite verkörpert Musa: Keine 20 Jahre alt, lebt er seit fünf Monaten im südspanischen Granada. Der Senegalese spricht gebrochen Spanisch und ist Analphabet. Wie viele seiner LeidensgenossInnen kam er auf dem Seeweg über die Kanarischen Inseln ins Land. Er überlebte die Überfahrt. Geschätzte 6.000 Flüchtlinge schafften es im vergangenen Jahr nicht, sie ertranken.
Bis zu 100.000 Wirtschafts- und Politikflüchtlinge – deren Unterscheidung unter dem selbst auferlegten Zeitdruck der spanischen Regierung schwer fällt –, würden auf ihre Gelegenheit nach Spanien zu gelangen warten, meinen spanische Menschenrechtsorganisationen. Und bei weitem nicht alle werden aufgegriffen, die das Land erreichen: 2005 lebten Schätzungen zu Folge mehr als eineinhalb Millionen „ohne Papiere“ im Land.
„Im Senegal gibt es jede Menge Arbeit“, meint Musa, „aber man verdient dabei keine 20 Euro im Monat.“ Spanien versucht nunmehr, die Massenimmigration bereits im Ursprungsland zu stoppen: Helikopter und die Marine patrouillieren vor Dakar im Senegal, Mauretanien und Kap Verde und anderen afrikanischen Häfen, von wo aus marode, überfüllte Boote in Richtung Kanarische Inseln starten. Eine Fülle an bilateralen Abkommen ermöglicht es Spanien, ohne allzu viel Bürokratie die Flüchtlinge zu „repatriieren“.
Obwohl die Medienberichte der letzten Jahre den Eindruck entstehen lassen, dass einzig aus Afrika Flüchtlinge nach Spanien strömen, machen diese nur einen, wenn auch wachsenden Teil der Migrationsbewegung aus. Und im Gegensatz zu lateinamerikanischen BürgerInnen sind ihre Chancen auf einen legalen Aufenthaltsstatus gering. Zu denken geben auch Eurostat-Daten, welche für das Jahr 2005 lediglich knapp 6.000 Asylanträge in Spanien festhalten – fast 4.000 der Anträge wurden abgelehnt. Wegen der schnellen Abschiebung kommen nur knapp fünf Prozent der Flüchtlinge überhaupt dazu, einen Asylantrag zu stellen.

Zurück zu Musa: Er verkauft aus dem Internet gesaugte Raubkopien für knappe zwei Euro das Stück. Mit Glück bekommt er gar drei fünfzig für das intellektuelle „Strandgut“ des virtuellen Meeres. Davon kann er „gerade leben“. Nach Hause schicken kann er nichts, wie er versichert. In Ecuador hingegen, dem Land, aus dem nach Marokko die meisten ImmigrantInnen in Spanien kommen (knapp 400.000 „Legale“), sind die Transaktionen dieser AuslandsbürgerInnen bereits ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor. Spaniens Innenminister Alfredo Peréz Rubalcaba freut sich über einen Rückgang von über 67 Prozent an Aufgegriffenen, die heuer illegal auf dem Seeweg ins Land gelangen wollten. Im Jahr 2006 waren es insgesamt 31.245 Menschen, die auf hoher See aufgegriffen wurden oder als „Boatpeople“ an Spaniens Küsten strandeten, heuer bis Mitte Mai „nur“ 3.012. „Wer illegal ins Land kommt, der wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit wieder zurückgeschickt“, erklärte Rubalcaba gegenüber der Tageszeitung El País als deutliche Botschaft an die Schlepper.
Spanische Nichtregierungsorganisationen machen nun vermehrt gegen den Frontex-Kurs der EU (siehe Kasten) mobil. Die Migrationszahlen sinken, die Zahl der Asylanträge auch. Wobei hier NGOs ihren Frust äußern und meinen, dass weniger Menschen Zugang zum Asylverfahren bekämen. Gar von einem „Genozid“ an der immigrationswilligen Bevölkerung aus Staaten wie dem Senegal, Mauretanien oder Marokko spricht der Seerechtsexperte Lorenzo „Pipe“ Sarmiento aus Bilbao angesichts der Opferzahlen. Im vergangenen Juni berichtete die Tageszeitung El País von einem vor Brasilien entdeckten Boot: an Bord ein dutzend Leichen qualvoll verdursteter Menschen und die Papiere von 23 Menschen aus Mauretanien und dem Senegal. Sarmiento beobachtet das seit 1979 stetig wachsende Phänomen der Flüchtlingsopfer. Schuld am Tod zahlloser MigrantInnen sei die Kompetenzaufsplitterung der Küstenüberwachung: Küstenwache, Guardia civil, autonome Gemeinschaften, Umweltministerium – alle haben ihre eigenen Boote.
Von zivilgesellschaftlicher Seite hingegen werden immer wieder Aktionen beispielhafter Solidarität bekannt. Privatpersonen stellen den Flüchtlingen – koordiniert über eine NGO – Wohnungen und Häuser zur Verfügung, versorgen halbverdurstete Gestrandete mit dem Lebensnotwendigen; Zeitungen rufen dazu auf, den Flüchtlingen Arbeitsplätze anzubieten.

