Auf Öl gebaut

Von Ivan Briscoe · · 2006/09

Öl kann Gift für die Umwelt sein, aber auch für die Gesellschaft – zumal in Venezuela. Von NI-Autor Ivan Briscoe.

Irgendwo zwischen dem Ölreichtum, der aus dem Boden gurgelt, und der bitteren Armut der Menschen, die auf ihm leben, ist in Venezuela etwas gewaltig schief gelaufen. Davon sind zumindest Präsident Hugo Chávez und seine AnhängerInnen überzeugt. Die Ölindustrie ist das Herz ihres Programms zur Veränderung der Gesellschaft, und sie finanziert mehr als die Hälfte der Staatsausgaben. Paradoxerweise hat aber genau diese Industrie die Einstellung gefördert, öffentliche Interessen zu ignorieren und mit dem Land genauso umzugehen wie mit leeren Kokosnussschalen.
Um die Schätze im Boden Venezuelas zu finden, benötigte es weder tüchtige Geologen noch Glück. Indigene Völker und spanische Kolonialisten hatten die dunkle Flüssigkeit, die in den Mangrovewäldern rund um den Maracaibo-See aus dem Grund blubberte, seit Jahrhunderten für Heilsalben oder Kerzen verwendet. Als 1914 die erste Ölgesellschaft ihre Tätigkeit aufnahm, zeigte sich, dass das Schweröl ohne weitere Bohrungen einfach von selbst heraussprudelte.
Ein Jahrhundert später ist der See von Fördertürmen, Raffinerien und Pipelines der Ölindustrie übersät und von einer imposanten Hängebrücke überspannt, und urbane Betonlandschaften wuchern an seinen Ufern. Es ist zwar nicht mehr so einfach, das Öl zu finden, seine Spuren aber sind allgegenwärtig.

„Wir sind hergekommen, um Arbeit zu finden“, erzählt Gilberto Paz. Der Nachmittag ist drückend heiß, er liegt in seiner Hängematte und starrt auf die spärlichen Grasbüschel in seinem staubigen Vorhof. „Aber hier ist nichts los.“ Das Stück Land hat der 27-jährige Wayuu-Indianer vor zwei Jahren besetzt. Zwei riesige Kühlschränke und einen Fernseher haben er und seine junge Freundin in die Blechbude geschafft, aber es gibt weder Strom noch Fließwasser. Ein Fass mit 200 Liter Wasser kostet einen halben US-Dollar – soviel Geld haben die beiden nicht immer. Ein einziger Anschluss ist gesichert: Gas, abgezapft aus einer Pipeline in der Nähe. Die Flamme brennt ständig, auch wenn es kein Wasser zum Kochen gibt.
Die Geschichte ihres Versuchs, dem harten Landleben zu entkommen – das in den letzten Jahren noch härter wurde, seit kolumbianische Truppen und Guerrillakämpfer häufig über die nahe gelegene Grenze einfallen – ist nicht ungewöhnlich. Der Bezirk Mara in Maracaibo, wo sie jetzt leben, hat vor allem Arbeitslosigkeit, Armut, Dengue-Fieber und Tuberkulose zu bieten. Vor drei Jahren kam heraus, dass hier im Schnitt jeden Tag ein Kind an Unterernährung stirbt. Mara liegt zwar nicht einmal 20 Kilometer vom neuesten, klimatisierten Einkaufszentrum der Stadt entfernt, aber was hier passiert, interessiert die Behörden nicht.

„Öl ist eine Enklavenindustrie. Arbeitskraft wird nicht gebraucht – die wird durch Technologie eingespart. Und die außerordentlichen Gewinne fließen zur Gänze in das Zentrum des Landes“, erklärt Bolívar Sáenz, Vizerektor der Universität Rafael María Baralt in Cabimas, einer der führenden Ölstädte der Region. Gerüchteweise liegt die 200.000-Seelen-Stadt am Seeufer genau über einem reichen Ölvorkommen. „Vielleicht müssen wir alle weg hier. Oder wir fliegen in die Luft“, sinniert Sáenz.
Vorerst gibt er allerdings sein Bestes, um die Stadt ein wenig lebenswerter zu machen. Er ist dabei, 2.000 ÄrztInnen auszubilden. Sie sollen die KubanerInnen des Gesundheitsprogramms Barrio Adentro ersetzen. Und er überlegt, ein Stück Land auf Kredit zu kaufen, mit dem er 15 Leute in einer Genossenschaft beschäftigen könnte. Sorgen bereitet ihm jedoch die Gewaltbereitschaft seiner StudentInnen, aufgewachsen in Großfamilien in kleinen, bunt gestrichenen Bungalows und im Gas- und Schwefelgestank des Erdöls. Zitronen- und Mangobäume hängen über die engen Straßen. Es sieht aus wie eine karibische Idylle. Aber es ist der gefährlichste Vorort der Stadt – Tierra Negra („Schwarze Erde“). Zwei bis drei Menschen werden hier jedes Wochenende ermordet, sagt Sáenz, wegen des Drogengeschäfts, der Prostitution oder aus Rache.

