Die neue große Mauer

Von Günter Spreitzhofer · · 2001/10

Vor 2200 Jahren begann Kaiser Shi Huang-ti mit dem Bau der Chinesischen Mauer, dem größten Schutzwall der Erde. Derzeit arbeitet das Reich der Mitte an einem neuen Prestigeprojekt: Der mächtigste Staudamm aller Zeiten soll bis 2009 fertig gestellt sein.

Chongquing, die brodelnde Millionenstadt am Oberlauf des Yangtse, hat schon schlechtere Zeiten gesehen: Schemenhaft ragen die neuen Glaspaläste durch die Nebel unten am Fluss, wo noch rußgeschwärzte Ziegelbauten an die industrielle Steinzeit gemahnen, als die Stadt ein qualmendes Meer von geduckten Schornsteinen war.

Das ist Geschichte und Chongquing die neue Boomtown der Zukunft. Ein 2.400 km landeinwärts gelegener Hafen für Hochseekutter, am Westende eines 520 km langen Stausees, den das gewaltigste Dammprojekt aller Zeiten schaffen wird: Der Aufstau des Yangtse, Asiens mächtigstem Fluss und Chinas Schlagader unter den Verkehrswegen, ist beschlossene Sache – am größten menschlichen Bauwerk seit der Errichtung der Chinesischen Mauer scheint kein Weg mehr vorbeizuführen. Chongquings hässliche Seite wird ohnedies bald geflutet sein, zehn Meter wird der Wasserspiegel selbst hier noch steigen. Vielerorts scheint sich wenig verändert zu haben, seit die Stadt 1890 zum industriellen Außenposten der Mandarine der Ostküste wurde. Über zwei Millionen Menschen leben heute an den Uferkuppen des Yangtse, geplagt von einem unangenehmen Cocktail aus Nebel und saurem Regen.

Verläuft alles planmäßig, wird das Stauprogramm 2003 begonnen. Es soll den Fluss um bis zu 135 m aufstauen – ein ehrgeiziges Unterfangen, das die zwangsweise Umsiedlung von 1,2 bis 1,9 Millionen Menschen vorsieht. Die zunehmende Unruhe unter den Betroffenen ist offenkundig. Offiziell sind erst wenige Tausend fortgezogen; es drohen Massenaufstände von Hunderttausenden. Polizei- und Armee-Einheiten aus dem ganzen Land sind in Alarmbereitschaft für den Tag X, wenn das Wasser tatsächlich zu steigen beginnt und 13.541 Dörfer unter den Wasserspiegel geraten. Über 800 kulturhistorische Stätten, darunter 5.000 Jahre alte Grabstätten, sind dem Untergang geweiht. Das Yangtse-Projekt ist Chinas teuerste Infrastrukturmaßnahme aller Zeiten. Selbst in höchsten Politikerkreisen ist das Monstervorhaben nicht mehr unumstritten: Premierminister Zhu Rongji kritisiert offen die Vorbereitungen für die Umsiedlung von über einer Million Bauern und Bäuerinnen, die vielfach hangaufwärts neu beginnen sollten. Wie kann man auf Land mit Neigungen von über 25 Prozent anbauen, was zudem die Erosion weiter verstärken würde?

Die Korruptionsskandale häufen sich, mit Vorwürfen gegen Baufirmen und Regionalpolitiker wird nicht länger hinterm Berg gehalten: eine Offenheit, die verblüfft. Über hundert Funktionäre wurden bisher bestraft; Arbeiter haben seit Monaten kein Geld gesehen, während staatliche Subventionen etwa für obligatorische Umsiedlungsprogramme buchstäblich versickern. Selbst offiziell wird die Veruntreuung von Milliardenbeträgen nicht länger bestritten: Da ist Dai Lansheng, ein Topmanager der „Three Gorges Industrial Company“, der über Mittelsmänner in Hongkong Hunderte ausrangierte US-Trucks und Bulldozer statt neuer Geräte kaufte und sich den Profit behielt. Quiao Shengxiang, Leiter der Gezhouba Corporation, brauchte für den Bau des Gezhouba-Damms (ein Hilfsdamm) viermal so viel Zeit und Geld wie veranschlagt. Die ominöse Three Gorges Economic Development Corporation, mittlerweile auch offiziell bankrott, stand in ihrer Blütezeit 160 Tochterfirmen vor, beschäftigte allein in der Konzernzentrale in Peking 500 Personen und lebte von ihren heißen Drähten zum Politbüro.

Die Formel war einfach: Das Drei-Schluchten-Projekt liegt im nationalen Interesse, ein Beweis für die Überlegenheit des Sozialismus, „die Menschen zu Großtaten anzuleiten“, wie Präsident Jiang Zemin zu betonen wusste. Kritik daran ist Kritik an der Sache und Kritik an der Kommunistischen Partei, also zumindest Nestbeschmutzung, wenn nicht Hochverrat.

