Das afghanische Dilemma

Von Sven Hansen · · 2008/11

Im November 2001 wurde das Taliban-Regime durch eine Militärintervention unter Führung der USA gestürzt. Sieben Jahre später will Präsident Hamid Karsai die Fundamentalisten an der Regierung beteiligen, und die internationale „Befriedungsaktion“ droht zu scheitern.

Von Kabul ins südlich gelegene Kandahar führt eine 482 Kilometer lange Straße. Sie ist Teil der so genannten Ringstraße, die wichtige Städte des Landes miteinander verbindet. Die 190 Millionen US-Dollar teure Reparatur dieser strategisch bedeutenden Strecke gilt noch heute als das wohl wichtigste gelungene Wiederaufbauprojekt seit der Niederlage des radikal-islamischen Taliban-Regimes Ende 2001. Der südliche Teil der Strecke von Kabul aus in die frühere Hochburg der Taliban war nach Jahren von Krieg und Vernachlässigung wie andere Abschnitte auch eine gefährliche Schlaglochpiste gewesen. Reisen und Transporte waren eine Qual mit hohem Risiko.
Die neue von den USA finanzierte Asphaltpiste wurde im Dezember 2003 eröffnet. Die Erneuerung der Straße ist jedoch bis heute eines der wenigen sichtbaren Aufbauprojekte im überwiegend von Paschtunen besiedelten Süden geblieben. In vielen Regionen ist nichts von der Milliardenhilfe der internationalen Gemeinschaft angekommen. Laut der britischen Hilfsorganisation Oxfam leiden fast fünf Millionen AfghanInnen unter Nahrungsmittelknappheit, 42 Prozent der Bevölkerung leben in extremer Armut. Und selbst in der Hauptstadt sind stundenlange Stromausfälle noch an der Tagesordnung. In den Provinzen bekamen die Menschen statt der erhofften Hilfe oft nur von Kabul entsandte Gouverneure, Bürgermeister oder Polizeichefs vorgesetzt, die nicht selten unfähig, korrupt oder skrupellos sind.
Deshalb ist die Straße Kabul-Kandahar, durch eine Region, wo ein Drittel der Bevölkerung Afghanistans lebt, längst wieder eine der gefährlichsten Routen des Landes. Die Taliban greifen hier Lastwagen an, welche die Soldaten der Operation Enduring Freedom (OEF) – ein Instrument des US-Kriegs gegen den „internationalen Terrorismus“ – oder der internationalen ISAF-Schutztruppe im Süden versorgen. Zerstörte Brücken, Sprengsätze oder mit Waffengewalt gestoppte und in Brand gesetzte Fahrzeuge lassen die Straße nicht nur schnell wieder alt aussehen, sondern zeigen ihre neue Gefährlichkeit. Afghanen, die Kontakte zu Ausländern oder der Regierung haben, wollen sie wegen der Risiken nicht mehr nutzen.

Der militärische Aufwand, die Straße offen zu halten, ist stark gewachsen und kann doch regelmäßige Angriffe nicht verhindern. Selbst große Konvois kommen nicht mehr sicher durch. Die im Hinterland lebenden paschtunischen Stämme, die heute vor allem mit den negativen Folgen des internationalen Militäreinsatzes konfrontiert sind, wehren sich zunehmend gegen die als Besatzer empfundenen ausländischen Truppen. Angeleitet und mobilisiert wird der Widerstand von aus Pakistan eindringenden Taliban.
„Ohne Sicherheit kein erfolgreicher Wiederaufbau“, lautet eine viel zitierte Erkenntnis, die auch den Einsatz der ISAF-Truppe begründet. Auch gilt umgekehrt, dass es ohne Wiederaufbau keine Sicherheit geben kann. Doch der Wiederaufbau ist viel langsamer erfolgt als erwartet und mittlerweile im Süden fast ganz zum Erliegen gekommen.
Seit 2004 hat sich die Sicherheitslage kontinuierlich verschlechtert. Der August 2008 war laut UNO mit 983 sicherheitsrelevanten Zwischenfällen der schlimmste Monat seit 2001. Dabei versuchen inzwischen rund 65.000 ausländische Soldaten, darunter 53.000 der NATO-geführten ISAF aus 41 Nationen, die wieder erstarkten Taliban und ihre Verbündeten zurückzudrängen.

Heute herrscht in vielen Gebieten des Landes eine angespannte Atmosphäre bis hin zum offenen Krieg. Seit Mai verlieren die US-Truppen in Afghanistan mehr Soldaten als im Irak. Durch die internationalen Truppen sterben inzwischen fast so viele ZivilistInnen wie durch die Aufständischen: von Jänner bis August gingen 800 Todesopfer auf das Konto der Aufständischen, 577 zu Lasten der ausländischen Truppen, weitere 68 ließen sich nicht zuordnen. Laut Human Rights Watch verdreifachte sich von 2006 bis 2007 die Zahl ziviler Opfer von US-Bombenangriffen.
Inzwischen bezweifeln immer mehr westliche Militärs, dass sie den Krieg militärisch gewinnen können. Sie verweisen auf den Zusammenhang mit dem benötigten Wiederaufbau, dessen Ausbleiben Legitimationsprobleme schafft. „Wir alle wissen, dass wir militärisch nicht siegen können“, erklärte der norwegische UN-Gesandte Kai Eide in Kabul. „Wir müssen durch politische Mittel gewinnen.“
Militärisch können OEF- und ISAF-Truppen, deren Einsätze AfghanInnen nicht mehr unterscheiden, wegen ihrer Feuerkraft nicht verlieren. Aber wenn sie nicht überzeugend gewinnen, verlieren sie politisch. Ein militärisches Patt mit hohen menschlichen und finanziellen Kosten ist wegen der in den Entsendeländern bröckelnden Unterstützung nicht lange aufrecht zu erhalten.

