Ferien vom stillen Krieg

Von Andrea Maurer · · 1999/09

Eine Gruppe von Flüchtlingskindern aus der Westsahara kam für fünf Wochen nach Österreich – und erlebte hier viele schöne und für beide Seiten fruchtbare Begegnungen. Von dem Aufenthalt in Salzburg berichtet

Das Bild, das ich mir für unseren ersten Tag „Ferien vom stillen Krieg“ entworfen hatte, entspricht nicht so ganz der Realität. Statt gemeinsam, wie geplant, beim Erdäpfeldruck zu sitzen, bevölkern die saharauischen Kinder den gesamten Bauernhof. Wer etwas Fahrbares ergattert hat, befindet sich im Geschwindigkeitsrausch.Salah hat augenscheinlich erst heute Radfahren gelernt. Haarscharf manövriert er ein Mountainbike an einem parkenden Auto vorbei und rast den Abhang hinunter. Salamou, ein Meister der Kollision, ist auf einen Plastiktraktor verbannt worden. Drei Kreuze und ein Inschallah sind das einzige, was man dieser Ausgelassenheit entgegensetzen kann.

Mit einer Entschuldigung auf den Lippen nähere ich mich den Gastgebern, doch bei Bauer Norbert Strasser wäre diese fehl am Platz: Die Begrüßung ist herzlich, für ihn ist es selbstverständlich, daß Kinder sich austoben.

Erleichtert setze ich mich an den langen Holztisch, auf dem sich Köstlichkeiten türmen. Salek Seghir Radhi, Repräsentant der Polisario in Österreich, und seine Frau Minetou fühlen sich bereits wie zuhause. Die bäuerliche Umgebung hat die Nomadenseele geweckt. „Eine Kuh liefert rund sieben Liter mehr Milch als ein Kamel“, lautet die aktuelle Rechnung. Angesichts dieses Überflusses hat Abid-elaziz keine Scheu, nach Herzenslust davon zu trinken, denn in den Flüchtlingslagern gibt es nur wenig frische Milch.

„Am Abend, wenn es bei uns nicht mehr so heiß ist“, erzählt er, „gehe ich die Ziegen füttern. Aber Gras haben wir keines. Bei uns bekommen die Tiere Abfall“.

In dem trostlosen Stück südwest-algerischer Wüste, wo die riesigen Flüchtlingslager angesiedelt sind, bietet die spärliche Vegetation nicht genügend Futter für Kamelwirtschaft.

Den ca. 180.000 Saharauis gelingt es nur durch internationale Hilfe und die ausgeklügelte Organisation der Polisario, in dieser lebensfeindlichen Umgebung zu existieren. In den 23 Jahren ihres Widerstandes gegen den marokkanischen Aggressor haben sie dem steinigen Sand Gärten abgerungen. So erhalten wenigstens Schwangere, Kranke und Kinder ein Minimum an Vitaminen.

Kein Wunder, daß Elallia schon zum dritten Mal ihren Teller mit knusprigem Huhn anhäuft. „Schweinefleisch dürfen wir nicht kochen“, hatte die 13jährige Tochter des Hauses bereits vor Wochen verkündet. Die Saharauis seien nämlich Moslems. „Bernadette ist die eigentliche Gastgeberin“, erklärt mir Mutter Rosi Strasser, „die Einladung war allein ihre Idee“.

Mit einer so selbstverständlichen Großzügigkeit hatte ich in unseren Breitengraden nicht gerechnet. Obwohl sich die angekündigte Zahl von zehn Kindern plus Betreuer längst verdoppelt hat, wird auch während der kommenden Tage keiner unserer Gastgeber der vielgerühmten saharauischen Gastfreundschaft nachstehen. Am Ende der Woche bin ich um ein Vorurteil ärmer.

Längst haben wir das Ausmaß einer Minikarawane erreicht. In weißer Schutzkleidung, die Hände der vielen freiwilligen Betreuer fest umklammernd, erkunden die Saharauis die geheimnisvolle Welt des Dürrnberger Salzbergwerks. Ob Angst oder Neugier die Oberhand gewinnt, liegt noch in der Schwebe. Erst als die Kinder den ersten Salzstein kosten dürfen, sind die Würfel gefallen. Noch größer ist die Begeisterung, als unser Führer an einem Grenzstein stoppen läßt: „Ab jetzt seid ihr eine halbe Stunde lang in Deutschland, genaugenommen in Bayern“, erklärt er verschmitzt.

Die heimliche Einwanderung, ein Grenzübertritt, der nicht durch Militär kontrolliert wird, imponiert den Kindern besonders. Keltum, die einen elf-monatigen Genesungsaufenthalt in Österreich hinter sich hat, schildert in nahezu perfektem Deutsch: „Weißt du, wenn wir nach Tindouf fahren, dann müssen wir erst bei unseren Soldaten haltmachen und dann bei den algerischen. Die haben immer große Gewehre umhängen“.

Die einstige Karawanenstadt Tindouf ist heute algerische Militärbasis. Im Umkreis der Lager ist sie der einzige Zugang zu moderner Zivilisation.

