ťEs war und ist eine KatastropheŤ

Von Fritz Edlinger · · 2001/07

Wie kann eine Gesundheitsversorgung im Kriegszustand funktionieren? Wie kann überhaupt ein ganzes Volk im Belagerungszustand überleben? Fritz Edlinger sprach für den Südwind mit dem kürzlich von der WHO stellvertretend für seine Organisation ausgezeichneten palästinensischen Arzt Mustafa Barghouthi.

SÜDWIND: Ihre Organisation, die „Union of Palestinian Medical Relief Committees“ (UPMRC), hat vor wenigen Tagen den Health Foundation Prize 2001 der Weltgesundheitsorganisation erhalten. Wir möchten Ihnen zu dieser Auszeichnung herzlich gratulieren und Sie ersuchen, die Arbeit Ihrer Organisation zu beschreiben.

MUSTAFA BARGHOUTHI: UPMRC wurde 1979 als Freiwilligenorganisation von Ärzten und Gesundheitspersonal gegründet, um die Gesundheitsversorgung in den von Israel besetzten Gebieten zu verbessern. Wir konzentrierten uns von Anfang an auf die basismedizinische Versorgung der Bevölkerung in abgelegenen ländlichen Gebieten und in Flüchtlingslagern. Die Anfangsjahre waren von mobilen, sehr behelfsmäßig ausgestatteten Ordinationen bestimmt. Ein Mutter-Kind-Programm war wesentlicher Bestandteil unseres Angebots, weiters konzentrierten wir uns neben der medizinischen Akut-Betreuung auch auf Gesundheitserziehung und Maßnahmen der Vorbeugung.

Einen weiteren wichtigen Arbeitsschwerpunkt stellte bereits frühzeitig die Ausbildung bzw. das weitere Training von zumeist weiblichen Gesundheitsarbeitern dar. Dafür gründeten wir 1984 eine eigene „School of Community Health“. Wir wollten damit die große Bedeutung einer basisorientierten, auf die lokalen Bedürfnisse maßgeschneiderten Gesundheitsversorgung betonen. Diese wird in der herkömmlichen Ausbildung von Ärzten und anderem Gesundheitspersonal leider viel zu wenig beachtet. Dieses Ausbildungsprogramm wurde nach Bildung der Palästinensischen Autonomieverwaltung (PNA) vom neu geschaffenen Gesundheitsministerium anerkannt und in den Nationalen Gesundheitsplan Palästinas integriert.

Wie umfangreich ist das Programm von UPMRC derzeit?

UPMRC hat in den letzten Jahren seine Tätigkeitsbereiche wesentlich ausgeweitet. Inzwischen bieten wir auch eine systematische und praktische Ausbildung für Ärzte im Bereich der Basisgesundheitsversorgung (Primary Health Care) an. Dieses Angebot richtet sich vor allem an im Ausland ausgebildete palästinensische Ärzte, die – wie bereits erwähnt – kaum Erfahrungen auf diesem Gebiet haben. Dies hat unserer Organisation eine breite internationale Anerkennung gebracht, die WHO setzt zunehmend MitarbeiterInnen von UPMRC als internationale Experten ein.

Wir betreiben derzeit 25 Basisgesundheitskliniken und sieben spezialisierte Gesundheitszentren. Die Kliniken versorgen rund 400 ländliche Gemeinschaften, die oft nur einen äußerst schwierigen Zugang zu medizinischer Betreuung haben. Ihr Angebot konzentriert sich in erster Linie auf basismedizinische Betreuung und Vorsorgemedizin.

Inwieweit ist die Tätigkeit von Medical Relief von den Ereignissen der vergangenen Monate betroffen? Wie stellen Sie sich auf diese neuen Herausforderungen ein?

Die Ereignisse seit Ende September des Vorjahres haben nicht nur das palästinensische Gesundheitswesen, sondern unsere gesamte Gesellschaft vor eine kaum vorstellbare Belastungsprobe gestellt. Alleine auf palästinensischer Seite hatten wir 510 Tote und rund 22.000 Verletzte zu verzeichnen, von den Verletzten dieser wenigen Monate werden rund 2.000 dauerhaft behindert bleiben. Dies sind rund 0,5% der gesamten Bevölkerung. Es war und ist eine Katastrophe. Würde man diese Zahlen auf die Verhältnisse in den USA umlegen, so würde dies 45.000 Tote und zwei Millionen Verletzte bedeuten, mehr als die USA im gesamten Vietnamkrieg zu verzeichnen gehabt haben. Kein nationales Gesundheitswesen könnte mit einer derartigen Situation fertig werden.

