AFRIKANISCHES DORFLEBEN IM WANDEL

Von Chris Brazier · · 2006/06

Zum zweiten Mal kehrt New Internationalist-Redakteur Chris Brazier nach Sabtenga in Burkina Faso zurück. In dem afrikanischen Dorf hatte er gelernt, die Welt mit völlig anderen Augen zu sehen.

Ehrlich gesagt steht und fällt diese Geschichte mit Mariama. Ohne sie hätte ich nichts zu erzählen. Es war 1985, und meine Aufgabe war es, eine Bäuerin zu finden, über die wir in einem Film über den Hunger in Afrika berichten könnten (er wurde unter dem Titel „Man-Made Famine“ im Fernsehen gesendet). Im Übermut der Jugend beschloss ich, sie in Burkina Faso zu suchen, einem Land, das damals gerade die Geburtswehen einer turbulenten, aber vielversprechenden Revolution erlebte.
Wir landeten schließlich in Sabtenga, einem Dorf im Südosten des Landes nahe der Grenze zu Ghana. Es waren schlechte Zeiten für das Dorf. Die Regenzeit war bereits zwei Monate überfällig, und nichts deutete darauf hin, dass sie endlich beginnen würde. Zweimal hatten die Menschen bereits ausgesät, als sich der Himmel verdunkelte, nur um die Saat unter der unbarmherzigen Glut der Sonne verwelken zu sehen, als die Wolken ihre wertvolle Last für sich behielten.
Der Gegensatz zwischen den Lebensverhältnissen im Dorf und jenen in den reichen Ländern entsprach meinen schlimmsten Vorstellungen. Die Menschen hatten nicht einmal Zugtiere zum Pflügen, sondern bearbeiteten die trockene Erde mit einer Erdhacke oder daba, tief vornübergebeugt. Ihre Hütten bauten sie aus Lehm und Stroh, zu kreisförmigen Gehöften angeordnet. Die meisten Familien waren polygam. Die Frauen hatten den Großteil der schweren Arbeit zu erledigen, trugen gewaltige Lasten von Holz, Wasser oder anderem auf dem Kopf, oft stundenlang. Verhütungsmittel waren nur vom Hörensagen bekannt, als etwas, was in der Hauptstadt verwendet wurde, und alle jungen Mädchen mussten die Verstümmelung ihrer Genitalien über sich ergehen lassen.
Als wir mit dem Drehen begonnen hatten – wir konzentrierten uns auf die Geschichte einer jungen Frau namens Zenabou Bambara – kam ich mir eher überflüssig vor und begann, mir andere Teile des Dorfs anzusehen, begleitet von Mariama Gamené, einer der wenigen Einheimischen, die Französisch sprachen. In den Wochen, die ich dort verbrachte, fand ich zu einem völlig neuen Blick auf die Welt. Zwischen mir und den Menschen in Sabtenga bestand zweifellos eine wirtschaftliche und kulturelle Kluft, die kaum größer hätte sein können, und doch passierte etwas ziemlich Einfaches und Erstaunliches: Ich schloss Freundschaften.

In Sabtenga begriff ich endlich, dass es in ganz Afrika Dörfer mit Menschen gab, die genauso waren wie wir, mit den selben Zielen für sich und ihre Familien, den selben Hoffnungen und Träumen. Das Bewusstsein des gemeinsamen Menschseins, Gefühlsverwandtschaft und liebevolle Zuneigung sind stets stärker als kulturelle Unterschiede.
Als ich 1995 in das Dorf zurückkehrte, hatte ich das im Sinn – den LeserInnen zu vermitteln, was ich erfahren hatte. Ich wollte ihnen ein afrikanisches Dorf zeigen, aber nicht im Stil einer ethnologischen Studie über kulturelle Differenz oder als Objekt karitativen Mitleids, sondern als reale Gemeinschaft mit ihren eigenen Charakteren und internen Konflikten, ihren alltäglichen Dramen und unvermeidlichen Tragödien. Die Ausgabe des New Internationalist, die daraus entstand, war aber auch ein Porträt einer Gemeinschaft, die rasche Veränderungen durchmachte und deren Lebensbedingungen sich auf eine Art verbesserten, wie ich es nicht erwarten hatte können. Als ich im Oktober 2005 zum zweiten Mal zurückkehrte, hatte ich die Hoffnung nicht aufgegeben, wieder Zeuge weiterer Verbesserungen sein zu können – und, vor allem, dass die Menschen, die ich am besten kannte, nach wie vor am Leben waren.

