Die Blatt-Schule

Von Kornelia Laurin · · 2000/07

Ein privates Schulprojekt in den argentinisch-patagonischen Anden bereitet Mapuche-Kinder für das Leben im 21. Jahrhundert vor.

Etwa 2000 km südlich von Buenos Aires, in den Andenausläufern Patagoniens, rauscht der Rio Azul – der „Blaue Fluss“ – wild in Richtung Tal. Durch zerklüftete Schluchten und unwegsames Gelände, umrahmt von jahrhundertealten Bäumen. Seit einigen Jahren ist dieses nur über abenteuerliche Erdwege erreichbare Gebiet entlang des Flusses bis hin zur nahen chilenischen Grenze streng geschützt. Doch was dem romantischen Naturliebhaber als Idylle pur erscheint, bedeutet für die Kinder der hier verstreut in den Bergen lebenden indigenen Bevölkerung der Mapuche ein Leben in vollkommener Abgeschiedenheit.

Während etwa 50 km weiter im nächstgelegenen Dorf El Bolson bereits die westliche Kultur dominiert, scheint hier die Zeit stehengeblieben. Man lebt das, was von den alten Traditionen übriggeblieben ist. Schule kannten die Kinder hier bis vor wenigen Jahren lediglich vom Hörensagen. Zu weit entfernt und zu beschwerlich ist der Weg aus der verträumten Bergwelt der Anden bis zur nächsten Landschule.

Vor etwa 15 Jahren fand ein Großstädterpaar aus Buenos Aires, Cristina Robin und Fernando Iglesias, seinen Weg in die Abgeschiedenheit des Azultales. Beeindruckt von der gewaltigen Naturschönheit beschlossen sie, ihr weiteres Leben hier zu verbringen. Ausgestattet mit einem geländegängigen Fahrzeug, arbeiteten sie jahrelang als Lehrer in den Landschulen des Gemeindegroßraumes. Doch das war auf Dauer für beide nicht befriedigend. „Der Unterricht folgt dem gleichen Lehrplan wie in den städtischen Bereichen und ist den unterschiedlichen Bedürfnissen der Landkinder, die zu zwei Dritteln aus den Überresten der indigenen Bevölkerung stammen, überhaupt nicht angepaßt“, kritisiert Cristina, „die Ausbildung erfolgt für ein System, in dem die meisten Mapuche-Kinder gegenüber der restlichen Bevölkerung ja doch chancenlos sind.“

Und so kam es vor vier Jahren zur Gründung der“ Escuelita de la hoja“, der „Blatt-Schule“. Einerseits konnten Cristina und Fernando damit ihre Vorstellungen von Unterricht umsetzen, andererseits aber auch endlich eine Ausbildungsmöglichkeit für die Kinder ihrer ferneren und näheren Nachbarschaft schaffen. „Mapuche-Kinder, die über Generationen noch nie mit abstraktem Schulstoff in Berührung gekommen sind, brauchen eine andere Form des Unterrichts und haben einen völlig anderen Lernrhythmus“, sollte Fernando bald bemerken: „Die Aufnahme erfolgt langsamer, aber dafür ist das Wissen dann viel fundamentaler verankert.“

„Der Lernstoff muss erlebt werden können. Dabei müssen wir uns immer wieder neue Zugänge überlegen.“ Während zum Beispiel das westliche Zahlensystem auf der Zehnerdekade aufgebaut sei, umfasse die Zahlenvorstellung der Mapuche als zentrales Element die ‚vier‘, abgeleitet von den vier Elementen. „Und so sind nicht nur die Kinder am Lernen, sondern auch wir“, meint Cristina lachend.

Der Schulbetrieb im Tal des Blauen Flusses dauert von April bis Dezember. Heuer werden 12 SchülerInnen im Alter von 5 bis 15 Jahren unterrichtet. Zwei Tage pro Woche gibt es konventionellen Schulstoff mit Lesen, Schreiben und Rechnen, Geographie und Biologie. Ein Nachmittag ist für die sogenannte Werkstätte reserviert, zu der oft Lehrkräfte von auswärts eingeladen werden.

„Hier bemühen wir uns, die alten, oft schon vergessenen Traditionen der Mapuche in den Kindern wiederzubeleben“, erzählt Fernando. “ Wir bauen zum Beispiel Instrumente aus Naturmaterialien und setzen uns dann damit zum Fluss, um gemeinsam zu musizieren.“ In der Webwerkstatt werden die Kinder mit den Bedeutungen der Farben und den alten Symbolen auf den selbst hergestellten Stoffen vertraut gemacht. Auch die Fertigkeit, aus Leder Dinge des täglichen Gebrauch herzustellen, wird unterrichtet.

Fragt man die Kinder, ob sie gerne in die Schule gehen, bekommt man ein begeistertes Kopfnicken zur Antwort.“ Ja, und ich habe noch nie gefehlt“, versichert der 13 jährige Pacho. Er ist seit Beginn Schüler der Escuelita de la hoja. Hier wurde ihm das Lesen beigebracht, und jetzt ist es sein liebstes Hobby. „Hast du Bücher zu Hause?“ „Ja, drei“, erzählt er stolz, „und jedes habe ich schon fünfmal gelesen“.

