Aischas Vermächtnis

Von Amina Wadud · · 2002/09

Der Kampf für die Rechte der Frauen kann auch innerhalb des Islam erfolgreich geführt werden – durch eine Rückkehr zum Koran selbst, meint Amina Wadud.

Ich trat in den 70er Jahren zum Islam über, zur Blütezeit der neuen feministischen Bewegung. Ich sah alles durch die Brille der religiösen Euphorie und des Idealismus. Als Wissenschaftlerin und Aktivistin habe ich mich seither – im Rahmen der islamischen Denkweise – darum bemüht, diesen Idealismus in pragmatische Reformen umzusetzen. Meine wichtigste Inspirationsquelle war die ursprüngliche Quelle des Islam – der Koran. Und für mich steht außer Zweifel, dass der Koran alles ausmerzen wollte, was der Frau eine untermenschliche Natur zuschrieb.
Beginnen wir mit der Entstehung des Menschen, wie sie im Koran beschrieben wird. Weder wurde der Mann als Ebenbild Gottes geschaffen noch wurde dem Mann – sozusagen im Nachhinein, aus Gründen der Zweckmäßigkeit – eine mit Mängeln behaftete Gefährtin „entnommen“. Dualismus ist das ursprüngliche Gestaltungskonzept der gesamten Schöpfung: „Von jeglichem Wesen haben wir Paare geschaffen (…)“ (Sure 51, Vers 49). Wenn also die vormenschliche Seele, das Selbst oder die Person („nafs“) ins Leben gerufen wird, ist ihr/ihre LebenspartnerIn („zawj“) bereits eingeplant. Die beiden leben in einem Zustand der Verzückung im Garten Eden. Sie werden vor der Versuchung durch Satan gewarnt, aber sie vergessen darauf und essen vom Baum. In der Erzählung der Geschichte vom Paradiesgarten benutzt der Koran die einzigartige Dualform der arabischen Grammatik und zeigt damit, dass beide schuld waren. Es gibt keine Sonderstellung und Bestrafung der Frau als Versucherin.
Schließlich ersuchen beide um Vergebung, und sie wird gewährt. Sie beginnen ihr Leben auf der Erde ohne „Sündenfall“ und ohne Spuren irgendeiner Erbsünde. Im Gegenteil, im Islam beginnt die menschliche Schöpfungsgeschichte auf Erden mit Vergebung und Gnade sowie einem höchst wichtigen Versprechen oder Bund mit Gott: Er/sie/es wird mittels Offenbarungen für Führung sorgen; Adam ist der erste Prophet.

Der Islam veränderte die Gesellschaft und die Ansicht von den Frauen radikal, obwohl das Patriarchat im Arabien des siebten Jahrhunderts tief verwurzelt war. Der Koran spricht Frauen ausdrückliche Rechte zu: auf Erbschaft, unabhängiges Eigentum, Scheidung und das Recht, vor Gericht als Zeugin auszusagen. Er verbietet willkürliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen und wendet sich gegen Zwang in der Ehe und in Gemeinschaftsangelegenheiten. Frauen und Männer sind gleichermaßen aufgefordert, alle religiösen Pflichten zu erfüllen, und können gleichermaßen für Vergehen bestraft werden. Schließlich wird den Frauen auch der höchste Segen versprochen, das Paradies und die Nähe zu Allah: „Wer immer auch nur ein Körnchen Gutes tut, ob Mann oder Frau, und dabei gläubig ist, wird ins Paradies einkehren.“ (Sure 40, Vers 40)
In der Zeit unmittelbar nach dem Tod des Propheten waren Frauen an allen Aspekten des Gemeinschaftslebens aktiv beteiligt – ob es um Religion, Politik, Soziales, Erziehung oder intellektuelle Fragen ging. Sie spielten eine Schlüsselrolle bei der Bewahrung der Traditionen, der Verbreitung von Wissen und der Kritik an Autoritäten, wenn diese gegen ihr Verständnis vom Koran oder vom Vermächtnis des Propheten verstießen. Die Lieblingsfrau des Propheten, Aischa, von der wir „die Hälfte unserer Religion“ lernen sollten, wie der Prophet sagte, wurde von den frühen Rechtsgelehrten oft um Rat ersucht.

