Fern von Peking

Von Bettina Burke · · 2000/05

Zwischen 1949 und 1976 wurden viele ChinesInnen aus dem Osten des Landes in die Wüsten und Steppen Xinjiangs im äußersten Nordwesten verschickt. Bei den Angehörigen der dort lebenden Völker wuchs der Groll darüber, dass sie durch die chinesischen Zuwande

Li, sieben Jahre alt und zu Hause in Xinjiangs Hauptstadt Urumqi, schwärmt von der Heimatprovinz ihrer Großeltern, von Sichuan. „Dort ist es grün und man kann mehr als einmal ernten im Jahr. Wasser gibt es immer genug.“ Nie hatte sie Gelegenheit, die zweitausend Kilometer weite Reise dorthin zu machen. Aber die Erzählungen der Eltern und Großeltern genügen, um auch in ihr den Traum von der alten Heimat in Ostchina wachzuhalten. Xinjiang bleibt hingegen bis heute für viele der nach 1949 eingewanderten Chinesinnen und Chinesen und für deren Kinder und Kindeskinder ein unwirtlich erscheinendes Land, das größtenteils von Wüsten und Steppen bedeckt ist und in dem fast nur die Oasen bewohnbar sind. Es ist Teil des ehemaligen ‚Barbarenlandes‘, von dem sogar der letzte westlichste Turm der Chinesischen Mauer noch eine Tages- und Nachtreise mit der Bahn entfernt liegt.

Das Land, das vielen Chinesen jahrzehntelang fremd blieb, ist die Heimat vieler Völker, die hier seit Jahrhunderten leben. Die meisten davon sind moslemische Turkvölker, wie etwa die Uighuren, Kasachen und Kirgisen, es leben aber auch Mongolen, (moslemische) Hui-Chinesen, Tadschiken und etliche andere so genannte „nationale Minderheiten“ hier. Insgesamt sind in den Statistiken über 40 Ethnien erfasst – und das sind nur die, die von der chinesischen Regierung als solche anerkannt werden.

Die Geschichte Xinjiangs während der letzten 2000 Jahre ist geprägt durch den Wechsel zwischen Phasen unterschiedlicher Nähe zu China. Vor allem aus strategischen Überlegungen heraus war dieser Teil Zentralasiens für China immer interessant. Jedoch konnte Xinjiang, das früher auch Ost-Turkestan genannt wurde, nicht immer vom fernen Peking aus kontrolliert werden und errang immer wieder einen quasi-unabhängigen Status. Aber erst im Jahr 1949, mit der Gründung der Volksrepublik China, in die Xinjiang nun fest eingebunden wurde, begann eine Entwicklung, die die ursprünglich hier lebenden Völker zu Minderheiten im eigenen Land machte.

„Wir mussten Xinjiang und den Menschen hier helfen“, meint Li’s Mutter auf die Frage, warum ihre Eltern vor 30 Jahren aus Sichuan hierherzogen. Ihnen gleich taten es Hunderttausende andere Chinesen, die sich in diesem Teil Zentralasiens niederließen, um „das Land aufzubauen“ und gleichzeitig fest an China anzubinden. Viele dieser Umzüge waren nicht freiwillig, von der Regierung organisiert und angeordnet. Andere gingen gerne, vom Idealismus des jungen Kommunismus getrieben. Vor allem während der Kulturrevolution wurden viele junge Chinesen in die Wüste geschickt. Viele dieser Umsiedler nahmen zwei Gefühle nach Xinjiang mit und bewahren sie Jahrzehnte hindurch bis heute: das Gefühl, für Xinjiang etwas Gutes getan zu haben und das Heimweh nach dem Osten.

Über die Hilfe der Chinesen können sich viele Angehörige nationaler Minderheiten nicht recht freuen. „Die Chinesen mögen Straßen und Fabriken gebaut haben. Aber das meiste Geld, das in der Industrie gewonnen wird, geht ohnehin wieder in ihre eigene Tasche. Uns behandeln sie wie Menschen zweiter Klasse.“ Mohammed, ein Händler aus Kashgar, der westlichsten Stadt Xinjiangs, ist als Uighure zwar Angehöriger der größten Bevölkerungsgruppe Xinjiangs, aber der Abstand zu den Chinesen ist aufgrund der Zuwanderungen nur noch gering.

Seit dem Beginn der Achtzigerjahre lassen die Einwanderungen aus Ostchina nach Xinjiang zwar nach, darüber hinaus unterliegen die Chinesen in fast allen Gebieten Xinjiangs der Ein-Kind-Politik, während Angehörige nationaler Minderheiten 2 bis 3 Kinder haben dürfen. Dennoch entspannte sich das Verhältnis zwischen den Völkern nur wenig. Privater Kontakt zwischen Chinesen und Angehörigen nationaler Minderheiten ist in Xinjiang selten. Oft ist auch schon die Sprache ein Problem. Kaum ein Chinese, der seit Jahrzehnten in Xinjiang lebt, spricht auch nur in Ansätzen Uighurisch oder Kasachisch. Vor allem am Land, aber auch in der Hauptstadt Urumqi sprechen viele Angehörige nationaler Minderheiten kaum Chinesisch. Manche hatten wenig Gelegenheit, es zu lernen, andere aber einfach keine Lust.

