Die Geschichte vom Anfang und vom Ende

Von Redaktion · · 2002/05

Gestern drang der Regen überall ein. Die Hütte des Alten Antonio war wie ein nutzloser Schatten im Sturm, mit dem der Juni den Mais wiederbelebte, der bereits in der harten Erde eines zu langen Monats Mai erlosch. Ich wusste nicht mehr, ob ich mich in oder vor der Hütte befand, ich wurde genauso nass wie ohne Dach… Der Alte Antonio tröstete mich auf die beste Weise, die ihm einfiel, und ihm fiel ein, mir die Geschichte vom Anfang und vom Ende zu erzählen…

Es war schon eine ganze Weile vergangen, seitdem das Gestern alt geworden war und sich allein in einem Winkel der Welt befand. Es war bereits eine Weile vergangen, seitdem die erhabensten Götter, die, die Welt erschufen, die ersten, eingeschlafen waren. Sie waren all des Tanzens und des Wegbereitens und Fragestellens sehr müde geworden. Deshalb waren die ersten Götter eingeschlafen. Sie hatten bereits mit den wahrhaften Männern und Frauen gesprochen, und sie waren alle darin übereingekommen, weiterzugehen. Denn nur beim Gehen würde man die Welt erleben, so sprachen die erhabensten Götter, die, die Welt erschufen, die ersten.
„Wie lange noch werden wir weitergehen?“ fragten sich die Maismänner und –frauen, die wahrhaften.
„Wann haben wir begonnen?“ erwiderten die wahrhaften Männer und Frauen, denn so hatten sie es von den ersten Göttern gelernt, dass man auf eine Frage stets mit einer anderen Frage antwortet.
Aber die ersten Götter wurden darüber wach. Denn die erhabensten Götter, die Erschaffer der Welt, können nicht weiterschlafen, wenn sie eine Frage hören, und so wachten sie auf und fingen an, auf der Marimba zu spielen. Und sie machten ein Lied aus den Fragen, und sie tanzten, und sie sangen: „Wie lange noch werden wir weitergehen?“, „Wann haben wir begonnen?“ Und so würden sie heute noch tanzen und singen, wenn nicht die wahrhaften Männer und Frauen zornig geworden wären und ihnen gesagt hätten, dass es nun genug sei mit dem ganzen Getanze und Gesinge und dass sie die Antworten auf ihre Fragen hören wollten. Und da wurden die ersten Götter ernst und sagten: „Die Männer und Frauen, die wir aus Mais schufen, haben eine Frage. Sehr weise Männer und Frauen sind uns nicht dabei entsprungen. Sie suchen die Antwort weiter weg, ohne zu merken, dass sie sie bereits hinter sich und vor sich haben. Nicht sehr weise sind diese Männer und Frauen, wie junge zarte Maiskolben sind sie“, sangen die ersten Götter und fangen einfach wieder an zu tanzen und zu singen, und die wahrhaften Männer und Frauen werden wieder wütend und sagen, dass es nun genug sei mit dem Spott und was sie damit gemeint hätten, dass sie die Antwort vor und hinter sich hätten, und die ersten Götter sagen ihnen, dass auf dem Rücken und im Blick die Antworten liegen, und die Maismänner und –frauen schauen sich an und merken, dass sie nichts verstanden haben, aber sie schweigen, und die erhabensten Götter sagen zu ihnen:

„Auf dem Rücken entstanden die Maismänner und –frauen, denn aneinandergelehnt wurden sie geboren, und da sie aus Mais sind, erwuchsen sie aus dem Boden. Auf dem Rücken begannen sie zu laufen. Ihr Rücken bleibt immer hinter ihrem Schritt oder ihrem Stillstehen zurück. Ihr Rücken ist der Anfang, das Gestern ihres Schrittes.“
Und die wahrhaften Männer und Frauen verstanden das nicht so recht, denn der Beginn hatte ja bereits begonnen und das Gestern war schon vergangen, deshalb kümmerten sie sich nicht darum, und so erwiderten sie: „Wie lange noch werden wir weitergehen?“
„Das ist leichter zu verstehen“, sagten die Götter, die die Welt erschufen. „So lange, bis euer Blick eure Schulter erblickt. Ihr braucht nur im Kreis zu gehen, bis ihr euren Schritt überrundet habt und euch selbst seht. Wenn ihr genug gelaufen seid und euren Rücken erkennen könnt, und sei es nur von weitem, dann seid ihr angekommen, Brüderchen und Schwesterchen“, erklärten die ersten Götter, als sie bereits wieder am Einschlafen waren.
Und die wahrhaften Männer und Frauen waren sehr zufrieden, denn nun wussten sie, dass sie nur im Kreis gehen mussten, bis sie ihren Rücken zu sehen bekamen. Und so verbrachten sie eine ganze Weile damit zu gehen, um ihren Rücken zu erreichen.

