Europa und der Maghreb – Ein vergessenes Universum

Von Walter Schicho · · 2003/07

Europa und die südlichen Mittelmeeranrainer verbindet eine gemeinsame Geschichte. Die „Trennung“ durch das Meer ist eine Entwicklung der jüngeren Vergangenheit.

Die Römer nannten es mare nostrum, „unser Meer“. In der Tat gehörte ihnen nicht nur das Meer, sondern alles, was es umschloss, die ganze damalige Welt. Mare mediterráneo, ein „Binnenmeer“ wurde daraus in den romanischen Sprachen. Das Mittelmeer verband die einzelnen Teile der alten Welt, trennte sie nicht; erst jenseits der angrenzenden Länder begann das Unbekannte, Andere. „Vom geschichtlichen Mittelmeer sprechen“, so meinte der französische Historiker Fernand Braudel, „heißt, ihm seine wirklichen Ausmaße wiedergeben, sich ein Bild von seiner gewaltigen Ausdehnung machen. Damals war es ein Universum für sich, ein Planet“. Mit dem Römischen Reich verbreitete sich eine dominante Kultur: Die Bauwerke und Ruinen von Marokko bis Kleinasien sind noch heute ein deutlicher Beleg. Dann kam das Christentum, später der Islam. Im 11. Jahrhundert unterwarf die berberische Dynastie der Almoraviden von Mauretanien aus Marokko und die iberische Halbinsel. Die Türken zogen im 16. und 17. Jahrhundert bis vor Wien und bekehrten den Balkan, und im Süden unterwarfen sie alle Länder bis auf Marokko.
Jahrhundertelang führten die aufstrebenden europäischen Mächte ihre „Kreuzzüge“: eine als Religionskriege getarnte wirtschaftliche Expansion mit zweifelhaftem Erfolg.
Vom 16. bis ins 19. Jahrhundert betrieben Korsaren von Tripolis, Tunis und Algier aus einen Kaperkrieg gegen die Handelsschifffahrt der italienischen und französischen Handelsstädte und gegen die Kauffahrer aus Westeuropa. Die Dänen erkauften sich 1747 den Frieden mit Algier und den Schutz vor Überfällen auf ihre Schiffe. Die „christlichen“ Kaperfahrer standen im übrigen den muslimischen hinsichtlich Raubgier und Gewaltbereitschaft nicht nach.

„Seit Jahrtausenden strömt hier alles zusammen“, schreibt Fernand Braudel, „wirbelt die Geschichte durcheinander und bereichert sie: Menschen, Lasttiere, Wagen, Waren, Schiffe, Ideen, Religionen, Lebenspraktiken. Und Pflanzen. Man glaubt es seien Mittelmeergewächse. Aber abgesehen vom Ölbaum, vom Wein und vom Getreide […] stammen die meisten aus fernen Gegenden“.
Die Städte und ihre BewohnerInnen (zumindest die Oberschicht) nutzten Macht, Reichtum und Fortschritt; die überwiegende Mehrheit der Menschen lebte jedoch auf dem Land, Hunger, Seuchen, Kriegen und Naturkatastrophen weitgehend schutzlos ausgeliefert. Am Rande dieser Gesellschaften, im Norden wie im Süden, die Hirten und andere Nomaden, verachtet, und doch auch wieder gefürchtet.
Die Bevölkerung des Mittelmeeraums zeigt bis heute über alle kulturellen Grenzen hinweg gemeinsame soziale und wirtschaftliche Merkmale.
In den Städten Nordafrikas entstand über die Jahrhunderte eine multikulturelle Gesellschaft: unter den etwa 120.000 EinwohnerInnen von Tunis Mitte des 18. Jahrhunderts wohnten neben Arabern, Berbern und Türken andalusische Moslems und jüdische Migranten aus Europa, Fischer, Handwerker und Taglöhner aus Sizilien, Neapel und Malta, Söldner aus Korsika und Albanien, französische und britische Handelsagenten. Gut ein Zehntel der EinwohnerInnen waren christliche SklavInnen.
In Wien wiederum benannte man die Marokkanergasse nach einer Delegation, die 1782 nach Österreich gekommen war, um Freundschafts- und Handelsverträge abzuschliessen. Die Beziehungen zwischen den Gesellschaften und mächtigen Akteuren der mediterranen Welt waren vielfältig: Verbreitung von Wissen, kultureller Transfer, Austausch von Gütern, Sklaverei, brutale Gewalt; aber sie war auf ihre Art im Gleichgewicht.

