Das allgegenwärtige Gespenst Hunger

Von Gudrun Lamprecht · · 2004/10

In der grenzenlosen Weite der mongolischen Steppe scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Doch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich verändert, und selbst das Klima scheint sich gegen die Nomaden verschworen zu haben. Mit Jean Ziegler in der Mongolei – eine Reportage von Gudrun Lamprecht (Text und Fotos)

Pferde, Schafe und Ziegen irgendwo in der unendlichen Steppe der Mongolei. Als die Tiere den 36-jährigen Sanginyamin erblicken, strömen sie von allen Seiten herbei. Wie jeden Morgen tränkt er, gemeinsam mit seinem Sohn, die Herde. Den Pferden gehört die größte Aufmerksamkeit, sind sie doch der ganze Stolz der Männer. Ohne Pferd ist der Mongole nur ein halber Mensch; er ist ihm verbunden wie vor tausend Jahren.
In der Zwischenzeit bereitet seine Frau Niamsuren das Frühstück zu. Grüner Tee mit Milch, dazu getrocknetes Hammelfleisch. Eine Aufgabe der Nomadenfrauen ist es, nicht nur die Kinder zu versorgen und zu kochen, sondern auch regelmäßig die Stuten zu melken. Gegorene Stutenmilch, auf mongolisch Airag, ist das Hauptgetränk der SteppenbewohnerInnen.
Ihre Behausungen, so genannte Jurten oder Gers, sind mit Filzdecken bespannte Holzkonstruktionen, die auf den Rücken der Pferde oder Kamele transportiert werden können. In der Mongolei, einem Land, das dreimal so groß ist wie Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammen, leben nur 2,5 Millionen Menschen, davon sind mehr als ein Drittel Nomaden. Sie ernähren sich zum Großteil selbst. Wichtigste und häufigste Einnahmen stammen aus dem Verkauf von Ziegenwolle, aus der der berühmte Kaschmir gewebt wird, und von Milch.

Wer die mongolische Steppe sieht, ist nicht nur überwältigt von der grenzenlosen Weite des Landes und der Offenheit der Menschen, er befindet sich auch in einer anderen Welt. Nicht die Uhr ist das Zeitmaß, sondern Tageslauf und Jahreszeit. Das Leben scheint sich seit Dschingis Khans Zeiten nicht verändert zu haben.
Doch die vermeintliche Idylle darf nicht ablenken von den großen Problemen der mongolischen SteppenbewohnerInnen. Da ist einerseits die jährliche Bedrohung durch den Zud, die brutale Kälte des mongolischen Winters. In den letzten Jahren fielen die Temperaturen bis auf 50 Grad Minus, eisige Stürme fegten über das Land, der Boden gefror, das Futter reichte nicht mehr – Millionen Stück Vieh verendeten. Und wenn die Tiere leiden, dann leiden auch die Menschen. Unzählige Nomaden haben dadurch ihre Existenzgrundlage verloren. Die Angst, dass sich die Katastrophe wiederholt, ist berechtigt. Viele Mongolen sagen, dass der kommende Winter noch viel strenger wird als die letzten.
Sanginyamin will das Nomadenleben aufgeben und mit seiner Familie in die Hauptstadt Ulan-Bator ziehen. Niamsuren, seine Frau, schenkt Milchtee ein.
„Wir haben in den letzten vier bis fünf Jahren so viele Tiere verloren, wer garantiert, dass es heuer nicht auch so sein wird? Noch so einen Winter werden wir nicht überleben. Wir wissen, dass wir ein Risiko eingehen, aber wir haben uns entschieden, die Steppe zu verlassen. Ein weiterer Grund ist die Zukunft unserer Kinder. Wir wollen ihnen eine Ausbildung ermöglichen. Die nächste Schule ist 25 Kilometer entfernt. Da ist es besser, gleich in die große Stadt zu ziehen.“

