Die Freiheit, die sie meinen

Von Redaktion · · 1999/04

Freie internationale Finanzmärkte sind Ausdruck und Basis eines neuen Kapitalismus, der mit der Freigabe der Wechselkurse in den siebziger Jahren seine Geburtsstunde erlebte. Seine strategische Waffe ist das Finanzkapital. Und seine Verbündeten in der Bevölkerung werden immer zahlreicher.

Die Wankelmütigkeit der internationalen Anleger und ihre desaströsen Konsequenzen halten die Staatengemeinschaft in Atem. Dem war nicht immer so: In der Nachkriegszeit bis Anfang der siebziger Jahre, geprägt von den traumatischen Erfahrungen der durch den Börsenkrach ausgelösten Krise der dreißiger Jahre, setzte die Staatenwelt noch auf strenge Regulierung des Finanzwesens.

Doch dem Kapital gelang es im Laufe der sechziger und siebziger Jahre, das Regelnetz zusehends zu durchlöchern und wachsende politische Unterstützung für mehr Bewegungsfreiheit zu erhalten. Die Freigabe der Wechselkurse 1973 infolge der Aufkündigung des Bretton-Woods-Systems durch die USA war ein erster Schritt. Die bislang von den Staaten kontrollierten fixen Austauschrelationen zwischen den Währungen wurden nun der Bestimmung durch Angebot und Nachfrage auf den Devisenmärkten überlassen. Das war das erste Zeichen eines wirtschaftspolitischen Kurswechsels: Die anhaltende Wirtschaftskrise infolge der wachsenden Marktsättigung, der zunehmenden Ansprüche der Lohnarbeiterschaft und der Ölkrise ließ anti-interventionistische Politikkonzepte an Boden gewinnen.

Statt staatlicher Kontrolle sollte die "Deregulierung" insbesondere der Finanzmärkte dafür sorgen, daß Kapital zu seiner jeweils produktivsten Verwendungsmöglichkeit fliessen könne – so die Neo-Laissez-faire-Position, die ab 1980 Dominanz erlangte.

Führend bei dieser Offensive waren die Finanzzentren USA und Großbritannien, in deren Regierungslinie sich politischer Wille mit ökonomischem Interesse paarte: Diese Staaten brachten den Stein ins Rollen, der im Lauf des Jahrzehnts zu einem internationalen Deregulierungswettlauf wurde. Denn der Standort mit dem liberalsten Regime lockt Kapital aus aller Welt an und wird somit zum Zentrum einer blühenden Finanzdienstleistungsindustrie.

Länder, die nicht mitziehen, werden durch Kapitalabflüsse und heimisches Lobbying solange unter Druck gesetzt, bis sie in punkto Deregulierung aufholen.

Im Rahmen der OECD, dem Wirtschaftsclub der Industrienationen, wurde zudem reichlich Gruppendruck auf die Nachzügler zur Liberalisierung des Kapitalverkehrs ausgeübt.

Die privatwirtschaftlichen Akteure haben inzwischen hart daran gearbeitet, eine internationale private Finanzinfrastruktur aufzubauen. Der Schaffung eines internationalen Devisenmarktes in den sibziger Jahren folgte die Etablierung eines internationalen Marktes für Schuldverschreibungen in den achtziger Jahren, gefolgt von der weltweiten Vernetzung der Aktienmärkte in den neunziger Jahren.

Doch entgegen den Versprechungen der neoliberalen Theorie ist von den Verheißungen der freien Kapitalmobilität recht wenig zu spüren. Der globalisierte Finanzmarkt taumelt vielmehr von einer Krise zur nächsten. Denn – wie schon die Architekten der Nachkriegsfinanzordnung wußten – Finanzmärkte sind keine "gerechten Richter".