Die Kosten explodieren jedenfalls: Aus den projektierten 190 Mrd. US-Dollar sind bereits jetzt vorsichtig geschätzte 410 Mrd. geworden. „Der Damm ist ein schwarzes Loch, nicht mehr“, sagt die Journalistin Dai Quing, die als schärfste innerchinesische Kritikerin des Projektes gilt.

Sanxia Goncheng, das chinesische Drei-Schluchten-Projekt, ist zum Synonym für Größenwahn und Machtbewusstsein geworden. Der Yangtse ist der drittlängste Strom der Welt und Lebensader für ein Drittel der 1,2-Mrd.-Bevölkerung. Der „goldene Wasserweg“ verbindet seit jeher den rohstoffreichen Westen mit dem reichen Osten, 6.300 km vom Tibetischen Hochplateau bis zur Mündung im Großraum Shanghai. Mehr als 30 Industriestädte finden sich an seinen Ufern, davon die Hälfte der Top-Wirtschaftszentren des gesamten Landes. 70 Prozent der chinesischen Binnenschifffahrt erfolgt am Fluss der Flüsse, der ein Viertel des Agrarraumes bewässert – oder unter Wasser setzen kann.

Hochwasserschutz war nötig, keine Frage: Hunderttausende Menschen sind in den letzten Jahrzehnten Flutkatastrophen zum Opfer gefallen. Die Schiffbarkeit des Stromes war innerhalb des 200-km-Schluchtenabschnitts, wo Stromschnellen und Untiefen seit Jahrhunderten Lebensgefahr bedeuteten, ohnedies immer prekär – hochseetauglichen Schiffen bis zu 10.000 Tonnen steht der Weg nach Chongquing demnächst offen, auch wenn der lange Anstieg über fünf Megaschleusen insgesamt wenig Zeitgewinn bringen wird.

Ungeachtet der sozialen Folgen gilt das Projekt als ökologische Katastrophe, nicht zuletzt für ohnedies vom Aussterben bedrohte Tierarten wie den chinesischen Alligator und den weißen Yangtse-Delphin. „Die Überflutung von 1.600 Fabriken durch den geplanten Stausee dürfte die Belastung des Flusses mit giftigen Abfällen wie Quecksilber massiv verstärken. Die abnehmende Fließgeschwindigkeit wird zudem dazu führen, dass der Fluss schon die Verschmutzung aus den bestehenden Quellen nicht mehr verarbeiten kann“, betont die Entwicklungs-NGO Erklärung von Bern.

Der Megadamm wächst und wächst, am Fuß der Drei Schluchten bei Sandouping, 1.829 km vor der Mündung in das Ostchinesische Meer. 2.000 m lang, 185 m hoch, ein Rückstaubecken von 600 km Länge – das zweitgrößte der Welt nach dem des Volta-Stausees im westafrikanischen Ghana. 26 Turbinen leisten im Endausbau 85 Mio. Kilowattstunden pro Jahr, die die Schadstoffemissionen von jährlich 50 Mio. t Kohle einsparen sollten.

Seit der Gründung der Volksrepublik China spukte die Idee zu dem Staudamm in regelmäßigen Abständen durch die Köpfe. 10.000 Forscher wurden mit Machbarkeitsstudien beauftragt, ab 1986 in Form eines kanadisch-chinesischen Joint Ventures. Von 400 ausgewählten Experten verweigerten nur zehn die Unterschrift unter das Machbarkeitsdokument. Massenproteste, die sich gegen das Megaprojekt regten, wurden im Zuge der Tiananmen-Massaker niedergeschlagen, die kurze Epoche der liberalen Öffnung war brutal beendet. Dennoch verabschiedete der Volkskongress das Projekt 1992 nur mit einer hauchdünnen Mehrheit. Euphorie allenthalben, trotz seiner ökologischen und sozialen Fragwürdigkeit. „Die ausländischen Regierungen und Baufirmen waren sich der kommenden Probleme voll bewusst, entschlossen sich aber dennoch zum destruktivsten Projekt aller Zeiten“, lässt Dai kein gutes Haar am internationalen Kapital. Allein der Wert der Generatoren und Turbinen von Siemens und der Britisch-Französischen GEC Alsthom ging in die Milliarden Dollar. Die USA verhalten sich offiziell neutral, auch wenn einige amerikanische Bankkonzerne (Goldman, Sachs & Co, CS First Boston) indirekt beteiligt sind; auch die Weltbank – traditionell erste Adresse bei der Finanzierung von Dammprojekten in der Dritten Welt – hat ihre anfängliche Unterstützung mittlerweile zurückgezogen.

Info: International Rivers Network: threegorges@irn.org

Erklärung von Bern: www.evb.ch/china2.htm

Günter Spreitzhofer ist Geograph in Wien und begab sich kürzlich in die Schluchten des Yangtse.

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