„Meine Schwester Gloria kann heute nicht kommen, weil sie keine Schuhe hat“, ruft Mathias unbekümmert dazwischen, mit 5 Jahren ist er der jüngste der Schüler. „Weißt du“, erzählt Fernando, „hier im Azul gibt es kaum eine Gelegenheit, um Geld zu verdienen. Früher konnten die Menschen wenigstens noch Kleidung, Schuhwerk und andere Dinge des täglichen Gebrauchs selbst herstellen. Doch vieles wurde mittlerweile vergessen, und so kommt es vor, dass Kinder nicht zur Schule kommen, weil sie zum Beispiel keine Winterbekleidung haben“.

Geld ist auch in der Escuelita de la hoja ständig Mangelware. „Die Eltern der Schulkinder bringen uns ab und zu frisches Gemüse, Milch und Eier“, berichtet Cristina. Die wenigen Schulbücher und Unterrichtsmaterialien, die es gibt, sind Spenden von Bekannten aus Buenos Aires.

„Obwohl unsere Schule in der Gemeinde von El Bolson eingetragen und damit legalisiert ist, bedeutet das nicht gleichzeitig einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung seitens der Regierung“, klagt Fernando. Für die Erziehung hat der argentinische Staat nicht viel Geld übrig. Im Vorjahr war die Situation der LehrerInnen sogar ziemlich dramatisch. Über Monate wurde kein Gehalt ausbezahlt. Streiks waren die Folge. Dass so auf beiden Seiten wenig Motivation vorhanden ist, erscheint verständlich. Wer Geld hat, schickt seine Kinder in eine Privatschule und später nach Europa zur Ausbildung.

Ein wenig Geld konnte heuer für die kleine Privatschule jedoch aufgetrieben werden. LEAF, die „Land Ethic Action Foundation“, unterstützt in diesem Jahr die Initiative in den patagonischen Anden. Der Schwerpunkt dieser kalifornischen Organisation liegt in der Erhaltung von traditionellen Kulturen und das deckt sich gut mit der Philosophie der Escuelita de la hoja. Achtmal erhalten Fernando und Cristina um die 700 Dollar monatlich. Davon leben die beiden, bezahlen auswärtige Lehrer, kaufen Schulhefte und Bleistifte und finanzieren alles Administrative, das im kleinen Schulbetrieb anfällt.

Trotz des großen Arbeitsaufwandes haben die beiden Lehrer genügend Motivation gefunden, um ein neues Projekt zu entwickeln, das für die Schüler zwischen 13 und 15 Jahren gedacht ist.

Das neue Schlagwort auf dem Stundenplan heisst „Ökotourismus“. Es geht dabei um die Vermittlung beruflicher Zukunftsperspektiven. Damit die Kinder im Azultal bleiben und nicht, wie oft üblich, das ererbte Land verkaufen und in die größeren Städte ziehen, um dort über kurz oder lang in Alkohol oder Kriminalität zu schlittern, erkennend, dass das System der strahlenden Konsumwelt für sie doch nicht erreichbar ist.

Da auch in diesem Teil der Welt die natur- und erlebnishungrigen TouristInnen jedes Jahr zahlreicher werden, steigt auch der Bedarf an Führern. „Warum sollen nicht die Bewohner selber diese Aufgabe übernehmen, um einerseits den Tourismus in geordnete Bahnen zu lenken, andererseits aber auch selbst Nutznießer dieser Strömung zu sein?“, fragt Fernando. „Wer könnte besser als sie über die heimische Tier- und Pflanzenwelt berichten, und wer könnte besser all die Mythen und Legenden, die damit verbunden sind, erzählen? Außerdem steigt damit für die Kinder auch der Wert der eigenen Heimat.“ Als geprüfter Bergführer hat Fernando das richtige Handwerkszeug, um die Kinder zum Öko-Naturführer auszubilden.

Bei Bedarf mit beiden Kulturen zurecht zu kommen , ist das Wichtigste, das den Kindern beigebracht werden soll. Keine leichte Aufgabe, die sich Cristina und Fernando gestellt haben. „Aber eine notwendige. Es ist erst knapp 20 Jahre her, daß die des Lesens und Schreibens unkundige Großmutter von Helvecia, einer unserer Schülerinnen, mittels Fingerabdruck von einem betrügerischen Nachbarn entschädigungslos um ihr Land gebracht wurde“, erzählt Cristina aufgebracht,“ und heute sind es die Sägewerke, die einheimischen Landbesitzern das Holz um den Bruchteil ihres Wertes abkaufen, da diese nicht rechnen können. So ist die Vermittlung von Tradition und aktuellem Wissen eine Notwendigkeit zu ihrem eigenen Schutz und für eine bessere Zukunft.“

Die Autorin arbeitete zehn Jahre lang beim ORF als Redakteurin für Hörfunk und Fernsehen und lebt seit zwei Jahren mit Mann und Tochter in den patagonischen Anden auf 1000 Meter Seehöhe

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