Seit dem Übergang von der sozialen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft (die ersten freien Wahlen fanden Mitte 1990 statt) hatte das Land nicht nur mit mehreren Naturkatastrophen und den damit verbundenen hohen Viehverlusten zu kämpfen, sondern es brach auch die nationale Industrie und Wirtschaft zusammen. Die Menschen wurden arbeitslos und verarmten schnell; viele kehrten nach dem Zusammenbruch in die nomadische Lebensweise zurück. In den letzten 14 Jahren erhöhte sich dadurch die Zahl der Hirten von ungefähr 140.000 auf 500.000. Und auch die Zahl der gehaltenen Tiere stieg von 25 Millionen auf über 30 Millionen. Doch das verkraftet die karge Steppe nicht mehr, Überweidung und Zerstörung von Natur und Umwelt sind die Folge.
Die Menschen flüchten heute wieder vom Land in die Stadt. Ulan-Bator, wo mehr als die Hälfte der Mongolen lebt, wuchs durch illegale Ansiedlungen von Nomaden, die ihre Existenzgrundlage am Land verloren haben, in den letzten fünf Jahren um 30%. Die Jurtensiedlung, die sich rund um den Stadtkern gebildet hat, ist ein riesengroßer Slum, vergleichbar mit den Favelas in Rio de Janeiro. Das Leben wird beherrscht von Hunger, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Gewalt.
Sanginyamin kennt die Slums von Ulan-Bator. Er hat auch Angst davor, so zu enden wie viele, aber „ich habe keine andere Wahl“, sagt er.

Mittlerweile leben 37 Prozent der Mongolen unter der absoluten Armutsgrenze. Mit einem Pro Kopf-Einkommen von 400 US-Dollar pro Jahr gehört das Land zwischen den beiden Giganten China und Russland zu den am wenigsten entwickelten Staaten der Welt.
Das rief Jean Ziegler auf den Plan. Als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung ist er ständig in den ärmsten Ländern der Welt unterwegs, um internationale Geberländer zu Aktionen gegen den Hunger in der Welt zu motivieren. Diesmal führt ihn seine UN-Mission in die Mongolei: „Dieses Land befindet sich nach wie vor im Umbruch. Bei solchen Prozessen spielen die Menschenrechte eine zentrale Rolle. Die Mongolei ist seit 1961, nicht erst seit dem Zusammenbruch des Kommunismus, ein Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen. Sie hat die UN-Charta und die UN-Menschenrechtsdeklaration unterschrieben. Meine konkrete Aufgabe ist es nachzuprüfen, ob das Menschenrecht auf Nahrung von der mongolischen Regierung auch eingehalten wird.“
Die Mongolei ist prozentuell einer der größten Entwicklungshilfe-Empfänger der Welt; die Auslandshilfe von 300 Mio. Dollar hat die Höhe von zwei Drittel der Staatsausgaben erreicht. An die 2.000 nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bemühen sich, die Lebensumstände der Menschen zu verbessern. Doch einige Projekte kommen niemals zustande; Geld soll in den Taschen von Regierungsfunktionären versickern.

Jean Ziegler sieht die Menschen hier hungern und fordert viel mehr Engagement vom reichen Westen: „Die internationale Gemeinschaft, ob es nun NGOs sind oder Regierungen, tut nicht genug. Weltweit sterben 100.000 Menschen jeden Tag an Hunger, alle sieben Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Menschenrecht auf Nahrung bedeutet auch frei sein von Angst vor dem Hunger. Wo ist das hier zu sehen? In der Mongolei ist der Hunger ein ständiges Gespenst. Hilfe von außen muss kommen.“
Selenge, eine Provinz im Norden, 250 km von Ulan-Bator entfernt. Eine noch funktionierende Milchpulverfabrik – früher staatlich geführt, heute im Privatbesitz mit 60 Angestellten, hauptsächlich Frauen – macht die Widersprüchlichkeit der oft sinnlosen Privatisierung bewusst, die in der ganzen Mongolei seit Jahren stattfindet. Im Umkreis von 350 km wird die Milch um 130 Tugrik pro Liter (zehn Cents) bei Nomaden eingekauft. Aber auch nur ein Fünftel, die restlichen 80 Prozent kommen aus dem nahen Sibirien. Laut Fabrikdirektor sind dort die Kühe gesünder und profitabler. In der Fabrik wird die Trockenmilch hergestellt. Im dazugehörigen Verkaufsladen zeigt sich dann die Absurdität dieser Vorgangsweise: Neben dem einheimischen Milchpulver, das pro Kilo 3.000 Tugrik (2,20 Euro) kostet, steht ein Milchpulver aus Singapur, gleiche Qualität und gleiche Quantität, zum halben Preis. Die Mongolen machen ihre eigene Produktion kaputt, in dem sie zu Dumpingpreisen Milchpulver aus Singapur verkaufen.

