Afrika als Milleniumsprojekt

Von Dominic Johnson · · 2005/01

Der Schlüssel zur Umsetzung der Milleniumsziele liegt in Afrika. Hier ist die Armut am hartnäckigsten, hier sind die ökonomischen und sozialen Fortschritte am spärlichsten und die politischen Handlungsmöglichkeiten erscheinen am weitesten entfernt.

Parallel zur Überprüfung der „Millennium Development Goals“ hat Großbritanniens Premierminister Tony Blair in seiner Funktion als amtierender Präsident der G-8-Staatengruppe (die sieben wichtigsten Industrienationen plus Russland) Afrika zum Thema Nummer Eins erklärt.
Auf dem G-8-Gipfel im schottischen Gleneagles im Juli will Blair ein ambitioniertes Reformpaket verabschieden lassen, das an die Stelle des wenig effektiven „Aktionsplans für Afrika“ der G-8 aus dem Jahr 2002 treten soll. Damals hatten die Industrienationen lediglich unverbindliche Unterstützung für die afrikanische Nepad-Initiative (New Partnership for Africa’s Development) zugesagt – ein panafrikanischer Entwicklungsplan, der politische Reformen auf dem Kontinent als antizipierende Gegenleistung für erhoffte Kapitalzuflüsse von bis zu 64 Milliarden US-Dollar im Jahr zur Finanzierung groß angelegter Aufbauprojekte in Afrika vorsah, vor allem grenzüberschreitende Infrastrukturmaßnahmen zur Förderung der regionalen Wirtschaftsintegration.
Der „Aktionsplan für Afrika“ war eine Enttäuschung. Er legte die G-8-Staaten weder auf Geldsummen noch auf Fristen zum Handeln fest und wurde daher bereits am Tag seiner Verabschiedung von Hilfswerken als „verlorene Gelegenheit“ kritisiert. Man hört inzwischen von ihm gar nichts mehr, während auch Nepad von hochfliegenden Aufbauträumen in die Niederungen der Ebene heruntergestiegen ist: Der darin vereinbarte „Peer Review Mechanism“, in dem afrikanische Nepad-Teilnehmerstaaten gegenseitig die Qualität ihrer Regierungsführung überprüfen, steckt erst in den Kinderschuhen, während die neu gegründete „Afrikanische Union“ (AU) samt ihren Organen zur kollektiven Sicherheitspolitik inzwischen viel mehr Aufmerksamkeit erhält.

Tony Blairs Vorlage für den kommenden G-8-Gipfel wurde von einer hochkarätig besetzten „Commission for Africa“ erarbeitet, die am 11. März einen voluminösen, detaillierten und fundierten Abschlussbericht unter dem Titel „Our Common Interest“ veröffentlichte. Dies war ein bewusster Anklang an den so genannten Brundtland-Bericht der UNO zur globalen Entwicklung aus dem Jahr 1987 mit dem Titel „Our Common Future“ – eine Arbeit, die am Ursprung der Entwicklung der Millenniumsziele lag. Mit der Arbeit der britischen Afrika-Kommission ist die moderne entwicklungspolitische Grundsatzdiskussion damit gewissermaßen an ihre Ursprünge zurückgekehrt – zurück in die Zeiten umfassender Konzepte aus einem Guss, weg von der oft vergeblichen und in sich oft widersprüchlichen Detailarbeit einzelner Länderstrategien und Armutsbekämpfungsprogramme.
Die Kernpunkte des Blair-Berichts sind im Wesentlichen identisch mit denen des Berichts von Jeffrey Sachs vom vergangenen Jänner zu den Schritten, die zu einer Umsetzung der Millenniumsziele bis 2015 nötig wären. Kernpunkte sind eine mögliche Verdoppelung der Entwicklungshilfe bis 2010 und eine Verdreifachung bis 2015, sofern die Aufnahmekapazitäten Afrikas es zulassen – also 25 Milliarden Dollar extra pro Jahr bis 2010 und 50 Milliarden bis 2015. Auslandsschulden sollen komplett gestrichen werden, verschwinden sollen auch Marktzugangsbeschränkungen für afrikanische Exportprodukte und Exportsubventionen für westliche Ausfuhren nach Afrika beispielsweise im Agrarbereich. Die Repatriierung von Fluchtkapital gehört ebenso zu den Empfehlungen wie die Förderung afrikanischer Universitäten.
Auf afrikanischer Seite verlangt der Bericht die Einhaltung demokratischer und menschenrechtlicher Standards sowie die prioritäre Förderung von Infrastruktur, Grundschulbildung, Ausbau der Gesundheitsversorgung und Nahrungsmittelanbau. Dazu kommen zahlreiche einzelne Analysen spezifischer Problemlagen und spezielle Überlegungen, zum Beispiel die Einrichtung einer ständigen UN-Untersuchungskommission zur kriegsfördernden Rohstoffausbeutung oder die bürgerfreundliche Reform afrikanischer Finanz- und Bankensysteme.