In der neoliberalen Vorstellung sind Kapitalzu- und abflüsse optimale Seismographen für die Güte von Staatsschuldpapieren, Aktien und Währungen. Gerät ein verschuldeter Staat und/ oder seine Währung unter Druck, weil Kapital in Massen das Land verläßt, kann es demgemäß nur einen Grund geben: Schlechte Wirtschaftspolitik – selber schuld.

Eine Reihe von Antworten muß diese Theorie allerdings schuldig bleiben: Wieso werden aus einer Gruppe von Staaten mit gleich "schlechter" Wirtschaftspolitik nur manche bestraft? Warum folgt die Strafe urplötzlich, obwohl das "Fehlverhalten" bereits länger zu beobachten ist? Warum werden Ziele attackiert, denen beim besten Willen keine Fehler vorzuwerfen sind?

Die Antwort ist für Verehrer der Märkte reichlich unangenehm: Eine Reihe von psychologischen und institutionellen Faktoren führt dazu, daß Finanzmärkte regelmäßig Herdenverhalten an den Tag legen. Phasen der Euphorie und der Panik wechseln sich ab – das Marktverhalten gleicht eher dem eines Jojos als einem geeichten Seismographen.

Diese Einsicht setzt sich allerdings erst in jüngster Zeit wieder durch. Die vergangenen zwei Jahrzehnte waren geprägt von einem Diskurs, der staatliche Schuldner alleinverantwortlich für Krisen machte. Gemäß der neoliberalen "the market knows best"-Doktrin wurde staatliches Wirtschaften, Regulieren und Umverteilen zum Sündenbock für die Wirtschaftskrise gestempelt. Neben Privatisierung und Deregulierung wurde der Abbau der Staatsverschuldung zum Hauptziel erklärt.

Als erstes kamen Anfang der achtziger Jahre die Entwicklungsländer dran, denen man im Gefolge der Schuldenkrise mit "Strukturanpassungsprogrammen" zu Leibe rückte. Zehn Jahre später schwappte die Strukturanpassung in die industriellen Kernländer über: In Europa wurde die Budgetkonsolidierung per völkerrechtlichem Vertrag ins Werk gesetzt (die berühmten Maastricht-Konvergenzkriterien für die Währungsunion) und in den USA wetteiferten die beiden Großparteien darum, wer die härteren Budgetsanierungsmaßnahmen vorbringt. Es sollte endlich Schluß gemacht werden mit der Schuldenwirtschaft.

Die vor allem von notleidenden Unternehmenskrediten hervorgerufene Asien-Krise und die zu einer Krisengefahr ersten Ranges angewachsene gigantische Verschuldung der Haushalte in den USA machen aber klar, daß die staatlichen Anstrengungen zur Budgetsanierung das Schuldenmachen nicht beendet, sondern lediglich auf den Privatsektor verschoben haben.

Freie internationale Finanzmärkte spielen dabei eine wichtige Doppelrolle: Erstens erlauben sie den in der Nachkriegszeit in den Industrieländern angesammelten Vermögen, sich staatlichen Umverteilungsmaßnahmen durch Flucht zu entziehen. Zweitens eröffnen sie bislang ungekannte Möglichkeiten der Verschuldung. Die Versorgung von Akteuren mit Geldbedarf erfolgt somit nicht mittels staatlicher Umverteilung, sondern mittels rückzahlungspflichtiger Verschuldung.

Und da das Kapital nach Belieben kommen und gehen kann, kann es sich leisten, wählerisch zu sein: Es müssen also hohe Zinsen geboten werden, will man es zum Bleiben überreden. Von 1980 bis 1990 ist in Europa deshalb das Realzinsniveau auf historische Rekordstände geklettert.

Krisen, Umverteilung nach oben, investitionsfeindliches hohes Zinsniveau – immer wieder rufen Ökonomen unter Berufung auf diese negativen Auswirkungen nach Regulierung der Finanzmärkte, appellieren an ArbeitnehmerInnen und UnternehmerInnen, sich gegen die "parasitären Rentiers" zur Wehr zu setzen. Doch ohne Erfolg – wie ist das zu erklären?

