Atemberaubend

Von Nicola Baird, New Internationalist · · 2000/01

Die Regenwälder sind die grünen Lungen und der Thermostat der Erde. Und sie sind auch ein einzigartiges Ökosystem, dessen Zauber New-Internationalist- Autorin Nicola Baird eigefangen hat.

„Das musst du dir anhören!“ Meine Freundin Dorothy stülpt mir in einem Plattenladen in Melbourne die Kopfhörer über die Ohren. Die CD rotiert in ihrem Gehäuse, dann vernehme ich den unverwechselbaren Rhythmus von zirpenden Grillen und Regen. Es ertönt eine ergreifende Frauenstimme, die a cappella singt. Plötzlich kommt mir meine erste Reise in den Regenwald wieder in den Sinn: das mühsame Hinunterrutschen über einen steilen Hang auf einem glitschigen roten Pfad, wo Wurzeln und herabhängende Schlingpflanzen den einzigen Halt bieten, bis zu der wunderbaren Belohnung – einem Bad in dem kühlen, glaskaren Wasserbecken am Fuße eines Wasserfalls. Orchideen neigten sich von oben herab, Papageien kreischten im hochstrebenden, verschlungenen Baumgeäst und über allem, scheinbar Hunderte von Metern entfernt, ein Flecken des strahlendblauen, sonnigen Tropenhimmels.

Das Lied ist zu Ende und ich nehme die Kopfhörer nur widerwillig ab. Draußen rattert ein Schnellbahnzug durch die Straßen. „Hast du es erkannt? Die Sängerin ist von den Salomonen- Inseln!“ Ich starre sie ungläubig an. „Ja, sicher“, beteuert sie aufgeregt, „die alte Frau, die ihr ganzes Leben lang barfuß geht und noch nie eine CD gesehen hat, die auf der kleinen Insel den ganzen Tag unter einem Ngali-Baum sitzt und Schlaflieder für ihre Enkelkinder singt; dieselbe Frau singt jetzt für die Welt!“

Sie singt natürlich in ihrer eigenen Sprache, aber für Dorothy ist das kein Problem. Ihre Mutter stammt aus der gleichen Gegend – Lau, der nordöstlichste Zipfel von Malaita, einer Insel ungefähr eine Tagesreise entfernt von Honiara, der Haupstadt der Salomonen. Wie die meisten der über 1.000 Inselatolle ist auch Malaita stark bewaldet. Obwohl die BewohnerInnen von Lau vom Regenwald weiter entfernt leben als der Großteil der über 80 unterschiedlichen Sprachgruppen des Landes – ihre Vorfahren haben künstliche Inseln rund um die Lagune von Lau angelegt, um so dem mühsamen Leben im Dschungel zu entgehen – werden dennoch alle ihre Lebensbereiche davon beherrscht. In ihren Schnitzereien, ihren Tänzen und Liedern, ihren überlieferten Ritualen, ihrem Glauben und ihren Geschichten huldigen und verehren sie den Regenwald. Er ist für sie Heiligtum, Vorratskammer, Bank und Quelle der Inspiration.

Der Regenwald trägt seinen Namen nicht umsonst – egal, ob man dabei an den Amazonas, den afrikanischen Dschungel oder die Wälder Ozeaniens denkt. Während der Regenzeit bietet sich einem fast jeden Nachmittag das gleiche Schauspiel. Schwere Regenwolken brauen sich am Himmel zusammen und lassen die Luftfeuchtigkeit ansteigen, bis das leise Rumpeln zu einem Dröhnen anschwillt, der Wind immer stärker wird und schließlich die ersten Regentropfen auf den Boden klatschen.

Wo es kein schützendes Laubdach gibt, ist das Trommeln des Regens mitunter so laut, dass eine normale Unterhaltung unmöglich wird und die riesigen, vom Erdboden zurückschnellenden Wassertropfen durchnässen einen ein zweites Mal von unten. Unter den mächtigen Baumriesen hingegen verwandeln sich die Blätter in einen schützenden Schirm, der nur mehr einen feinen Sprühregen durchdringen und die Wassermassen entlang seiner Äste und Stämme zu Boden strömen lässt.

Während der Nacht ist der Regenwald in eine tiefe Dunkelheit gehüllt. Der Mond und die hell strahlenden Sterne am südlichen Firmament bleiben hinter unzähligen Laubschichten verborgen.

Dennoch ist es im Wald alles andere als still. Die Nachtluft ist erfüllt von den Klängen des Lebens, einem einzigartigen Spektakel, in dem sich die Rufe und Laute von Fröschen, Flughunden und Insekten mischen. Zu keiner anderen Zeit des Tages ist der Wald für die Menschen so unzugänglich und geheimnisvoll wie bei Nacht.

Das einzigartige System, nach dem das Prinzip Regenwald für alle seine Lebewesen funktioniert, ist selbst ebenso geheimnisvoll. Tropische Wälder gedeihen normalerweise auf sehr mageren, flachen Böden. Um diesem Mangel entgegenzuwirken, hat die Natur einige unglaubliche Erneuerungsfähigkeiten entwickelt. Das Recycling wird geradezu mit freiem Auge sichtbar, wenn man die rasante Verrottung im Regenwald beobachtet. Gerade noch steht man auf einem der mächtigen, herumliegenden Stämme, da zerfällt er unter einem in weiche Trümmer. Ein wahres Festmahl für eine Vielfalt von Organismen – von Insekten bis Pilzen – kann beginnen.