Eine Woche reichte aus, um einen Großteil der über tausend Anfang Mai bei Motril (Granada) und auf den Kanarischen Inseln aufgegriffenen Flüchtlinge wieder in ihre „Heimat“ zurückzubringen. Unter den Repatriierten, von denen die meisten Spanien ohne Papiere erreichen, befanden sich auch zahlreiche Minderjährige. Diese scheinbare „Null-Toleranz“ wird von der EU-Kommission als „beispielhaftes Integrationsmodell“ gelobt. Dessen Eckpfeiler: ein ansehnlich dotierter Fonds zur Integrationsförderung, die Arbeitsvermittlung aus den Ursprungsländern sowie Barcelonas Integrationssystem. Andere EU-Staaten könnten sich hier etwas abschauen, meint die Kommission. Für den Fonds sind für heuer an die 200 Millionen Euro veranschlagt. Zudem wird Spaniens Regierung für die kommenden Jahre weitere zwei Milliarden Euro für Immigration und Integration zur Verfügung stellen. Positives brachte die sozialistische Regierung allemal: Unter konservativer Führung flossen lediglich sieben Millionen Euro pro Jahr in diese Töpfe.
Das Engagement ist nicht uneigennützig: Man braucht ImmigrantInnen – das Rückgrat der Wirtschaft, die Bauindustrie, sowie die Landwirtschaft leben von ihrer Arbeitskraft. Ohne sie wären allein in der Provinz Granada 300.000 Arbeitsplätze unbesetzt.
Afrika ist jedoch nicht der Hauptfaktor in Spaniens multikultureller Gesellschaft, und nur fünf Prozent der illegalen Einwanderung erfolgen in kleinen Booten über das Meer. Rund 750.000 AfrikanerInnen (mehr als zwei Drittel davon aus Marokko) stehen 1,1 Millionen MigrantInnen aus Lateinamerika gegenüber. Für BürgerInnen aus Ecuador, die mit knapp 400.000 das Gros der lateinamerikanischen Einwanderung ausmachen, aus Bolivien und Kolumbien sind die Häfen und Flughäfen des Landes der Punkt der Einreise. Man kommt als „Tourist“ und bleibt im Land. Doch seit März warten die Angehörigen vergeblich auf diejenigen, die sie abholen wollen. Der Grund: strengere Einreisebestimmungen. War auf Grund der kolonialen Vergangenheit Spaniens die Einreise aus Lateinamerika bisher ohne Sichtvermerk möglich, so gilt ab 1. April Visumpflicht.
Die alten „Schlupflöcher“ sind nun dicht. Das zeigte sich deutlich im April, als 82 BolivianerInnen, darunter ganze Familien, die teilweise in ihrer Heimat ihre ganze Existenz aufgaben, Haus und Hof verkauften, um die 2.000 Euro teure legale Überfahrt auf dem Luxusliner „Sinfonia“ zu finanzieren, schlichtweg das Verlassen des Schiffes in den Häfen von Cádiz und Valencia verwehrt wurde. Sie mussten vom Madrider Flughafen Barajas, einem weiteren Immigrations-Tor Spaniens, wieder nach Bolivien zurückfliegen.
Auch aus den EU-Staaten strömen Tausende nach Spanien: die größte Gemeinschaft aus der EU bilden rumänische StaatsbürgerInnen. Ihr Image in der spanischen Gesellschaft ist, ähnlich dem der Marokkaner im Süden Spaniens, eher negativ. Fernsehbilder zeigen überfüllte, verwahrloste Wohnungen, und wenn wieder ein Haus ausgeraubt wurde oder ein Juwelier überfallen, dann schreibt die Presse meist von „rumänischen Tätern“. Im jüngsten EU-Rassismusbericht kommt das sonst so gastfreundliche Spanien nicht ungeschoren davon: Die Terrorangst und tagtägliche Berichte von neuen „Flüchtlingswellen“ in den Medien machen Spaniens Bevölkerung reservierter. In Almeria und Granada kam es zu ersten Attacken von Skinheads gegen MigrantInnen.

Einmal lebend in Spanien angekommen, bedeutet aber noch nicht Rettung. So machte ein Flüchtlingslager bei Málaga Negativ-Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass Staatspolizei-Bedienstete sich gegen Parfüm-, Kleidungs- und Alkohol-„Spenden“ mitunter sexuelle Dienste von Migrantinnen „erkauften“.
Ein Sonderfall ist die Situation in den autonomen Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika. Vor zwei Jahren gab es bei einem Sturmversuch der Grenzbefestigung über ein dutzend Todesopfer unter den Flüchtlingen. Im Niemandsland zwischen Spanien und Marokko sitzen seit Monaten mehr als 2.000 Menschen fest.
Das Letzte, was ich von Musa, dem jungen Senegalesen, sah, war ein Pressefoto nach einer Razzia gegen „Raubkopierer“ Anfang Mai. Alle wurden nach Motril an der andalusischen Küste in ein Gefängnis überstellt: der letzte Sammelpunkt vor ihrer Abschiebung.
In der zweiten Juniwoche ereignete sich auch in Spanien ein ähnlicher Fall wie 1999 mit Marcus Omofuma in Österreich. Ein 23-jähriger Nigerianer wurde bei seiner versuchten Rückstellung nach Nigeria gefesselt und geknebelt und erstickte beim Flug nach Lagos.

Jan Maro studierte Kommunikationswissenschaft in Kombination mit Sozial – und Kulturanthropologie. Er lebt seit 2006 in Spanien als freier Journalist für die Tageszeitung Der Standard und die Stuttgarter Nachrichten in Granada.

Basic

Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!

  • 6 Ausgaben pro Jahr als Print-Ausgabe und/oder E-Paper
  • 48 Seiten mit 12-seitigem Themenschwerpunkt pro Ausgabe
  • 12 x "Extrablatt" direkt in Ihr E-Mail-Postfach
  • voller Online-Zugang inkl. Archiv
ab € 25 /Jahr
Abo Abschließen
Förder

Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.

Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

84 /Jahr
Abo Abschließen
Soli

Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!

Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

168 /Jahr
Abo Abschließen