Das Erfolgsgeheimnis der Finanzmarktrevolution ist ihre breite Absicherung in der Bevölkerung. Die Akteure auf den Finanzmärkten sind nicht parasitäre Spekulanten, die den "Ehrlichen und Fleißigen" die Früchte ihrer Arbeit rauben. Das Finanzkapital ist die Avantgarde, das Leitbild und die strategische Waffe des neuen Kapitalismus.

Die Rhetorik der Flexibilität ("…in zwei Sekunden um den Globus…"), Effizienz ("…jede Arbitragemöglichkeit ausnutzend…."), Technikorientierung ("…per Knopfdruck…") und der unbeeinflußbaren Allmacht ("…1,3 Billionen täglich…") ist Ausdruck und Hilfsmittel zur Durchsetzung eines Bestrebens, die gesamte Ökonomie nach diesem Modell zu organisieren.

Mit dieser Flexibilitätsrhetorik wird Faszination erzeugt und Druck auf alles ausgeübt, was sich nicht den Wünschen der Verwertung beugt. Diese Struktur ist somit der zentrale Hebel für die Umstrukturierung und Durchsetzung besserer Verwertungsbedingungen für das Kapital im allgemeinen – nicht nur für die vielgescholtenen "Spekulanten".

Dazu muß man Verbündete in der Bevölkerung finden – Hegemonie erlangen. In Europa hat diese Entwicklung im Großbritannien der achtziger Jahre ihren Ausgangspunkt genommen – dort hat die konservative Regierung strategisch vorexerziert, wie es geht: Die Individualisierung von Hauseigentum und Pensionsvorsorge war Teil eines nationalen "Erziehungsplans", der die bislang so renitenten ArbeiterInnen Kapitalismus verstehen lassen und zu KoalitionspartnerInnen pro-unternehmerischer Politik machen sollte. "Every adult a shareholder", jeder Erwachsene ein Aktionär lautete die Losung.

Die Verbreitung von symbolischen Eigentumsanteilen an Unternehmen, Eigenheimen und Pensionsvorsorge sollte ein Stückchen kapitalistische Logik in alle Köpfe und ein bißchen Risiko in jeden Haushalt bringen.

Auch in den USA führte die Verbreitung von steuerbegünstigten individuellen Alterssparplänen zu einem massenhaften Einstieg "kleiner SparerInnen" ins Anlagegeschäft. So frohlockte die Wirtschaftszeitung "The Economist" 1997: "Thanks to mutual fund revolution, everyone is a capitalist now."

Das Ergebnis dieser Entwicklung in den USA und Großbritannien ist ein riesiger Sektor mächtiger privater Pensions- und Investmentfonds, die entscheidenden Einfluß auf Wirtschaftsleben, Unternehmensführung und Politik ausüben. Unterstützt werden sie von der breiten Bevölkerung, da fast jede(r) irgendwie drinhängt.

Und wer jetzt Restriktionen für die Finanzmärkte fordert, wird nicht mehr als Robin Hood im Kampf gegen "die Reichen" wahrgenommen, sondern schießt Pfeile ab, von denen sich breite Bevölkerungsschichten getroffen fühlen.

Die gleiche Bündnispolitik von oben steckt hinter den jüngst in Kontinentaleuropa zu beobachtenden Versuchen, private Ersparnisse an die Börse zu locken, dem Bemühen um Demontage der öffentlichen Pensionsvorsorge (angeblich plötzlich "unfinanzierbar" – trotz steigenden Volkseinkommens) und Umstellung auf private Pensionskassen sowie der Verbreitung von MitarbeiterInnen-Beteiligungsmodellen.

Grandiose Vision: MitarbeiterInnen stimmen der eigenen Entlassung mit Blick auf ihre steigenden Dividenden freudig zu.

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