Nicht weit entfernt, hinter einem hohen Drahtzaun, werden die Straßen breiter, und grüne Rasenflächen ersetzen das mit Müll übersäte Brachland. Hollywood, wie der Vorort genannt wird, besteht aus wohlgeordneten Reihen weiß getünchter Villen mit grünen Dächern. Die Gebäude gehören der PDVSA, der staatlichen Ölgesellschaft Venezuelas. Allen MitarbeiterInnen wird eine Wohnung oder ein Haus zugewiesen, ein- oder zweistöckig, vielleicht mit einem Garten, je nach Rang. Aber auch in Hollywood steht nicht alles zum Besten. Anfang März begannen Justiz und Polizei mit der Zwangsräumung der BewohnerInnen, die von der PDVSA während des zweimonatigen Streiks ab Dezember 2002 entlassen wurden. Viele verließen das Land, aber andere blieben, klammerten sich an den letzten Rest ihrer Vorrechte, ihre Firmenwohnungen.
„Der Adel hat das Unternehmen verlassen. Die Arbeiter und Techniker sind geblieben“, versichert Rafael Parra Zabala, Leiter der Abteilung Ölforschung der Universität Zulia und ein glühender Anhänger der Chávez-Revolution. „Die Ökonomen und die Kinder wichtiger Leute, die Abendtafeln für 24 Leute zubereiten und die besten Weine aussuchen konnten, die sind gegangen. Das war ein Aufstand der Sklaven.“
Tausende Chávez-GegnerInnen hatten sich am Ufer des Maracaibo-Sees versammelt, als der Öltanker Pilín León – benannt nach der venezolanischen Miss World von 1981 – während des Streiks an der einzigen Ausfahrt zum Meer vor Anker ging. Massenproteste, Schießereien und ein gehässiger Medienkrieg in Caracas waren das Spiegelbild des Kampfs in den Korridoren der PDVSA, wo Streikende – angeblich koordiniert von Intesa, einer Firma mit CIA-Verbindungen – die zentralen Computersysteme des Unternehmens sabotierten.

Juan Fernández, einer der Streikführer und damals ein leitender Finanzmanager der PDVSA, erinnert sich lebhaft an die Geschehnisse. „Wir waren zum Chef des Unternehmens, Ali Rodríguez gegangen, um ihm zu sagen, dass wir besorgt über eine politische Überwachung in der PDVSA waren und ein Streik wahrscheinlich wäre. Er sagte, wenn Blut fließen muss, dann soll es fließen.“
Am Ende sollte Rodríguez, Ex-Guerrillaführer und einer der geachtetsten Köpfe der Regierung, Recht behalten. Entschlossenes Handeln der Sicherheitskräfte und pure Erschöpfung untergruben die Moral der Protestierenden. Fernández war einer von 18.000, die entlassen wurden. Des Hochverrats und der Anstiftung zum Aufruhr angeklagt, verließ er das Land, um in Europa zu arbeiten.
Aus Sicht der damals Protestierenden hat der Rückgang der Ölförderung – die noch immer unter dem Niveau vor dem Streik liegt – ihre Warnungen vor einer politischen Einmischung in Exploration und Produktion gerechtfertigt. Sie beklagen ein Management im Stil eines Politbüros, krasse Unterinvestitionen und eine Serie von Unfällen, die aus der Imkompetenz frisch rekrutierter MitarbeiterInnen resultierten. „Derzeit ist Loyalität zum angeblich revolutionären Prozess der Weg zu Top-Positionen oder ins mittlere Management“, argumentiert Fernández. „Talent und Wissen braucht man nicht.“

Die Lobpreisungen des traditionellen geschäftlichen Verhaltens der PDVSA durch diese KritikerInnen passen jedoch nicht ganz zu den Resultaten in Maracaibo: Ausgehungerte Indígenas, schreiende Ungleichheit und ein durch Ölabfälle und ungeklärte Abwässer verseuchter See, der unter einer Wasserlinsenplage leidet.
Der Ölindustrie, obwohl 1976 verstaatlicht, war beigebracht worden, sich bei ihrer Tätigkeit nicht um die Bevölkerung zu kümmern. Seit den 1980er Jahren bis zur Chávez-Ära widmete sich die PDVSA dem Aufbau einer beeindruckenden internationalen Präsenz, darunter die 14.000 Tankstellen ihrer Tochtergesellschaft Citgo in den USA. Die Philosophie des Unternehmens war die eines gefräßigen Multis. Der Aufstieg von Chávez, das Trauma des Streiks und ein weitgehender Austausch des Personals haben die alten Gewohnheiten erschüttert. Geld der PDVSA – geschätzte vier Mrd. Dollar pro Jahr – fließt nun ungeprüft in Sozialprojekte, und auch der Maracaibo-See soll saniert werden.
Selbst inmitten radikaler Veränderungen ist der lange Schatten des kulturellen und industriellen Erbes Venezuelas jedoch nicht zu übersehen. Nach wie vor ist unklar, wie der freigebige Umgang mit Ölgeldern zu stabiler, dauerhafter Beschäftigung führen oder Menschen wie Gilberto Paz erreichen wird. Er ist weiter arbeitslos, verkommt in seiner Hängematte, verpestet von den Abgasen der vorbeifahrenden LKWs, die für das nahe liegende Kohlebergwerk von Guasare unterwegs sind.
„Es ist pervers“, sagt Bolívar Sáenz, den Blick auf den in der Nachmittagssonne schimmernden See gerichtet. „Die Leute wollen einfach nur in der Ölindustrie arbeiten, selbst wenn die gar keine Arbeit für sie hat.“

Copyright New Internationalist

Ivan Briscoe ist Redakteur der englischen Ausgabe der Tageszeitung El País in Madrid und Lateinamerika-Experte.

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