Wie sind Sie vorgegangen?

Wir waren auf diese extreme Ausnahmesituation insofern relativ gut vorbereitet, als wir bereits vor rund zwei Jahren mit dem Aufbau eines umfassenden Erste-Hilfe-Programmes begonnen haben, bei dessen Anfängen uns übrigens auch Österreich geholfen hat. Das Kernstück dieses Programmes ist ein Team von jungen freiwilligen HelferInnen, die von uns eine Grundausbildung in Erster Hilfe erhalten haben. Bis heute konnten wir rund 17.000 Leute ausbilden, welche in den vergangenen Monaten Unglaubliches geleistet haben.

Unmittelbar nach Ausbruch der Unruhen Ende September haben wir weiters einige mobile Kliniken ausgestattet, die vor allem in ländlichen Gegenden und bei unmittelbaren Konfrontationen zum Einsatz kommen. Bis heute haben diese Kliniken 440 Einsatztage hinter sich, in denen etwa 50.000 Behandlungen durchgeführt worden sind.

Seid ihr denn bei eurer Arbeit nicht persönlich gefährdet?

Die israelische Armee nimmt kaum Rücksicht auf medizinisches Personal. Alleine von unseren MitarbeiterInnen wurden in den vergangenen sieben Monaten 42 verletzt, zum Teil sehr schwer. Andere medizinische Organisationen hatten sogar Tote zu beklagen und zwar genau vier. Ambulanzen wurden regelmäßig beschossen, manche Kliniken beschädigt, einige sogar zerstört. Israel führt im wahrsten Sinne des Wortes Krieg gegen das gesamte palästinensische Volk. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass von den Toten auf palästinensischer Seite 90% Zivilisten waren und 61% in Situationen fernab von irgendwelchen Auseinandersetzungen getötet worden sind, also in ihren eigenen Häusern, auf dem Feld arbeitend oder sonst wo.

Wie sieht die soziale und wirtschaftliche Lage derzeit in Palästina aus?

Diese ist ebenso katastrophal. Mit rund 300.000 Arbeitslosen beträgt die Arbeitslosenrate 56%. Nach Schätzungen der UNO betrug der Verlust der gesamten palästinensischen Wirtschaft im Zeitraum Anfang Oktober 2000 bis Ende Jänner 2001 rund 1,15 Milliarden US-Dollar, das sind 20% des prognostizierten Bruttosozialproduktes für 2001!

Die israelische Armee hat zwischen Ende September des Vorjahres und Anfang Mai rund 4000 Wohnungen, darunter 328 Bauernhäuser, zerstört, weiters 29 Geflügelfarmen, 30 Moscheen und 12 Kirchen. Durch die Operationen der israelischen Armee wurden 4000 Familien aus ihren angestammten Wohnungen vertrieben. Darüber hinaus wurde ein beträchtlicher Teil der Infrastruktur zerstört, wie Straßen. Man schätzt, dass rund 25% sämtlicher Straßen völlig oder weitgehend unbrauchbar sind. Des weiteren wurden Wasserversorgungsanlagen und Ähnliches zerstört, darunter alleine 108 Brunnen. Die Landwirtschaft wurde durch Landbesetzungen, willkürliche Zerstörung von Ackerland und Pflanzen auf das Schwerste geschädigt. Schließlich wurde Land für den Bau weiterer israelischer Siedlungen konfisziert.

Und noch etwas sei erwähnt: Durch den permanenten Ausnahmezustand ist der regelmäßige Schulbesuch für unsere SchülerInnen und StudentInnen seit über einem halben Jahr kaum mehr möglich. Man schätzt, dass etwa 40.000 junge Menschen davon betroffen sind. Ich könnte noch viele weitere Details erwähnen, welche die unerträgliche Situation, unter der wir zu leben gezwungen sind, illustrieren.

Was ist eigentlich das Ziel des Aufstands der Bevölkerung?