Seit Mai 2003 erlaubt ein Gesetz den Erwerb von Grund und Boden. Bis dahin war Boden öffentliches Gut. Gemeinden vergeben nunmehr kostenlos pro Familie 100 Hektar Land für Gemüseanbau und 300 Hektar für Getreideanbau.
Ausländischen BürgerInnen ist der Grunderwerb untersagt, doch immer mehr private Unternehmen aus China und Russland sichern sich Konzessionen zur Ausbeutung von Rohstoffen. Und mongolische Neureiche kaufen Flächen bis zu 3.000 ha auf. Die Gefahr, dass durch diesen Ausverkauf die mongolischen Bauern und Viehzüchter zu kurz kommen und ins Landproletariat abstürzen, ist groß.
Jean Ziegler sieht als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung dringenden Handlungsbedarf: „Diese Politik ist eine Verletzung des Menschenrechtes auf Nahrung, weil es eine Rechtsungleichheit schafft. Hier muss die UNO tätig werden und die mongolische Regierung drauf aufmerksam machen, dass, wenn ein Landgesetz besteht, es für alle gleich angewendet werden muss. Sonst kehren wir zum Raubtierkapitalismus zurück, der in der westlichen Welt schon schlimm genug ist, aber hier menschenvernichtend sein würde.“

Ende Juni 2004 wählte die Bevölkerung ein neues Parlament. Erst Mitte August einigten sich die Mongolische Revolutionäre Volkspartei (MPRP; frühere KP) und das Demokratische Mutterlandbündnis MDC, die beide keine regierungsfähige Mehrheit erreicht hatten, auf die Bildung einer Koalitionsregierung – zum ersten Mal in der Geschichte des Landes. Neuer Premierminister ist Tsakhiagijn Elbegdorj, ein früherer Dissident, der maßgeblich zum Ende der Einparteienherrschaft der Kommunisten Anfang der 1990er Jahre beigetragen hatte. Sein jahrelanger Mitstreiter, der demokratische Gesundheitsminister Gundalai Lamjav, sieht die Zukunft der Mongolei positiv: „Wir haben sehr viele Bodenschätze, eine einzigartige Kultur, Geschichte und Tradition. 97 Prozent der Menschen sind alphabetisiert, viele Junge studieren im Ausland, wir sind ein offenes und demokratisches Land, wir haben keine Mafia, keine Drogenprobleme und ethnische Konflikte. Die Mongolen sind friedliche Menschen, die arbeiten und etwas schaffen wollen. Im Moment haben wir noch viele Probleme, aber in zehn Jahren werden Sie eine ganz andere Mongolei vorfinden.“
Ob Sanginyamin und seine Familie das noch erleben werden, ist fraglich. Für sie zählt nur der nächste Tag. Sanginyamin hat sich entschlossen, kommenden Winter doch noch in der Steppe zu bleiben. Er muss jetzt Vorrat für das Vieh anlegen: „Ob das Futter reicht, entscheidet die Natur.“

Gudrun Lamprecht ist Redakteurin des ORF in der Abteilung Religion und arbeitet auch für 3sat und bralpha (Bayrischer Kultur- und Bildungskanal). Zusammen mit ihrer Kollegin Marion Mayer-Hohdahl, ebenfalls ORF, begleitete sie Jean Ziegler kürzlich auf ein

Basic

Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!

  • 6 Ausgaben pro Jahr als Print-Ausgabe und/oder E-Paper
  • 48 Seiten mit 12-seitigem Themenschwerpunkt pro Ausgabe
  • 12 x "Extrablatt" direkt in Ihr E-Mail-Postfach
  • voller Online-Zugang inkl. Archiv
ab € 25 /Jahr
Abo Abschließen
Förder

Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.

Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

84 /Jahr
Abo Abschließen
Soli

Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!

Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

168 /Jahr
Abo Abschließen