Der taumelnde Staat

Von Edith Hessenberger und Michael Kasper · · 2006/03

Der Umsturz in Kirgistan vor einem Jahr wurde der Öffentlichkeit als „demokratische Revolution“ verkauft. Doch hinter dieser Fassade sieht es anders aus: Die Personen wurden ausgetauscht, aber die Methoden und Zielsetzungen sind gleich geblieben.

Das Wichtigste ist die Freiheit!“, sagt der Melonenverkäufer Ulan, „die Freiheit Kirgistans und des kirgisischen Volkes.“ Ulan hat Russisch studiert, er spricht für kirgisische Verhältnisse recht gut Englisch und verkauft am Markt von Karakol Melonen, weil es aussichtslos ist, einen Job zu bekommen. Die Arbeitslosenrate ist hoch, die Preise steigen ständig, die Korruption im Land ist allgegenwärtig, die Infrastruktur verkommt zunehmend, die Industrieproduktion geht zurück. Die Außenverschuldung übertrifft jene aller anderen zentralasiatischen Staaten. Doch an die sowjetische Zeit denkt kaum jemand gerne zurück. Das Nationalbewusstsein sitzt tief, und Ulan ist stolz auf „die Freiheit Kirgistans“. Die Russen und Usbeken, die jeweils über zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, kann er jedoch nicht besonders leiden.
Zu Konflikten zwischen den 80 verschiedenen Ethnien kommt es zwar selten, allerdings beschränkt sich das Miteinander auf öffentliche Bereiche. Familien werden meist nur innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe gegründet. Die Bevölkerung im Süden ist stark durchmischt: Vor allem Usbeken und Kirgisen leben hier, zu ungefähr gleichen Anteilen. Kurz nach dem Ende der Sowjetunion kam es zwischen diesen beiden Gruppen zu blutigen Auseinandersetzungen. Dass das Konfliktpotenzial zwischen Usbeken und Kirgisen bis heute groß ist, wurde nach den Ereignissen im usbekischen Andischan im Mai 2005 deutlich.

Nationale Symbole spielen im Land eine wichtige Rolle, sie vermischen sich mit Relikten aus der Sowjet-Zeit und verleihen Kirgistan ein eigenes Flair. Zentrales Thema ist stets die nomadische Vergangenheit, kombiniert mit Relikten der Volkskunst. Einen großen Einfluss auf dieses relativ junge ethnisch-nationale Bewusstsein übt zudem der Tourismus aus. Was Kirgistan an die Europäer und US-Amerikaner verkauft, wird zunehmend Bestandteil seiner eigenen Identität. Kirgistan hat seinen BesucherInnen viel zu bieten. Sein landschaftlicher Charakter ist vielfältig: Die Siebentausender des Tien-Shan ziehen Alpinisten ebenso an wie die Hochsteppen und Gebirgsseen viele Pferdebegeisterte zum Trekking locken. Der Issyk-Köl, ein Ferienparadies für Russen und Kasachen im Stil der Adriaküste in den 1960ern, ist als zweitgrößter Gebirgssee der Welt ein weiteres touristisches Aushängeschild. Jedes Jahr kommen mehr Reisende ins Land, die touristische Infrastruktur wird langsam, aber kontinuierlich mit Deviseneinnahmen verbessert und das Angebotsspektrum vergrößert sich ständig.
Mit allen Vor- und Nachteilen dieser Veränderungen ist Kirgistan stark auf den Tourismus angewiesen. Mangels Alternative sehen viele Menschen in den peripheren Gegenden des Landes ihre große Chance in der Vermarktung ihrer Kultur und Natur. Die politischen Veränderungen im vergangenen Jahr wirkten sich jedoch nicht besonders fördernd auf diesen Wirtschaftssektor aus.

Im vergangenen März kam es zu einem als „demokratische Revolution“ getarnten Umsturz, Präsident Askar Akajew musste nach Moskau flüchten und Kurmanbek Bakijew übernahm interimistisch das frei gewordene Amt. Der Machtwechsel war weniger Ausdruck des freien Volkswillens als vielmehr eine von den Clans im Süden organisierte Aktion. Die AnhängerInnen Bakijews stammen vor allem aus den Provinzen Jalal-Abad und Osch, in denen ethnische Konflikte schwelen und die wirtschaftlich ausschließlich auf intensive Landwirtschaft angewiesen sind. Also erhielten tausende verarmte Männer einige Som oder gar US-Dollar für ihr „politisches Engagement“ und wurden dann mit allen verfügbaren Transportmitteln nach Bischkek verfrachtet. Dort nutzen sie die Gunst der Stunde, um – mit Wodka aufgeputscht – Geschäfte zu plündern und das „Weiße Haus“ zu erstürmen. Der offizielle Grund für die Demonstrationen war die von Akajew manipulierte Parlamentswahl gewesen, doch nach der Machtübernahme durch Bakijew wurden alle bei dieser gefälschten Wahl ernannten Abgeordneten problemlos in ihren Ämtern bestätigt.
Das Parlament setzte für Juli Präsidentschaftswahlen an, und Bakijew betrieb in den verbleibenden Monaten als Interimspräsident auf Staatskosten intensive Wahlpropaganda. Das Ergebnis gab ihm Recht: er wurde mit einem sowjetisch anmutenden Ergebnis von 80 Prozent zum Präsidenten gewählt. Allerdings kam es im Endeffekt nur zu einem Wechsel der handelnden Personen, die Methoden blieben nämlich die selben: Bakijew vergab Botschafterposten und andere wichtige Ämter an seine Brüder, die wenigen Wirtschaftsunternehmen verteilte er an seine Klientel. Im Nationalmuseum wurde – und dieser Personenkult ist wohl typisch für zentralasiatische Autokraten – umgehend mit der Umgestaltung der Akajew- in eine Bakijew-Ausstellung begonnen.