Viele afrikanische Regierungen haben den Bericht gelobt. „Uns läuft das Wasser im Mund zusammen“, sagte Nigerias Präsident Olusegun Obasanjo. „Ein Augenblick des Erwachens für Afrika“ war das Urteil von Äthiopiens Premierminister Meles Zenawi, Mitglied der Kommission. Afrikanische Intellektuelle sind im Allgemeinen skeptischer, denn nach wie vor spielen in Blairs Konzept Afrikas Regierungen die zentrale Rolle bei der Umsetzung. Aber fast jede Kritik an den Einzelheiten der Forderungen an sich läuft ins Leere – aus dem einfachen Grund, dass auf den 450 Seiten des Berichts eigentlich alles schon drinsteht.
Zwei große Fragen jedoch bleiben ungeklärt. Die erste ist die, ob Blairs Bericht auch tatsächlich von der G-8-Gruppe als eigene, kollektive Politik angenommen wird. Die Zeichen dafür stehen schlecht. Die USA sind gegen jede internationale Festlegung der Zielsetzungen ihrer Entwicklungshilfe. Frankreich wehrt sich gegen ein Ende der EU-Agrarexportsubventionen. Deutschland ist beleidigt, weil der „Aktionsplan für Afrika“ von 2002 so schnell in Vergessenheit geraten ist. Italien, Japan, Kanada und Russland spielen untergeordnete Rollen. Die Gefahr ist groß, dass Blairs Pläne zu ambitioniert sind, um konsensfähig zu sein – und anders als ein Regimewechsel im Irak lässt sich eine Veränderung der Stellung Afrikas in der Welt nicht unilateral herbeiführen.
Wie wenig Konsens herrscht, wurde bereits in den letzten Monaten deutlich, als mehr oder weniger irrelevante Vorschläge für neue Finanzquellen der Entwicklungshilfe – beispielsweise eine Kerosinsteuer – die Debatte um afrikapolitische Prioritäten und die mögliche Umwidmung bestehender Entwicklungshilfe-Etats verdrängte.

Die zweite Frage rührt an den Kern der Vorschläge selbst: In welchem Ausmaß ist die Entwicklung Afrikas tatsächlich eine Angelegenheit auswärtiger Entwicklungshilfe? Die Kritik, dass Afrika in den letzten Jahrzehnten doch schon Hunderte von Milliarden Dollar an Hilfsgeldern eingesackt hat, entbehrt nicht der Grundlage. Vor allem afrikanische Kommentatoren verweisen immer wieder auf Konstanten afrikanischer Herrschaftssysteme, die einer vernünftigen Entwicklung entgegenstehen: Korruption und Selbstsucht an der Staatsspitze, Rechtsungleichheit zwischen Arm und Reich, Verachtung der Menschenwürde, selektiver Appell an ausländische Hilfe bei gleichzeitiger Abwehr ausländischer politischer Einmischung. Solange all dies so bleibe, könne der beste internationale Entwicklungsplan wenig ändern.
Diese Kritik ist zwar nur bedingt richtig, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel China zahlreiche der kritisierten Merkmale ebenfalls aufweist und dennoch gigantische ökonomische Fortschritte gemacht hat. Doch dieser Einwand ist wiederum brandgefährlich. Gerade einige der rücksichtslosesten Diktatoren Afrikas nutzen ihn, um ihre eigenen Untaten zu rechtfertigen, und preisen explizit China als Entwicklungsmodell, um Demokratieforderungen abzuwehren. Eine ehrliche Debatte über Afrikas Entwicklung wird die Tücken des China-Vergleichs viel offener und schonungsloser angehen müssen als dies bisher der Fall gewesen ist.

Auf pragmatischerer Ebene kann gegen die vielen neuen Ideen eingewandt werden, dass vieles davon bereits Teil afrikanischer Entwicklungsprogramme ist – beispielsweise in den Armutsbekämpfungsstrategien (PRSP) der Weltbank. Wenn diese nur mäßigen Erfolg haben, liegt das sicherlich nicht allein daran, dass die eingesetzten Gelder aus dem eingesparten Schuldendienst zu gering sind (obwohl dieser Faktor nicht unterschätzt werden darf). Es liegt auch daran, dass technokratische Entwicklungspläne, die auf dem Papier perfekt aussehen, in der Realität oft ganz anders wirken, weil die gesellschaftlichen Realitäten nicht die sind, die von den Technokraten wahrgenommen werden.
Ob die „Commission for Africa“ oder Nepad – all den existierenden panafrikanischen Aufstiegsvisionen ist gemein, dass sie aus der Vogelperspektive entstanden sind und nicht von unten, aus der ganzen Vielfalt und Komplexität der realen Erfahrungen einfacher afrikanischer Menschen heraus. Vermutlich eignen sich diese auch gar nicht für große Pläne. Aber selbst wenn sie auch nur für kleine Pläne reichen würden, wäre das ein unverzichtbarer Teil der tausendfach nötigen Basisentwicklung, ohne die eine integrierte Entwicklungsvision für Afrika insgesamt niemals zur Blüte kommen wird.

Dominic Johnson ist Afrika-Redakteur der Berliner Tageszeitung „taz“.

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