Die Lebensadern der Erde

Von Redaktion · · 2015/11

Geliebt, genutzt, verschmutzt. Wie sorglos Menschen mit Flüssen umgehen und dabei sich selbst gefährden, erklärt Brigitte Pilz.   

Eine gute Nachricht vorab. Die steirische Mur gewann 2014 den Europäischen River Price. Und heuer war sie sogar in der Endauswahl zum Internationalen River Price, der jährlich in Australien vergeben wird.

Vor etwa 30 Jahren zählte die Mur zu den dreckigsten Flüssen Europas. Begradigungen und Regulierungen hatten die „Wasserstraße“ zwischen Graz und der slowenischen Grenze um 15 Kilometer verkürzt. Abwässer aus Haushalten und Industrie wurden ungereinigt in den Fluss geleitet, mit verheerenden Folgen für das Ökosystem im und um das Wasser. In den 1980er Jahren wurde mit dem Rückbau und der Revitalisierung des Flusses begonnen. Abwasserentsorgung erfuhr in dieser Zeit insgesamt höhere Aufmerksamkeit. An der Mur wurden Seitenarme, Schotterbänke, Tümpel und Fischwanderhilfen geschaffen, Auwälder belebt. Flora und Fauna haben neuen Lebensraum bekommen. Finanziert wird das Projekt von Gemeinden, Land, Bund und EU.

Gerne berichtet man von solchen Initiativen, auch wenn die Mur kein riesiger Strom ist.

Hotspots der Biodiversität. Flüsse und Bäche sind die Lebensadern der Erde. Sie werden als Hotspots der Biodiversität bezeichnet. Doch das Ökosystem unserer Fließgewässer ist in Gefahr. Global gesehen ist ihr Zustand besorgniserregend. Flüsse und ihre Auen werden zu den am meisten gefährdeten Lebensräumen gezählt. Sie sind verdreckt, verbaut, zerstückelt. Es geht nicht allein um biologische Vielfalt, um Tiere und Pflanzen. Flüsse sind für den Menschen enorm wichtig. Sie geben Trink- und Nutzwasser, Nahrung, Baumaterial. Sie sind Transportwege, sie nutzen der Landwirtschaft ebenso wie sie der Erholung sowie der kulturellen und spirituellen Anregung dienen.

So etwa ist der Amazonas, der größte Strom der Erde, bestimmend in den Mythen der am und vom Fluss lebenden indigenen Gemeinschaften. Eine Erzählung geht so: Yacumama, die 60 Meter lange Anaconda, ist die Mutter aller Gewässer und wohnt in den Tiefen des Amazonas. Wenn sie dem Fluss entsteigt, kommt es zu Erdbeben. Sie kann gefährliche Strudel erzeugen und explosionsartige Geräusche produzieren. Reisende auf dem Fluss haben großen Respekt vor ihr, weil sie sich auch in ein Geisterschiff verwandeln kann. Die Existenz von Seejungfrauen gilt am Amazonas als gesichert.

Erste Hochkulturen. Ein Blick zurück in die Menschheitsgeschichte zeigt, dass die ersten großen Hochkulturen vor Jahrtausenden an Flüssen entstanden sind: im Alten Orient die Staaten in Mesopotamien zwischen Euphrat und Tigris; in Nordafrika die ägyptischen Reiche beiderseits des Nil; auf dem indischen Subkontinent die Harappa-Kultur am Indus; in Ostasien die chinesischen Reiche am Gelben Fluss und am Jangtsekiang.

Die Erklärungen der Wissenschaft leuchten ein: Flüsse waren die ersten Verkehrswege überhaupt. Sie traten regelmäßig über ihre Ufer, zogen sich wieder zurück und hinterließen fruchtbares Schwemmland, das sich als Ackerland eignete und dauerhafte Besiedelung förderte. Die Bewässerung in Phasen der Trockenheit wurde notwendig und mit Flusswasser möglich. Nahrungsüberschüsse, Vorratshaltung, Arbeitsteilung und immer besser organisierte Gemeinwesen waren die Grundlagen weiterer kultureller Errungenschaften.

Die zentrale Bedeutung des Flusses im Alltag prägte auch die religiösen Vorstellungen dieser Kulturen. Der Nil wurde als Gott verehrt, und der Ganges ist für Hindus bis heute der heiligste Fluss.