Als ich Mariama kennenlernte, war sie 28. Ihre muslimischen Eltern hatten ihr untersagt, ihre erste Liebe zu heiraten – einen Polizisten aus der Stadt Garango, der sie mit seinem Bekenntnis zum Atheismus verletzt hatte. Und so hatte sie sich mit 17, im üblichen Heiratsalter, für die nächstbeste Option entschieden: Sie wurde die zweite Frau eines 30-jährigen Mannes namens Issa Moné. Vorerst bedeutete das den Reiz eines neuen Lebens in der Hauptstadt von Côte d’Ivoire, Abidjan, wo ihr erstes Kind geboren wurde. Aber schon bald zwang der Tod von Issas Vater die Familie, in das heimatliche Sabtenga zurückzukehren und sich den Beschränkungen einer Subsistenzlandwirtschaft zu unterwerfen. Leider zu früh, denn sie hatten noch nicht jene Ersparnisse gebildet, die ihnen in den bevorstehenden härteren Jahren das Leben hätten erleichtern können.
Sie hatte bereits vier Kinder, als wir uns kennenlernten – und ließ mir gegenüber keinen Zweifel aufkommen, dass sie keines mehr wollte. Sie hatte gute Gründe, weitere Schwangerschaften zu vermeiden – mehr als genug. Sie war damals eben als erste Frau in den „Ausschuss zur Verteidigung der Revolution“ gewählt worden, eine neue lokale Verwaltungsebene, mit der Revolutionsführer Thomas Sankara die Herrschaft der traditionellen Dorfchefs zu untergraben hoffte. Und es gab die Chance, dass man ihr aufgrund ihrer Funktion eine Ausbildung in Tenkodogo finanzieren würde, der wichtigsten Stadt der Region. Aber vor allem war ihr klar, welche Belastung kleine Kinder für eine Mutter darstellen, und war sich unsicher, ob sie das ein weiteres Mal auf sich nehmen wollte.
1995 hatte sie drei weitere Kinder zur Welt gebracht, und das letzte, die zweijährige Rasinatu, kämpfte ununterbrochen um ihre Aufmerksamkeit. Reumütig erzählte sie, wie Issa darauf bestanden hatte, dass mehr Kinder für einen Subsistenzbauern etwas Gutes wären, eine Hilfe bei der Arbeit auf den Feldern, und mehr Sicherheit im Alter bedeuten würden (die traditionelle bäuerliche Ansicht). Schließlich hatte sie ihn überzeugt, dass es die Familie belasten würde, ein weiteres Maul stopfen zu müssen – aber zuverlässige Verhütungsmittel waren erst im Jahr davor im Dorf eingeführt worden.

Dieses Mal gehe ich von der Annahme aus, dass Rasinatu, im selben Jahr geboren wie Holly, mein eigenes jüngstes Kind, nach wie vor Mariamas Jüngstes sein wird – keiner ihrer Briefe an mich in den Jahren seither war bei mir angekommen, und ich hatte meine Versuche, Kontakt zu halten, angesichts des offensichtlichen Schweigens aufgegeben.
„Ich habe noch eine Tochter bekommen – Zahara.“ Sie beobachtet mich gespannt, ein verschmitztes Funkeln in den Augen, in Erinnerung an mein Entsetzen vor zehn Jahren, als ich erfuhr, dass sie für sieben Kinder zu sorgen hatte. Zahara war kein Ergebnis einer bäuerlichen Strategie, sondern eines simplen Versagens der Verhütung, wie es uns allen passieren kann. Mariama sah sich gezwungen, noch radikalere Maßnahmen anzuwenden – Norplant-Implantate in ihrem Arm, die für bis zu fünf Jahre Schutz sorgen sollten.
Ich bin mir zu diesem Zeitpunkt nicht sicher, ob ich mich darüber freuen soll, denn ich erinnere mich dunkel an Diskussionen über fragwürdige Nebenwirkungen langfristiger Verhütungsmethoden, die afrikanischen Frauen aufgedrängt werden. Aber ich sage nichts – und das ist gut so, denn die größten Sorgen bezüglich des injizierbaren Verhütungsmittels Depo-Provera aus den 1980er Jahren, an die ich mich erinnere (und das andere Frauen im Dorf nun alle drei Monate verwenden), scheinen sich mittlerweile als unbegründet erwiesen zu haben. Alle Methoden der Empfängnisverhütung sind mit Nachteilen und Nebenwirkungen verbunden, aber Norplant scheint für Mariama eine vernünftige Option zu sein.
Mittlerweile sind wir in Mariamas „Concession“ eingelangt. Dieses französische Wort bezeichnet die Gehöfte der hiesigen Familien, die eher wie kleine Dörfer wirken. An einer kreisförmigen oder ovalen Außenmauer aus Lehm reihen sich Häuser aneinander, während sich im Inneren weitere Häuser, Getreidespeicher, Kochstellen und Ställe befinden, jeweils durch Mauern voneinander abgegrenzt, wodurch ein völlig unübersichtliches Labyrinth aus Durchgängen entsteht – eine faszinierende physische Manifestation der Großfamilie, die durch die Polygamie noch an Komplexität gewinnt.

