Den Frieden verspielt

Von Ralf Leonhard · · 2002/07

In Guatemala läuft zur Zeit nichts mehr, nur die Gewalt nimmt zu. MenschenrechtsaktivistInnen und Gewerkschaftsführer werden bedroht, verfolgt, ermordet, die Bauern greifen zur Selbsthilfe und besetzen Ländereien.

Santa Amelia ist eine junge Siedlung mitten im Petén, fünf Stunden südlich von Flores, der Hauptstadt des ehemaligen Urwalddepartements im Norden Guatemalas. Die Wände der Hütten bestehen aus dünnen, vertikal angeordneten Ästen, die Dächer aus Palmstroh. Das einzige Klo der Ortschaft gehört zur Schule.
Francisco Chocoj ist ein wichtiger Mann: er ist Gesundheitspromotor und einer der wenigen, der die spanische Sprache beherrscht. Die anderen können sich nur in der Maya-Sprache Kek-Chí verständigen. Stolz tragen die Frauen ihre Huipiles- die selbstgewebten und -bestickten bunten Blusen – und die traditionellen Wickelröcke.
Francisco ist vor bald 20 Jahren aus einem Dorf in der Nähe des kleinen Atlantikhafens Livingston gekommen. Dort lebten ein paar hundert Kek-Chi-Familien weitgehend ungestört von Subsistenzwirtschaft. Eines Tages wurde eine Straße gebaut und machte die Region über Nacht interessant. Es dauerte nicht lange, bis ein Anwalt, begleitet von zwei Polizisten, vorstellig wurde. Der Grund gehöre einem Mann aus der Hauptstadt. Familie Chocoj hätte die Parzelle, wo sich einst der Großvater niedergelassen hatte, schleunigst zu räumen. So zog man in den damals noch dichten Urwald. Die Vertriebenen aus der Nachbarschaft hatten sich bereits im Petén eingerichtet. Kein Fremder beanspruchte dort das Land. Doch der Urwaldboden ist für Ackerbau nicht geeignet. Francisco: „Nach der Rodung trägt er zwei, drei Jahre, dann muss er lange ruhen.“ So haben die indianischen SiedlerInnen nach und nach ihr Umland gerodet und erschlossen. Zwar haben sie Eigentumstitel bekommen, doch die sollen ungültig sein. Vizepräsident Francisco López Reyes beansprucht das Land.
Ein Gutteil des Petén ist längst gerodet. Wenn die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern die mühsame Vorarbeit geleistet haben, kommen die Viehzüchter mit billig erworbenen Eigentumstiteln und verwandeln das Land in Weidegründe.

In Guatemala dreht sich seit jeher alles um das Land. Mehr als fünf Jahre nach dem Friedensabkommen zwischen Regierung und Guerilla beanspruchen 2000 superreiche Großgrundbesitzer noch immer skandalöse 70% des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens für sich. Den Campesinos, die 96% der Landwirte stellen, bleiben gerade 20% der Nutzfläche. Nicht einmal in Brasilien ist das Land so ungleich verteilt.
Der durch die Friedensverträge geschaffene Landfonds soll helfen, das Kunststück zu vollbringen, unter marktwirtschaftlichen Spielregeln für die Umverteilung zu sorgen. Er ist drastisch unterdotiert und man ist mit seiner Verwaltung hoffnungslos überfordert. In zwei Jahren wurde gerade für 9670 Familien der Landerwerb vorfinanziert. Direktor Sergio Mollinedo gibt zu, dass es sich größtenteils um schlechtes Land handelt, das zu überhöhten Preisen abgestoßen wird. Die wirklich Begünstigten sind also die Großgrundbesitzer, die mit diesem nutzlosen Land noch prächtige Geschäfte machen. So ist es nicht verwunderlich, dass kaum jemand imstande ist, die Schulden zu bedienen.

Im Petén ist der Staat noch weniger präsent als anderswo. Den Unterricht müssen die Gemeinden in die Hände von Alphabetisierungs-Promotoren legen. „Echte“ Lehrer gibt es kaum. Die Schulen werden von privaten Institutionen oder von Kirchen finanziert. Zum Beispiel vom Lutherischen Weltbund, einer Organisation, die auch in den entlegensten Siedlungen wie Santa Amelia Hebammen und Promotoren wie Francisco Chocoj ausbildet. Von elektrischem Licht oder Trinkwasser kann man hier höchstens träumen.
„Es wird nicht mehr gekämpft. Die Armee ist abgezogen“, freut sich Mario Xol Pop, ein junger Alphabetisierer in Santa Amelia. Das ist in vielen Gebieten auch das einzige sichtbare Resultat der Friedensverträge. Denn von den Vereinbarungen zur Demokratisierung der Wirtschaft ist noch nichts erfüllt. Die meisten LandarbeiterInnen bekommen nicht einmal den Mindestlohn. Und der deckt gerade ein Drittel der Lebenshaltungskosten einer Durchschnittsfamilie. Frauen bekommen auf den Kaffeeplantagen für die gleiche Arbeit gewöhnlich nur halb so viel wie die Männer. Laut Welternährungsorganisation FAO hat sich der Anteil der unterernährten Menschen in den letzten Jahren von 14 auf 22% erhöht. In Armut gehalten wird vor allem die indigene Bevölkerung. Jeder Versuch einer Veränderung stößt auf bewaffnete Gegenwehr.
Paramilitärische Aktionen, so die Bischofskonferenz Anfang Juni in einem Hirtenbrief zur Landfrage, hätten zugenommen. Im September wurde der Bauernführer Eugenio García ermordet. Dessen Kollege Tránsito Ramírez musste nach wiederholten Drohungen untertauchen. Beide hatten sich für die Legalisierung ihres Gemeindelandes in Los Cerritos, Departement Izabal, eingesetzt, das die Dorfgemeinschaft seit 1835 bebaut. Jetzt wird das Land von einer Unternehmerin aus den USA beansprucht, die ihre Privatmiliz schickte.