Später jedoch, zur Zeit der Abbasiden, als die Grundlagen des Islam entwickelt wurden, waren die führenden Gelehrten und Denker ausschließlich Männer. Sie hatten keine unmittelbare Offenbarungserfahrung, kannten den Propheten nicht persönlich und waren bisweilen von geistigen und moralischen Strömungen beeinflusst, die in diametralem Gegensatz zum Islam standen. Insbesondere wichen sie von der im Koran begründeten Autonomie der Frauen ab und sprachen sich stattdessen für ihre Unterwerfung, ihre Schweigsamkeit und Absonderung aus. Ein eigenständiges Handeln der Frau wurde nur in Bezug auf den Dienst am Mann, an der Familie und der Gemeinschaft in Betracht gezogen. In der Rechtslehre wurden Frauen nun in die selbe Kategorie wie materielle Gegenstände und Besitztümer eingeordnet. Das zeigt sich heute im pakistanischen Strafgesetz, wo eine Vergewaltigung als Diebstahl an männlichem Privateigentum behandelt wird und die Rechte der Frau in keiner Weise berücksichtigt werden. Erst in der postkolonialen Zeit des 20. Jahrhunderts begannen muslimische Frauen wieder eine aktive Rolle in allen Bereichen des islamischen Lebens zu übernehmen.

Heute streben muslimische Frauen auf vielfältige Weise nach einer Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Stellung, stimmen aber nicht unbedingt miteinander überein. Auf der linken Seite des Spektrums finden wir säkular orientierte Feministinnen, die sich zwar als Musliminnen verstehen, den Islam aber als bloß kulturelles Phänomen definieren. Ihre Forderungen nach voller Gleichberechtigung entsprechen den westlichen Konzepten. Auf der extrem rechten Seite wiederum propagieren männliche muslimische Autoritäten und ihre Anhängerinnen, die „IslamistInnen“, einen reaktionären, neokonservativen Zugang. Für sie besteht der ideale Islam im Leben der GefährtInnen und NachfolgerInnen des Propheten in Medina: Heute wäre es nur erforderlich, dieses Ideal aus den Geschichtsbüchern herauszufiltern und in die moderne Welt einzupflanzen, durch die Errichtung eines Staates, der im Gegensatz zur Komplexität der Moderne vollständig von einer ungeprüften und unhinterfragten Scharia bestimmt wird. Dann würde das Leben perfekt sein. Eine Ungerechtigkeit gegenüber Frauen gäbe es nicht, denn das Gesetz wäre göttlich und das Problem einer patriarchalischen Auslegung irrelevant.

Demgegenüber entwickelte sich in den 90er Jahren dank der Arbeit von Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen ein „islamischer Feminismus“, der die Ansicht einer großen Zahl von Frauen ausdrückte, die sich irgendwo zwischen dem Islamismus und dem säkularen Feminismus verorteten. Sie waren zwar nicht bereit, ihre Zugehörigkeit zum Islam aufzugeben, die sie als essenziellen Teil ihrer selbstbestimmten Identität verstehen, kritisierten aber die patriarchalische Kontrolle der grundlegenden Weltsicht des Islam. Der islamische Feminismus wurde nicht zu einer identitätsstiftenden Strömung, und viele Frauen lehnen den Begriff weiter ab. Er half aber anderen, die Unterschiede zwischen ihnen und den beiden vorherrschenden Zugängen zur Frage der Rechte muslimischer Frauen zu erfassen.
Heute sind mehr muslimische Frauen an der Diskussion und Reform ihrer Identität beteiligt als jemals zuvor. Wissenschaftlerinnen versuchen die Fesseln zu beseitigen, die erst durch Jahrhunderte der patriarchalischen Interpretation und Praxis entstanden, indem sie auf Primärquellen zurückgreifen und sie neu auslegen. Der langfristige Erfolg dieses Prozesses beruht auf der Tatsache, dass sich alles innerhalb des Islam vollzieht. Und die Basis der Veränderung entstammt der vertrauenswürdigsten und verlässlichsten Quelle des Islam – dem Koran.

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Amina Wadud ist Professorin für Islamische Studien am Department for Philosophy and Religious Studies an der Virgina Commonwealth University (Virginia, USA).

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