Jeder Baum besteht zur Hälfte aus Kohlenstoff. Durch ihre Lebensgrundlage, die Photosynthese, entziehen die Bäume der Atmosphäre gewaltige Mengen an Kohlendioxid. Die Regenwälder fungieren somit als riesige Kohlenstofflager bzw. -ableiter. Denn der eingelagerte Kohlenstoff wird für die Atmosphäre nur bedrohlich, wenn er durch Verbrennung freigesetzt wird. Verrotten die Bäume, wird der Kohlenstoff als Nahrung wieder verwertet. Mit fortschreitender Zerstörung der Wälder schrumpfen allerdings die sicheren Depots für all jenes Kohlendioxid, das die Menschheit mit den Abgasen aus Autos, Flugzeugen und Industrie zusätzlich produziert. Und es könnte noch schlimmer kommen – nach den Befürchtungen einiger Klimaforscher wird der verbliebene Regenwald in 100 Jahren unter derartigem Stress stehen, dass er möglicherweise selbst beginnen könnte, Kohlendioxid freizusetzen. Mit unvorstellbaren Folgen für das gesamte Ökosystem des Planeten.

Eine weitere wichtige Funktion erfüllen die Regenwälder als Thermostat für das Weltklima. Die

feuchtheiße Luft, die aus den Wäldern – hier vor allem aus dem Amazonasgebiet – aufsteigt,

wird in Form von mächtigen Regenwolken weitergetragen und als gigantische Luftmassen in

die Atmosphäre transportiert. Von dort werden sie als Regen und Warmluft in kühlere Regionen

verteilt. Der Verlust dieser grünen Lungen hätte eine weltweite Klimaveränderung zur Folge hätte. Nordeuropa und Skandinavien beispielsweise könnten trockener und kälter werden.

In den weit verstreuten Wäldern auf den Salomon Islands leben 170 Vogelarten, einige davon mit ausgeprägten Unterarten. Unter den 4.500 Pflanzenarten findet man allein 230 verschiedene Orchideen. Die Schmetterlinge hier sind riesengroß. In den Mangrovenwäldern gedeihen ungezählte Reptilien und Amphibien. Viele der Tiere des Regenwaldes imitieren in ihrem Aussehen Farbe und Form der Pflanzen in ihrer Umgebung. Man braucht ein ganzes Leben, um alles zu erkennen, was man sieht.

Leider werden auch auf den Salomonen die Wälder rücksichtslos abgeholzt, hauptsächlich von malaiischen Firmen für den Export nach Japan. Dort, wo die Schlägerungstrupps den Regenwald geöffnet haben, sind rote Narben sichtbar. Diese Forststraßen verwandeln sich bei Regen in Bäche, die die dünne Humusschicht des Waldbodens auswaschen. Der Schlamm trübt die Flüsse und überzieht die Korallenriffe mit einer feinen Schicht, die die Fische vertreibt. Aus der Luft sieht es aus, als würden die Wälder ins Meer bluten.

Dort, wo die Bäume bereits verschwunden sind, ist das Leben für die Menschen härter geworden. Die dünne, fruchtbare Erdschicht wird ständig von den Regenfällen weggespült. Wenn keine Landwirtschaft mehr möglich ist, werden Dollars benötigt, um Grundnahrungsmittel wie Reis zu kaufen. Das früher klare Wasser ist verschlammt und ein potentieller Herd für Krankheiten. Mit den Baumkronen fehlt der Regenschutz. Immer häufiger bedrohen Überschwemmungen die DorfbewohnerInnen. Während der Hurrikanzeit im Winter fegen Sturmböen ungehindert übers Land. Bisher waren die Menschen nur an die Unbilden der Regenzeit gewöhnt. Jetzt sehen sie sich neuerdings mit den Folgen von Dürre und Trockenheit konfrontiert.

Dorothy hat mich in den Plattenladen in Melbourne geführt, weil sie wusste, dass ich es ihr sonst nicht glauben würde: dass jene alte Einwohnerin der Salomonen- Inseln, die in ihrem Leben noch kein einziges Wort Englisch gesprochen hat, nun in den Wohnzimmern der Welt auf einer CD zu hören ist. Mit ihrem aus tiefstem Herzen kommenden Lied vermag diese Frau vielleicht besser vom Zauber und der geheimnisvollen Welt des Regenwaldes zu erzählen, als wir Journalisten es je zuwege bringen – und so einen dringenden notwendigen Appell zum Erhalt ihrer Heimat an die Welt zu richten.

Nicola Baird lebt als Umweltjournalistin in London und war auf den Salomonen Inseln tätig. Zu ihren zahlreichen Buchveröffentlichungen zählen u.a. A Green World? (Watts, 1997) und The Estate We’re In: Who’s Driving Car Culture (Indigo, 1998).

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