Die Gier nach dem Unendlichen

Von Peter Heintel · · 2001/11

Die Globalisierung hat die Weltregionen einander näher gerückt, doch die sozialen Ungleichheiten nicht bereinigt, im Gegenteil. Entgrenzung und Beschleunigung sind die Merkmale kapitalistischer Welteroberung.

Globalisierung – unsere Welt schickt sich an, Weltgesellschaft werden zu wollen. Ein alter Traum der Menschen scheint in Erfüllung zu gehen. Verlangt wird der „Weltbürger“, der alte Kosmopolit wird zum Ehrentitel des neuen „Erdenbürgers“. Fremde und Unerreichbare werden zu Nachbarn, Nationen versinken in vergangener Geschichte. Solidargemeinschaften verhindern Armut, Kooperationen und Verhandlungen Kriege, ein weltweites Krisenmanagement beherrscht Probleme und Krisen, Feindesliebe ist soziales Postulat. Wir sind dem Humanen ein Stück näher gerückt. So wünschten wir uns es, einst und jetzt, weil wir immer schon wussten, dass der „ewige Friede“ nur in weltweiter Übereinstimmung stattfinden kann.

Die Realität aber sieht anders aus. Der Weltgesellschaft durch Globalisierung näher gerückt, bemerken wir die Kehrseite: Vieles ist nicht anders geworden, die Kluft zwischen arm und reich ebenso nicht überwunden, größere und kleinere Kriege finden immer noch statt und die hegemoniale Macht der westlichen Zivilisation bedarf zu ihrem Schutz der Macht des übrig gebliebenen „Weltpolizisten“ und seiner Verbündeten.

Das Paradoxe in diesem Befund lautet also: Die westliche Ökonomie, der Kapitalismus („der alleinige Sieger“) hat alle Expansionsmotivation erzeugt und unterstützt (alle „Gier“ nach dem Mehr und dem Unendlichen), hat sich für seine Verwirklichung Naturwissenschaft und Technik zum Partner gewählt und ihn für eigene Zwecke gefördert und damit überhaupt erst Weltgesellschaft real näher rücken lassen.

Weltgesellschaft ist daher Wirtschaft und Technologie, das ist ihr real Gemeinsames und sonst nichts. Ohne sie gäbe es sie nicht, und mit und unter ihnen hat sie eben deren Charakter. Genügt dieses Bindeelement oder verlangen wir mehr?

Vielleicht genügen uns diese Beiden, vielleicht brauchen wir sonst gar nichts Gemeinsames (der Neoliberalismus scheint darauf zu setzen). Vielleicht wäre es gerade der Verzicht darauf, der uns Unterschiede in Kultur, Lebensentwürfen, in Religionen und Wertsystemen ermöglichen und aufrechterhalten ließe? Vielleicht doch nur zu einer Bedingung: dann nämlich, wenn das Gemeinsame (Wirtschaft und Technologie) tatsächlich ein solches wäre, wenn alle Menschen daran gerechten Anteil hätten. Diese Forderung widerspricht aber gerade dem, was es groß und erfolgreich gemacht hat; ebenso wäre der „Unendlichkeitstrieb“ gefährdet.

Bei uns produziert diese Art von Weltgesellschaft „Modernisierungsverlierer“, weltweit Ausgeschlossene, die noch niemals Gewinner waren. In diesen aber bündelt sich Widerstand, und die Weltgesellschaft muss in sich zerfallen.

Die Einseitigkeit des Wirtschaftssystems besteht unter anderem darin, dass es kein Maß in sich hat, prinzipiell alles zu seinem Gegenstand zu machen, alles Produktions- und Kaufakten zu unterwerfen. Sein Medium ist das Geld, das ebenso keine Grenze in sich hat. Dessen Besitz ist daher in ihm von höchster Attraktion und Wert hat nur, was in ihm ausgedrückt werden kann. Technologie in ihrer elektronischen Ausrichtung ist ebenso „grenzenlos“. Traditionelle Abgrenzungen können alle überwunden werden, wo sie installiert wird. Sie macht uns unabhängig von „realen Räumen“, an ihre Stelle treten „virtuelle“. Diese halten sich von sich aus an keine bestehenden Grenzen; weder an räumliche, noch an ethische, noch an gesetzliche.

Eine in letzter Zeit vielgebrauchte Wendung sollte in diesem Zusammenhang zu denken geben: Man spricht so gern von den „zwei“ (oder mehreren) Geschwindigkeiten (Europa der zwei Geschwindigkeiten). Man sagt nicht, die einen sind reicher, die anderen ärmer, oder fortgeschrittener und zurückgebliebener, oder tüchtiger und untüchtiger. Es gibt schnellere und langsamere und die ersteren wollen die letzteren nicht als Klotz am Bein, wollen ungebremst weiter.

Im globalen Wettbewerb, so heißt es, gewinnen die Schnelleren. Sie sind aber gezwungen, bis zur Atemlosigkeit immer schneller zu werden (und nicht nur aus Konkurrenzgründen), weil sie immer mehr entgrenzen und das Grenzenlose ausfüllen, besetzen müssen. So könnte es sein, dass der grenzenlose virtuelle Raum, wenn er nicht in neue Gestalten und Formen gebracht wird, seine Bewohnerinnen und Bewohner in die Erschöpfung treibt.

Die derzeitige Globalisierung öffnet uns zwar unendliche Räume – der Geist hat die politische Geographie verlassen. Sie steht aber ausschließlich unter der Dominanz von kapitalistischer Ökonomie und Technologie. Diese geben keine Struktur, keine Gestalt. Sie können sie nur mit ihren Produkten „füllen“.

Der Autor ist Professor an der Universität Klagenfurt und Gründer und Vorsitzender des „Vereins zur Verzögerung der Zeit“.

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