Die Taliban dagegen müssen nicht militärisch gewinnen. Ihnen reicht, nicht besiegt zu werden, um den Gegner zu zermürben und politisch zu besiegen. Aus diesem Dilemma haben die am Hindukusch von den USA geführte internationale Gemeinschaft und die afghanische Regierung bisher keinen Ausweg gefunden. Vielmehr drohen sie daran zu scheitern.
Verhandlungen mit den Taliban, oder besser gesagt ihrem „moderaten“ Teil, könnten ein Ausweg sein. Präsident Hamid Karsai forderte die Gotteskrieger mehrfach zu Gesprächen auf und stellte ihnen sogar Ämter in Aussicht. Medienberichten zufolge versucht Saudi-Arabien zu vermitteln. Ende September kam es demnach in Mekka zu einem ersten Treffen zwischen Vertretern der Regierung, der Taliban und des fundamentalistischen Warlords Gulbuddin Hekmatjar. Dass sie später betonten, es seien keine Verhandlungen gewesen, zeigt, dass man noch sehr am Anfang steht.
Bisher hatten Washington und Kabul verlangt, dass die Taliban erst der Gewalt abschwören und die afghanische Verfassung anerkennen müssten. Die Taliban ihrerseits machten den Abzug der internationalen Truppen zur Bedingung. Bisher ist man über ein erstes Ausloten offenbar nicht hinausgekommen. Offen ist, wie ernsthaft der Wille zu Verhandlungen ist oder ob es nur um taktische Vorteile geht. Die internationalen Truppen etwa dürften anstreben, einen Keil zwischen das Gros der Taliban und das Terrornetzwerk Al Kaida zu treiben. Doch ist das Risiko hoch, die Taliban mit Gesprächen aufzuwerten. Zugleich droht bei einer Verhandlungslösung eine noch stärkere islamistische Politik.
Wahrscheinlich wird der Krieg zunächst weiter eskalieren. Der Preis für den Wiederaufbau dürfte damit weiter steigen, und dieser damit noch mehr ins Stocken geraten.
Trotzdem wurde bisher auch einiges erreicht. „Wir haben eine Verfassung, eine Nationalversammlung, wir hatten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen“, sagt Wirtschaftsminister Jalil Shams. Heute gebe es vier Millionen Handys im Land, 2001 waren es nur etwa 30.000 Festnetzanschlüsse. „Heute kann man von jedem Dorf ins Ausland telefonieren“, so Shams stolz. Ein großer Fortschritt sei auch, dass gegenüber nur 300.000 SchülerInnen 2001 heute 6,4 Millionen Kinder eine Schule besuchten. Über 4,5 Millionen Flüchtlinge sind ins Land zurückgekehrt.

Doch der Wirtschaftsminister beklagt auch Versäumnisse: Die Landwirtschaft und die Ausbildung von Fachkräften seien stark vernachlässigt worden, wie auch der Aufbau des Sicherheitsapparats. Bei letzterem passierte „drei Jahre lang viel zu wenig“, bedauert er. Das für den Polizeiaufbau zuständige Deutschland versagte ebenso wie das für die Bekämpfung des Opiumanbaus zuständige Großbritannien. Heute finanzieren sich die Taliban wie die verbreitete Korruption aus der Drogenwirtschaft. Deren Umfang ist etwa so groß wie jener der legalen Ökonomie. Auch sei die Suche nach einer Lösung für die Rückzugsgebiete der Taliban in Pakistan vernachlässigt worden, so Shams. Bis heute fehle ein Gesamtkonzept für die miteinander verbundenen Konflikte in Afghanistan und Pakistan.
2009 könnte in Afghanistan eine Vorentscheidung fallen. Im Herbst stehen Präsidentschaftswahlen an. Fraglich ist, ob die Wahlen in den besonders umkämpften Gebieten überhaupt stattfinden können. Es geht um die Glaubwürdigkeit des politischen Systems. 2004 hatten die Taliban vollmundig mit Störung gedroht, aber nicht viel machen können. Die aktuellen Drohungen sind realistischer. Experten fürchten schon jetzt, dass es in einem Achtel der Bezirke keine Wahlen geben kann. Das dürfte vor allem Paschtunen vom politischen Prozess ausschließen.
„Wenn die Wahlen 2009 nicht stattfinden, ist das System, das wir Ende 2001 installiert haben, gescheitert“, sagt Minister Shams. Die Straße Kabul-Kandahar könnten die Taliban dann womöglich zum Marsch auf die Hauptstadt nutzen. Das afghanische Dilemma ist ungelöst und die Zeit drängt.

Sven Hansen ist Asienredakteur der tageszeitung (taz) in Berlin.

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