Vor zwanzig Jahren waren die Hütten innerhalb der Concession Mariamas klein, rund und mit konischen Strohdächern gedeckt, genauso wie die anderen im Dorf, ein fantastisches Bild aus fotografischer Sicht. Aber schon 1995 war ein Wandel zu bemerken: Wer es sich im Dorf leisten konnte, hatte diese Hütten durch weit größere, rechteckige Häuser aus Lehm und Ziegeln ersetzt, mit jeweils zwei Räumen und Wellblechdächern.
Es war nicht nur der Fotograf in mir, der diese Änderung bedauerte – ich wusste, um wieviel heißer ein Wellblechdach die Häuser im unbarmherzigen Klima des Sahel machen würde. Aber für die Leute im Dorf zählten andere praktische Vorteile – die neuen Dächer wären ein besserer Schutz vor dem Regen, und sie würden 15 Jahre halten anstatt bloß zwei. Und wer könnte schon bestreiten, dass es besser ist, mehr Platz zu haben und ein solider gebautes Haus? Mariama erzählte mir, dass sie klare Vorstellungen von einem Leben in einem solchen Haus hatte und das ganze Geld, das sie als meine Dolmetscherin verdiente, für die Verwirklichung dieses Traums verwenden wollte. Heute hat nicht nur Mariama ihr zweiräumiges Haus, sondern auch die meisten anderen Erwachsenen in der Concession. In einer traditionellen, strohgedeckten Hütte zu leben ist mehr noch als 1995 zu einem Symbol der Armut geworden.
Armut ist relativ, und in diesem Fall sogar noch mehr. Die Zahl der rechteckigen Häuser in ihrer Concession ist ein handfester Beweis dafür, dass es Mariamas Familie besser geht als so manch anderer. Gegenüber vielen ist sie jedoch weit ins Hintertreffen geraten, etwa im Vergleich zur anderen Familie, deren Wohlergehen vom New Internationalist verfolgt wurde, der von Zenabou und Adama. Seit mehr als einem Jahrzehnt besaß Adama bereits Ochsen, die ihm das Pflügen erleichterten und ihm ermöglichten, eine größere Fläche zu bebauen, während Issa und seine Ehefrauen ohne solche Hilfe auskommen mussten.
Das scheint nun zum Äquivalent des Traumhauses von 1995 geworden zu sein – Mariama überlegt, das Geld, das sie mit mir verdient, für den Kauf zweier Ochsen zu verwenden. Das würde nicht nur bedeuten, mehr Hirse und Reis anbauen zu können, sondern wahrscheinlich auch größere Flächen mit Feldfrüchten, mit denen sich Geld verdienen lässt.

Geld ist in Sabtenga großteils etwas, das nicht vor Ort verdient, sondern aus der Ferne hergeschickt wird. Genauso wie Mariama und Issa darunter litten, dass sie in Côte d’Ivoire vor ihrer Rückkehr zur Subsistenzlandwirtschaft zu wenig verdient hatten, sind die meisten Familien von Überweisungen abhängig, die sie von Verwandten in der Hauptstadt Ouagadougou, in Abidjan, Lomé oder Accra erhalten. Die französischen Kolonialherren betrachteten das Land als wenig mehr als ein Arbeitskräftereservoir für die Plantagen auf fruchtbareren Böden im Süden, und dieses Erbe der Kolonialzeit besteht bis heute.
Armut innerhalb des Dorfes mag relativ sein. Doch im Vergleich zu den meisten von uns in den reichen Ländern ist der Mangel an Komfort und verfügbarem Einkommen von Menschen wie Mariama und Issa schlicht und einfach obszön.

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