Die Bevölkerung nahm den Machtwechsel anfangs positiv auf, denn der Clan um Akajew hatte seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 das Land beherrscht und sich bei unzähligen Gelegenheiten bereichert. So setzten die Kirgisen in den ersten Wochen all ihre Hoffnungen auf Bakijew. In vielen Gesprächen hörte man den Stolz heraus, diesen Umsturz aus eigener, demokratischer Kraft herbeigeführt zu haben. Von Akajew, seiner Frau und seinen Kindern kursierten unzählige Geschichten über angebliche Casino-Besuche, unterstützt mit Geldkoffern aus dem Finanzministerium, oder über asphaltierte Straßen zu enteigneten Datschas in abgelegenen Gegenden. Die Gerüchte über den Ex-Präsidenten und seine Familie schienen das positive Gefühl, „es den Politikern gezeigt zu haben“, zu verstärken.
Mittlerweile ist bei den meisten Menschen aber Ernüchterung eingekehrt. Der Winter hat politische Destabilisierung und weitere wirtschaftliche Probleme gebracht. Im Herbst wurde die Labilität der neuen Regierung deutlich, als Kriminelle vor dem „Weißen Haus“ ihr Lager aufschlugen und so versuchten, Druck auf die neuen Machthaber auszuüben. Gleichzeitig kam es in zahlreichen Gefängnissen zu Aufständen, und der Bevölkerung wurde wieder einmal die Ohnmacht der staatlichen Gewalt vor Augen geführt. Erst nach langen Verhandlungen von Premierminister Kulow mit dem wegen mehrfachen Mordes verurteilten Anführer der Aufständischen sowie mit vereinten Militär- und Polizeikräften konnte die Situation in den Strafanstalten in und um Bischkek beruhigt werden.
Im Jänner setzte der Anführer einer regionalen Miliz aus dem Grenzgebiet zu China die Regierung unter Druck, indem er drohte, die Kohle, deren Abbau er seit dem Umsturz kontrollierte, zurückzuhalten und so die an sich schon prekäre Energielage zu verschärfen. Der Winter 2005/06 ist nämlich auch in Kirgistan ungewöhnlich kalt, und das Land verfügt über nur wenige einheimische Energieträger. Der Großteil der benötigten Rohstoffe muss aus Usbekistan und Kasachstan importiert werden, wobei das Verhältnis zu Usbekistan seit den Ereignissen in Andischan sehr angespannt ist und die Regierung in Taschkent immer wieder den Öl- und Gashahn zudreht.

Diese Begebenheiten verdeutlichen einerseits die Schwäche der neuen Regierung in Bischkek und machen andererseits klar, dass undurchsichtige Clan-Strukturen, lokale Machthaber und kriminelle Organisationen, die teilweise in engem Zusammenhang mit den Drogentransporten aus Afghanistan und Tadschikistan stehen, mittlerweile die Fäden der Macht ziehen. Die hartnäckigen wirtschaftlichen Probleme fördern diese Entwicklung, da neben dem informellen Handel oft nur die Kriminalität Einnahmequellen bietet. Aufgrund der niedrigen Löhne im Staatsdienst blüht auch die Korruption wie eh und je. So ist es nicht ungewöhnlich, wenn TouristInnen hinter dem Weißen Haus bei einer „Drogenrazzia“ um einige Devisen erleichtert werden.
Dass internationale BeobachterInnen Kirgistan als „taumelnden Staat“ bezeichnen, ist daher wenig überraschend. Nach dem pseudodemokratischen Umsturz im Vorjahr taumelt das schwer angeschlagene Land der Anarchie entgegen und dient den autoritär regierenden Präsidenten der umliegenden zentralasiatischen Länder als warnendes Beispiel gegen jegliche Demokratisierung. Der Weg zu einer echten „Freiheit“, von der viele junge Kirgisen wie Ulan eingangs so schwärmerisch berichten, wird wohl noch lang und steinig sein.

Edith Hessenberger und Michael Kasper bereisten im Sommer 2005 zwei Monate das Land und erhielten durch ständigen Kontakt mit der Bevölkerung einen intensiven Eindruck von der Stimmung im Land.

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