Angesichts der hoffnungslosen Lebenssituation und der täglichen Demütigungen durch die israelischen Besatzungssoldaten und die in unseren Gebieten lebenden Siedler ist es weiter nicht verwunderlich, dass sich unser Volk zur Wehr setzt. Die überwiegende Mehrheit tut dies mit friedlichen und gewaltlosen Mitteln. Ich bedaure sehr, dass dies bei vielen Berichten, welche die palästinensische Seite in erster Linie als steinewerfende Jugendliche porträtieren, nicht ausreichend erwähnt wird.

Für uns geht es nahezu elf Jahre nach dem hoffnungsvollen Beginn des so genannten Friedensprozesses nun nicht mehr darum, eine fragwürdige, von Israel kontrollierte Autonomie zu erreichen, uns geht es um Unabhängigkeit, um einen selbständigen palästinensischen Staat innerhalb jener Grenzen, welche vor dem Sechstagekrieg im Juni 1967 bestanden haben. Dies bedeutet, dass wir ohnedies auf 78% unserer traditionellen Heimat zugunsten des Staates Israel zu verzichten bereit sind. Weitere Verzichte kann niemand von uns verlangen.


Zur Person

Dr. Mustafa Barghouthi, ausgebildeter Arzt und Ökonom, ist Präsident der „Union of Palestinian Medical Relief Committees“ und Direktor des in Ramallah ansässigen „Health Development Information and Policy Institute“. Er ist darüber hinaus einer der führenden Vertreter der Zivilgesellschaft in Palästina und hat zahlreiche Publikationen über gesundheitspolitische, soziale und politische Themen veröffentlicht. Er besuchte vor kurzem auf Einladung der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit Wien.


Gesundheit und Gesellschaft

Die Österreichische Entwicklungszusammenarbeit unterstützt die Basis-Gesundheitsarbeit der Union of Palestinian Medical Relief Committees (UPMRC)

Das Ziel der 1979 gegründeten Union of Palestinian Medical Relief Committees (UPMRC) heißt: Gesundheit für alle. Erreicht werden soll es durch die Verbindung der medizinischen Akut-Versorgung mit Gesundheitserziehung und präventiven Maßnahmen. Statt der rein medizinischen Behandlung wird Hilfe zur Selbsthilfe geboten.

So wurden u.a. seit 1984 137 Frauen als „Village Health Worker“ ausgebildet. Von den Gemeinden und Gruppen, die von UPMRC basismedizinisch versorgt werden, wird ein aktives Engagement für gesellschaftliche Belange gefordert. Durch Freiwilligenarbeit werden z.B. Kinder und Behinderte betreut oder Maßnahmen zum Schutz der Umwelt gesetzt.

Mit der seit Ende September des Vorjahres andauernden Intifada und den folgenden Repressalien Israels schlitterte das palästinensische Gesundheitssystem in eine schwere Krise. Nichtstaatliche Organisationen wie UPMRC tragen wieder die Hauptlast der basismedizinischen Versorgung.

Die Österreichische Entwicklungszusammenarbeit unterstützte die UPMRC seit 1988 mit bisher insgesamt ca. 25 Mio. öS. Seit Jahresbeginn 2001 wird der Aufbau eines Zentrums für chronische Krankheiten unterstützt. Dadurch soll eine Lücke in der medizinischen Versorgung, die sich vor allem durch das – von politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit verursachte – hohe Stresspotenzial ergibt, geschlossen werden.

Mit der Förderung dieser Organisation will Österreich dazu beitragen, durch systematische Präventionsmaßnahmen und Gesundheitserziehung eine Umorientierung der palästinensischen Gesundheitspolitik in Richtung Vorsorgemedizin in Gang zu setzen.

Insgesamt hatte die Entwicklungszusammenarbeit Österreichs mit den Autonomen Palästinensischen Gebieten im Jahre 2000 ein Volumen von 45 Mio. Schilling; für heuer wird mit einer ähnlichen Größenordnung gerechnet.

Das seit 1998 bestehende österreichische Vertretungsbüro in Ramallah bemüht sich, die laufenden Projekte weiterzuführen oder so zu gestalten, dass sie später ohne Schaden weitergeführt werden können.

Stefan Kerl

Fritz Edlinger ist Generalsekretär der „Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen“ und Herausgeber der Zeitschrift INTERNATIONAL.

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