Keltum ist als Dolmetscherin entwischt und drückt ihre Nase an einen Schaukasten, der Salzabbau zu Zeiten der Kelten veranschaulicht. „Und wo sind die Frauen?“ lautet ihre erste Frage angesichts frühzeitlicher Geschichte in Mitteleuropa. Die Erklärung, daß die Arbeit unter Tage Männersache sei, scheint ihr nicht einzuleuchten.

Während der langen Jahre des Befreiungskampfes nahmen die saharauischen Frauen sowohl politisch als auch in der Organisation der Lager führende Positionen ein. Seitdem Waffenstillstand herrscht, sind viele der Männer in die Lager zurückgekehrt, was den offiziellen Einflußbereich der Frauen zwar nicht eliminierte, aber doch wieder einschränkte.

Schließlich entdeckt Keltum in einem anderen Schaukasten eine Priesterin und zeigt sich zufrieden.

Petra Ostermann vom Verein Steiermark schmunzelt, als ich ihr diese Anekdote am Telefon erzähle. Unser Austausch ist regelmäßig, denn die Aktion „Ferien von stillen Krieg“ ist eine Initiative des jungen Vereins. Einige der Mitglieder waren selbst in den Lagern. Aus Betroffenheit beschlossen sie, zehn Kinder zur Erholung drei Wochen lang in die Steiermark einzuladen. Daß diese Idee nicht nur auf Befürworter stieß, wurde bald offensichtlich: „Erst holt ihr die Kinder ins Paradies, und dann müssen sie wieder zurück ins Elend“, war ein häufiger Kritikpunkt.

Erliegt man dem Irrglauben westlicher Wirtschaftssysteme, Paradies bedeute ein Maximum an materiellem Wohlstand, so mag dieser Vorwurf zutreffen. Doch eines wird während des Ferienaufenthaltes mehr als deutlich: Menschliche Kontakte sind für die Saharauis das Wesentliche. Die Bindung an die eigene Familie ist durch nichts zu ersetzen.

Die Kinder nehmen nicht nur, sie geben auch. Im Kräutergarten des Bergbauernhofs haben die Saharauis Minze entdeckt. Der vertraute Geruch weckt das Verlangen nach „eigener“ Musik. Es folgt, was folgen muß: die erste arabische Tanzstunde für alle verfügbaren neuen Freunde.

Die Mädchen strahlen, kaum haben sie den Melchfor, die traditionelle Bekleidung der saharauischen Frauen angelegt, eine erwachsene Würde aus. Natürlich gelingt es den österreichischenen Anfängern nur ansatzweise, die stolze Mimik, die grazilen Bewegungen der Hände nachzuahmen. Doch die Saharauis honorieren jeden noch so kleinen Fortschritt mit Beifall.

Wenig später gilt alle Aufmerksamkeit dem Brief einer Schulklasse des Perau-Gymnasiums in Villach: „Wir finden es eine Gemeinheit, daß Soldaten einfach Euer Land erobert haben“, lauten die ersten Zeilen. Die SchülerInnen hatten für die Saharauis nicht nur 3.000 Schilling gespendet, sondern auch Collagen angefertigt. Auf die briefliche Frage der Kärntner Kinder, wie den Gästen aus der Sahara denn nun Österreich gefalle, folgt als Antwort ein wahrer Malboom.

Auf jedem Bild taucht – mehr oder minder erkennbar – ein Wasserfall auf: Der

Besuch der Kitzlochklamm hat bleibende Eindrücke hinterlassen.

In den Lagern hängt die Wasserversorgung gänzlich von einem funktionierenden Transportsystem ab. Rund 120.000 Menschen werden von einer Quelle versorgt. Im Sommer sind die Tankwagen Tag und Nacht unterwegs, um den Mindestbedarf der Familien zu decken.

Doch Wassermangel ist vorerst kein Thema, denn nach Salzburg folgt eine Woche Wien. Die Donaustädter Sozial- und Entwicklungshilfe organisiert seit zehn Jahren Ferien für Flüchtlingskinder aus der Westsahara. Christine Peischl als erfahrene Gastmutter weiß, was die Kinder begeistert. Die Erfahrung hat sie gelehrt, daß weder Prater noch Zoo dem Schwimmbad den Platz als Ranglistenerster streitig machen können.

In Salzburg verbreiten inzwischen die gepackten Reisetaschen Abschiedsstimmung. Bakia sucht ihren Stein, um vor dem Abendgebet die rituelle Waschung durchzuführen. „Wenn man sich nicht mit Sand waschen kann, dann nimmt man einen Stein“, erklärt sie. Daß es im Badezimmer fließendes Wasser gibt, kommt ihr in diesem Zusammenhang nicht in den Sinn.

Ich will gerade gehen, als mich zwei Arme umfassen. Es ist Bacher. Er drückt mich fest an sich und verschwindet mit einem schelmischen „Dankeschön“ in das ungewohnte Bett auf vier Beinen – zuhause, in den Zelten, schläft jeder am Boden. Zurück bleibt das tiefe Gefühl: Und es lohnt sich doch.

Andrea Maurer ist freie Drehbuchautorin und Regisseurin. Vergangenes Jahr reiste sie für eine Dokumentation des TV-Senders Arte in die Flüchtlingslager der Saharauis.

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