Seit Präsident Jacobo Arbenz 1954 den Versuch einer Landreform mit der Absetzung durch einen CIA-gesteuerten Putsch bezahlen musste, ist Agrarreform in Guatemala ein strenges Tabu. Selbst die Guerillafront URNG konnte keine echte Landreform in das Friedensabkommen hineinreklamieren. Da die Landumverteilung über den Markt offensichtlich keine Lösung ist, haben Bauernorganisationen in den letzten Monaten mit einer Serie von Landbesetzungen die Initiative übernommen. Sie haben nichts zu verlieren und wollen nicht mehr länger darauf warten, dass ihr Existenzproblem von oben gelöst wird.
Gewerkschaftsarbeit ist in Guatemala auch heute noch lebensgefährlich. So konnten ArbeiterInnen einer Plantage im Departement Izabal zwar vor Gericht das Recht auf gewerkschaftliche Organisation durchsetzen, doch mussten die siegreichen Gewerkschaftsführer nach dem Urteilsspruch außer Landes gebracht werden. Der Großgrundbesitzer hetzte seine Pistoleros auf sie. Vom Staat ist kein Schutz zu erwarten. Auf vielen Fincas werden die Arbeiter heute noch wie Sklaven gehalten.
Im Sozialbereich wird gespart, wo es nur geht. Aber der Armee geht es gut. Obwohl laut Friedensverträgen der Rüstungsetat schrittweise abgebaut werden müsste, ließen sich die Militärs allein im letzten Jahr ihr Budget um 20 Prozent auffetten. Seit der Verurteilung zweier Offiziere für den Mord an Bischof Gerardi werden MenschenrechtsaktivistInnen verstärkt bedroht. Bischof Alvaro Ramazzini, der Direktor der Landpastoral, erhielt zu Jahresanfang mehrere Todesdrohungen. Vor Ostern wurde die Pfarre von Nebaj niedergebrannt, wo Dokumente und Zeugenaussagen über Verbrechen der Armee während des bewaffneten Konflikts aufbewahrt wurden. Auch hinter dem Mord an einem Mitarbeiter der Stiftung Rigoberta Menchú im April vermutet man die Armee.

Weitere MenschenrechtsaktivistInnen stehen auf einer Todesliste einer klandestinen Gruppe, die sich „die richtigen Guatamalteken“ nennt und „Nestbeschmutzer“ wie Miguel Angel Albizures, einem prominenten Gewerkschafter der 70er Jahre bedroht. Er ist enttäuscht über die klägliche Rolle der ehemaligen Revolutionäre, die sich in innere Machtkämpfe verstrickt haben oder den Verlockungen der Macht nachgaben: „Es gibt mehrere Vertreter der Linken, die in die Regierung geholt wurden. Die können natürlich schlecht die Nichterfüllung der Friedensverträge kritisieren.“
Warum gelingt es den Protagonisten eines jahrzehntelangen Kampfes gegen Militärregimes und archaische Ausbeutung nicht, sich als Opposition gegen die Regierung der ultrarechten Republikanischen Front zu profilieren?Albizures versucht heute, die oppositionellen Kräfte in einem Forum der Zivilgesellschaft zu bündeln. Jede zukünftige Regierung muss unter Druck gesetzt werden, die Abkommen als Programm zu betrachten. Bisher hat diese Rolle die UNO-Beobachtermission MINUGUA gespielt. Doch die zieht sich spätestens nach den Wahlen im kommenden Jahr zurück. Wenn die Volksorganisationen diesen Part nicht übernehmen, wer dann? Von den Parteien der Linken erhofft sich Albizures nichts mehr. Die URNG hat sich entlang derselben Linie gespalten wie vorher schon die FSLN in Nicaragua und die FMLN in El Salvador. Politisches Gewicht hat keine der beiden Fraktionen. Albizures: „Ich glaube, da fehlt einfach der politische Weitblick. Es wurde viel Zeit vergeudet, persönliche oder Gruppeninteressen zu fördern, und dabei ist die gemeinsame Strategie, derer es bedarf, um zur echten politischen Alternative für Guatemala zu werden, auf der Strecke geblieben.“

Der Autor ist freier Mitarbeiter des SÜDWIND-Magazins und lebte 14 Jahre als Journalist in Zentralamerika. Er bereiste kürzlich wieder Guatemala.

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