Irgendwann blieben sie stehen, um darüber nachzudenken, warum sie den Weg noch gar nicht begonnen hatten und sagten zueinander: „Das ist aber sehr anstrengend, den Anfang zu erreichen, um ans Ende zu gelangen. Dieses Laufen nimmt kein Ende, und es schmerzt, daran zu denken, wann wir denn an den Anfang gelangen werden, um unsere Schritte zu beenden.“ Und einige verloren den Mut und setzten sich hin, wütend darüber, dass der Weg zum Anfang gelangen würde, um das Ende zu erreichen, und sie dachten an den Weg, den sie gingen, und da er im Kreis lief, wollten sie es bei jeder Runde besser machen, und jede Runde, die sie machten, ging besser, und da freuten sie sich, und es war eine große Freude für sie zu gehen, und so gingen sie eine ganze Weile, und ohne stehen zu bleiben sagten sie sich: „Es ist ein lustiger Weg, der wir sind, wir gehen, um den Weg besser zu machen. Wir sind der Weg, damit andere von einer Seite auf die andere gehen. Für alle gibt es einen Anfang und ein Ende auf ihrem Weg, für den Weg nicht, für uns nicht. Für alle alles, für uns nichts. Wir sind eben der Weg, wir müssen weiter.“

Und damit sie es auch nicht vergaßen, zeichneten sie einen Kreis auf die Erde, und so gingen und gehen alle wahrhaften Männer und Frauen den Kreis entlang. Ihr Kampf, den Weg besser zu machen, sich besser zu machen, findet kein Ende. Deshalb glauben die Menschen, dass die Welt rund sei. Aber was soll diese Kugel, die die Welt ist, denn anderes sein als der Kampf und der Weg der wahrhaften Männer und Frauen, die immer gehen, die immer wollen, dass ihnen der Weg besser gelingt aus den Schritten heraus, die sie machen. Ihr ständiges Gehen hat keinen Anfang und kein Ende auf ihrem Weg. Und die wahrhaften Männer und Frauen dürfen auch nicht müde werden. Sie wollen immer sich selbst einholen, sich selbst von hinten überraschen, um den Anfang zu finden und so ans Ende ihres Weges zu gelangen. Aber es wird ihnen nicht gelingen, sie wissen es, und es hat bereits keine Bedeutung mehr für sie. Es ist ihnen nur wichtig, ein guter Weg zu sein, der immer versucht, besser zu werden…
Der Alte Antonio schweigt, aber der Regen nicht. Ich wollte ihn fragen, wann dieser Regen denn aufhören würde, aber es scheint mir, dass es nicht die beste Atmosphäre für Fragen über Anfang und Ende ist. Der Anfang des Weges bereitete mir große Mühe. Ich wusste, dass ich im Schlamm ausrutschen würde, aber, obwohl ich es wusste, musste ich dieses Fallen gehen. Denn Gehen ist auch Stolpern und Fallen. Das hat mich nicht der Alte Antonio gelehrt…


Diese Erzählung – übersetzt von Horst Rosenberger – ist entnommen dem Buch: „Geschichten vom Alten Antonio“ von Subcomandante Marcos, Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1997, 160 Seiten, 2 12,75.

Subcomandante Marcos erlangte als Sprecher der indianischen Widerstandsbewegung (EZLN) im südlichen mexikanischen Bundesstaat Chiapas Berühmtheit. Doch Marcos ist auch Poet. Auf Deutsch sind zwei Bücher erschienen, in denen er das Leben der Zapatistas in den Bergen und Wäldern schildert. Dabei lässt er den Alten Antonio zu Wort kommen, der mit Geschichten aus der indianischen Mythologie den Blick von alltäglichen Problemen auf das Ganze lenkt.

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