Viele Angehörige der nationalen Minderheiten haben davor Angst, das Schicksal der Hui-Nationalität zu teilen, die durch Heiraten mit Chinesen ihre ursprüngliche Kultur praktisch vollkommen verloren haben. Die Vorfahren der Hui waren vor allem aus Persien und Arabien nach China eingewandert, assimilierten sich jedoch schnell, dass heute von ihrer Herkunft fast nur noch ihre Religion, der Islam, zeugt. Ihre Sprache, ihre Traditionen, auch ihr Aussehen sind nun chinesisch. In Xinjiang, dem Land, in dem einander fremde Völker zusammenleben, seit die Karawanen der Seidenstraße hier entlang zogen, geraten sie als „chinesische Moslems“ heute in eine oft recht unangenehme Mittlerrolle zwischen zwei Parteien, die möglichst auf Distanz gehen wollen zueinander.

Aber auch zwischen den Minderheiten herrschen Spannungen. Oft setzt sich die Arroganz vieler Chinesen gegenüber Uighuren fort in der Arroganz von Uighuren gegenüber Kasachen. Und selbst die Uighuren untereinander sind in politischer Hinsicht uneinig. „Uns fehlt ein Dalai Lama“, so fassen viele Uighuren diese Uneinigkeit verbittert zusammen und beneiden Tibet um die Fürsprecher, die es in der westlichen Welt gefunden hat.

Darüber hinaus haben viele Menschen in Xinjiang zunehmend den Eindruck, von der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas bisher zu wenig profitiert zu haben. Vor allem die geographische Lage Xinjiangs stellt sich als Hemmschuh für die ökonomische Entwicklung dar: Die Wirtschaftsregionen der chinesischen Küstenprovinzen sind fern, die Nachbarn Xinjiangs, nämlich die Mongolei, Kirgistan, Kasachstan, Tadschikistan, Afghanistan und Pakistan, stecken in politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

Während die in Xinjiang lebenden Chinesen auf die wachsende wirtschaftliche und internationale Bedeutung Chinas jedoch immerhin mit Stolz reagieren, empfinden viele Angehörige der Minderheiten eben dieses Wiedererstarken chinesischen Stolzes mehr als Bedrohung denn als Chance.

Dennoch bemüht sich die chinesische Regierung offensichtlich darum, der Entwicklung Xinjiangs eine gewisse Priorität einzuräumen. Gründe hierfür gibt es genug: Schließlich ist diese Region für ganz China nach wie vor aus sicherheitspolitischen Überlegungen heraus und als Rohstoffbasis äußerst wichtig. Vor allem aber wird radikalen islamischen und panturkischen Bewegungen von den meisten Beobachtern nur dann eine Chance in Xinjiang gegeben, wenn sich die wirtschaftliche Lage dort stark verschlechtert.

So lässt sich China die ersehnte Ruhe in Xinjiang doch einiges kosten. Vor allem in den Ausbau der bisher etwas stiefmütterlich behandelten Infrastruktur wurde in den letzten Jahren viel Geld investiert, etwa in den Bau der Bahnverbindung von der Hauptstadt Urumqi zur westlichsten Stadt Xinjiangs, nach Kashgar, womit nun eine durchgehende Bahnverbindung bis Peking besteht.

Einerseits ist es vielen Uighuren klar, dass ihr Land sich öffnen muss, um wirtschaftlich und auch ‚geistig‘ nicht vollkommen ins Hintertreffen zu geraten. Andererseits haben viele Uighuren Angst davor, dass mit der Bahn ein weiterer chinesischer Einwanderungsschub in eine Gegend Xinjiangs Einzug halten könnte, die bisher erst schwache chinesische Züge trägt. Dass diese Angst nicht nur einer uighurischen paranoiden Überempfindlichkeit entspringt, kann man aus den Plänen der chinesischen Regierung aus der jüngsten Vergangenheit erahnen:

Weit weg von Xinjiang nämlich, in Sichuan, werden im Zuge des gigantischen Baus des ‚Drei-Schluchten-Staudammes‘ die Felder und Dörfer von Hunderttausenden chinesischen Bäuerinnen und Bauern in den Fluten des Yangtse-Flusses untergehen. Auf der Suche nach einer neuen Heimat für diese Bauern wurde die Idee geboren, manche von ihnen in den Oasen um Kashgar anzusiedeln. Die dort ansässigen Uighuren wehrten sich jedoch vehement gegen die Aussicht auf neue Nachbarn. Peking sah ein, dass die Idee nicht durchsetzbar ist, und siedelt nun die Bauern in anderen Dörfern in Ostchina an.

Die Autorin ist eine freiberufliche Journalistin und lebt in Deutschland. Sie bereiste schon mehrmals den Nordwesten Chinas

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