Städte an Flüssen. Auch in den folgenden Jahrhunderten wurden Städte zu Flüssen hin gebaut. Auf ihnen konnte herangeschafft werden, was man zum Leben brauchte. Der Transport von Menschen und Gütern erfolgte immer komplexer und in technisch immer ausgeklügelteren Booten und Schiffen. Flüsse grenzen ab, aber sie verbinden auch.

Und schon früh hat sich der Mensch die Energie der Flüsse zunutze gemacht, ihre Antriebskraft zuerst für Mühlen und später für ganze Industriebetriebe. Im Zuge technischer und ökonomischer Umwälzungen verstärkte und intensivierte sich die Nutzung der Fließgewässer ohne Rücksicht auf ihre Gesamtfunktion für das Ökosystem.

Flüsse als Schutz. Manchmal erleben wir sehr unmittelbar die Folgen unseres eindimensionalen Fortschrittsdenkens. Flüsse sind Transportwege, also begradigen wir sie, vertiefen das Flussbett, fassen es in Beton, errichten künstliche Dämme, legen Auen trocken und bebauen sie.

Wie wichtig frei fließende Gewässer und ihre Auen allein für den Hochwasserschutz sind, haben wir in Mitteleuropa in den letzten Jahren erfahren müssen. In Deutschland stand entlang der Elbe ursprünglich eine über 6.000 Quadratkilometer große Wasserausdehnungsfläche als Ausgleich zwischen dem Grundwasser und dem Oberflächenwasser zur Verfügung. Sie ist auf 800 Quadratkilometer geschrumpft. Auch entlang des gesamten Flusssystems der Donau sieht es vergleichbar aus.

Dauerregen und starke Unwetter haben im Frühsommer 2013 zu einer Hochwasserkatastrophe entlang der Elbe, der Donau und anderer Flüsse Mitteleuropas geführt, die jene von 2002 noch übertroffen hat. Langsam beginnt ein Umdenken. Es gilt unter anderem, Augebiete wieder an die natürliche Dynamik eines Flusses anzuschließen, Flussläufe zu renaturieren.

Gefahr Klimawandel. Weltweit wird die Hochwassergefahr an Flüssen durch die Erderwärmung und extreme Wettersituationen ansteigen, warnte kürzlich das World Resources Institute der UNO. Bis 2030 könnten weltweit 54 Millionen Menschen davon betroffen sein. Der volkswirtschaftliche Schaden wird auf fast 500 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt, derzeit sind es knapp 100 Milliarden. Die dicht besiedelten Länder Asiens sind besonders bedroht, allen voran Indien, vor Bangladesch und China. Durch die globale Erwärmung droht ein Abschmelzen der Gletscher im Himalaya. Dies könnte in den nächsten 20 bis 30 Jahren zu Überflutungen, Erdrutschen und zur Verschlechterung der Wasserqualität besonders im Mündungsdelta des Mekong führen, heißt es in einem Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change mit Sitz in Genf.

Schmutziges Flusswasser. Wir alle wissen, dass es fast nirgends angeraten ist, Flusswasser zu trinken. Jahrhunderte lang wurden Abwässer aus Gewerbe und menschlichen Haushalten in Bäche und Flüsse geleitet. Doch Siedlungen wuchsen zu Städten und Megacities heran, aus kleinen Betrieben wurden Fabriken, aus Bauernhöfen große industrialisierte Agrarbetriebe. Schmutzwässer, Gifte und Abfall aller Art überstiegen die Selbstreinigungskraft der Fließgewässer. In unseren Breiten haben sich inzwischen vielerorts der Bau von Kläranlagen und die kommunale Überwachung von Abwässern durchgesetzt.

In der Isar in München kann man mittlerweile gefahrlos baden. Das Wasser aus allen Kläranlagen wird dort seit einigen Jahren mit UV-Licht entkeimt. Die breite Umsetzung einer solchen innovativen Technik ist nicht zuletzt eine Frage des Geldes.