Als Ende des 18. Jahrhunderts Frankreichs Dritter Stand gegen König und Kirche rebellierte und die absoluten Monarchien Europas alles daran setzten, der Französischen Revolution ein rasches Ende zu bereiten, bekam die Republik Unterstützung aus Algier: algerische Kredite, zinsenlos, halfen Frankreich, den Krieg gegen alle siegreich zu beenden. 1798 versuchte Napoleon, Ägypten zu erobern, um den Briten den Weg nach Indien abzuschneiden; algerische Händler versorgten ihn mit Getreide. Napoleon misslang die Eroberung der Levante, wodurch er die neue Weltmacht Großbritannien ernsthaft in ihrem Aufstieg gehemmt hätte – und er blieb die Bezahlung der Lieferungen an sein Heer schuldig.
Die Entstehung eines kapitalistischen Weltsystems mit dem Zentrum in Westeuropa brachte den Mittelmeerraum um seine Bedeutung. Aus einem Wechselspiel der Mächte und einer Interdependenz der Gesellschaften wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer deutlicher eine Kontrolle des Nordens über den Süden, der imperialistischen Staaten über die Staaten der wirtschaftlichen Peripherie.
Die Zeit der Korsaren war zu Ende, als Briten und Franzosen 1825 die Flotte Algeriens vernichteten; Österreich beteiligte sich an der Disziplinierung der damaligen „Schurkenstaaten“, indem es 1829 den marokkanischen Hafen El Araisch bombardierte. Algeriens Versuch andererseits, Frankreich zur Bezahlung seiner Schulden zu bewegen, endete 1827 mit einem Eklat; die vorgebliche Beleidigung ihres Konsuls nahmen die Franzosen zum Anlass, Algier anzugreifen und in einem langen, brutalen Kolonialkrieg zu besetzen. Die Bevölkerung Algeriens, etwa 3 Mio. zu Beginn der Eroberung, betrug 1876 nur noch 2,46 Mio. Der Widerstand gegen die Kolonialmacht war selbst dann noch nicht zu Ende. Er dauerte, wie in Marokko, wo Frankreich 1912 das „Protektorat“ übernahm, und in Libyen, das die Italiener 1911 zu erobern begannen, bis Anfang der 1930er Jahre. Die Kolonisierung Afrikas war nahezu überall mit Gewalt verbunden: in Nordafrika waren koloniale Gewalt und antikolonialer Widerstand besonders ausgeprägt.

1779 noch hatte Gotthold E. Lessing in seinem Theaterstück Nathan der Weise mit der Ringparabel ein aufgeklärtes Plädoyer für die Gleichwertigkeit der Religionen (und Kulturen) formuliert. 1794 hatte die Französische Revolution das Ende der Sklaverei und das „Bürgerrecht für alle“ verkündet. Napoleon führte die Sklaverei wieder ein. Die Konstruktion „des Anderen“, des „minderwertigen kolonialen Subjekts“ war eine notwendige Voraussetzung für die wirtschaftliche und politische Kolonisierung Afrikas. Vor allem dort, wo, wie in Algerien, eine große Zahl von Siedlern ins Land kam, wirkte sich der koloniale Rassismus ganz heftig aus.
Wirksamer als die militärische Kolonisierung waren zweifellos zwei andere Formen: die Schaffung wirtschaftlicher Abhängigkeit und die „Kolonisierung der Hirne“. In Marokko, Tunesien und Ägypten bestimmten noch vor den Offizieren die Vertreter europäischer Banken, bei denen sich die einheimischen Regierungen hoch verschuldet hatten, wichtige Aspekte der lokalen Politik. Umschuldungen, Reparationszahlungen nach lokalen Kriegen oder Aufständen, Rüstungsausgaben und Wirtschaftsabkommen zum Vorteil der europäischen Firmen verschärften die Abhängigkeit bis zur direkten Übernahme der Kontrolle durch koloniale Autoritäten. Ein Teil der Oberschicht erkannte, dass eine Zusammenarbeit mit der Kolonialmacht den eigenen Interessen diente; ein anderer Teil der Bevölkerung assimilierte sich, übernahm Sprache und Denkweise der Metropole und wurde dafür mit einer sozial bevorzugten Position belohnt, kaum jedoch mit der angestrebten Gleichstellung mit den Bürgern des „Mutterlandes“. Die koloniale Politik schuf neue Grenzen oder verbreiterte bestehende Gräben: Berber gegen Araber, Stadt- gegen Landbevölkerung, Juden gegen Moslems und Christen, Besitzende gegen jene, die nicht mehr als die eigene Arbeitskraft hatten.

Die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede verschärften sich in der kolonialen Periode gewaltig. Der Islam, einst das einigende Band der sonst sehr unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, wurde immer deutlicher zum Merkmal der Rückständigkeit und Ausgrenzung, und als Konsequenz zu einem Raum, in dem sich fundamentalistische Tendenzen gemeinsam mit antikolonialen und antiwestlichen Einstellungen bildeten.
Die kolonialen Mächte, zu denen nach dem Zweiten Weltkrieg auch noch die USA ihren Einfluss immer stärker geltend machten, waren nicht bereit, die Asymmetrie der Beziehungen zur Diskussion zu stellen oder gar zu beseitigen. Solange es gegen den wachsenden Widerstand der antikolonialen Bewegungen möglich war, wurde die direkte Herrschaft aufrecht erhalten. Besonders heftig und brutal war die Auseinandersetzung in Algerien, wo eine Million SiedlerInnen in Algerien und der Großteil der 40 Mio. Franzosen zuhause an ein Ende der „Assimilation“ nicht denken wollten. Ägypten verwies 1956 mit der Enteignung des Suezkanals durch Abdel Nasser Großbritannien und Frankreich endgültig des Landes – nur um anschließend unter die Kontrolle der Supermächte UdSSR und dann der USA zu fallen.
Nach dem Ende der kolonialen kam die neokoloniale Herrschaft: Libyens Versuch, auszubrechen, verschaffte seinem Führer Muammar Kaddafi das Image eines Bösewichts oder bestenfalls eines Phantasten.
Die Europäische Gemeinschaft/ Union nahm die Mittelmeeranrainerstaaten immerhin anders wahr als die sonstigen „Entwicklungsstaaten“. Ist dies ein Zeichen für einen neuen, veränderten Beziehungsansatz? Das bleibt zu hoffen, im Interesse des Mittelmeerraums und der eurafrikanischen Gemeinschaft, denen wir uns auch in Zukunft nicht entziehen werden können.

Walter Schicho ist Professor für Afrikanistik an der Universität Wien.

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