Etwa fünf Milliarden Menschen, fast 80 Prozent der Weltbevölkerung, leben im Einzugsbereich belastetet Flüsse. Am stärksten ist die Verschmutzung des Wassers in menschlichen Ballungsräumen, oft nahe von Mündungen großer Ströme. Viele der Millionenstädte befinden sich an den vom WWF als am dreckigsten bezeichneten Flüsse: Schanghai am Jangtse, Ho-Chi-Minh-Stadt am Mekong, Dhaka und Kolkata am Ganges, Buenos Aires und Montevideo am Rio de la Plata, Kairo am Nil. (Die Donau befindet sich übrigens in dieser Negativ-Rangliste unter den ersten zehn.) Und die Wohngebiete der ärmsten Bevölkerungsgruppen liegen häufig am oder über dem Fluss. Es fehlen entsprechende sanitäre Anlagen. Es gibt keine Möglichkeit zur Müllentsorgung außer im Fluss.

Staudammbau. Die massivsten Eingriffe in Flusssysteme stellen Riesenstaudämme dar. Die Vorteile sind nicht von der Hand zu weisen. Millionen von Menschen in Großstädten können mit günstigem Trinkwasser und Strom versorgt werden, der im Vergleich mit jenem aus Kohlekraftwerken sauber ist. Bewässerungsmöglichkeiten garantieren gleichmäßige Agrarerträge auch in Dürreperioden und für eine steigende Bevölkerungszahl. Doch künstliche Seen verdrängen die ansässige Bevölkerung, was oft erheblichen sozialen Sprengstoff in sich birgt. Bei Erdbeben können Staudämme zur Gefahr werden. Die Tier- und Pflanzenwelt des Flusses verändert sich völlig, nicht zuletzt weil an Stelle des periodischen Wechsels von Hoch- und Niedrigwasser ein fast gleichmäßiger Abfluss tritt. Und für Fische ist ein Staudamm ein unüberwindliches Hindernis.

Der Assuan-Staudamm in Ägypten, 1971 eröffnet, war das erste Riesenprojekt dieser Art. Über Jahrhunderte hatten gewaltige Wassermengen jährlich das Niltal überschwemmt. Der fruchtbare Schlamm bestimmte den Rhythmus der Feldarbeit und ihre Erträge. Mit dem gigantischen Wall aus Fels, Sand und Lehm wurde der Strom über eine Länge von 500 Kilometern zum Nassersee, zehnmal so groß wie der Bodensee, aufgestaut. Die Kapazität von 2.100 Megawatt bedeutete eine Verdoppelung der Stromerzeugung im westarabischen Raum. Nachteile brachte der Kunstdünger- und Pestizideinsatz auf intensiv bewässerten Flächen und die Versalzung der Böden sowie die Erosion entlang des Nilufers. Die Umsiedlung von 100.000 NubierInnen wird heute als gelungen angesehen, doch viele ihrer Kultstätten sind im Stausee versunken und für immer verloren.

Bau-Boom. In den 1980er Jahren kam es geradezu zu einem „Goldrausch“ im Bau von Staudämmen. Am gewaltigsten ist bisher die 2008 fertig gestellte Drei-Schluchten-Talsperre am Jangtsekiang. Das Kraftwerk hat eine Kapazität von rund 18.000 Megawatt. Heftige internationale Kritik lösten die Umsiedlungen von 1,3 Millionen Menschen aus, ebenso die unabwägbaren ökologischen Folgen eines derart massiven Eingriffs in die Natur.

Weltweit wurden bereits 45.000 Großstaudämme mit mehr als 15 Metern Höhe errichtet. Tausende Staudämme befinden sich im Bau oder in Planung, zum Teil an Strömen, die bisher noch relativ verschont blieben.

Romantik. Der Mensch liebt Flüsse. Was wäre Paris ohne die Seine, London ohne die Tower Bridge und die Themse, der Anblick der New Yorker Skyline ohne den Hudson oder den East River davor? Flusskreuzfahrten als Rückkehr zur Langsamkeit sind begehrter als je zuvor. Wie so vieles in der Natur betrachten wir die Existenz von Flüssen als selbstverständlich. Doch ihre Gefährdung und Erhaltung liegen nicht zuletzt in unserer Verantwortung.

Brigitte Pilz ist freie Journalistin und Herausgebervertreterin des Südwind-Magazins.

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