„Für die Familie hat man immer Zeit“

Von Redaktion · · 2014/10

Was sie von Kinderziehung in Österreich halten und wie man mit Kindern anderswo umgeht, erzählten Purnima Chopra (indische Wurzeln), Pablo Rudich (in Uruguay geboren) und Susanna Gil (in Armenien geboren) Südwind-Redakteurin Nora Holzmann.

Südwind-Magazin: Eure Kinder wachsen alle in Österreich auf, ihr seid zum Teil in anderen Ländern groß geworden. War eure eigene Kindheit sehr anders?
Purnima:
Meine Eltern kommen beide aus Indien. Mein Vater ist Arzt und wir sind als Kinder sehr viel herumgezogen, vor allem innerhalb Österreichs. Meine Eltern haben versucht, mir viel von der indischen Kultur mitzugeben, wir haben sehr viele indische Feste gefeiert, indische Bräuche gelebt. Das versuche ich zum Teil auch meinen Kindern weiterzugeben.

Susanna: Ich bin in Armenien in der Stadt aufgewachsen. Ich denke, dass es bei uns viel mehr Respekt gegenüber Älteren gibt. Den gibt es hier nicht wirklich. Mein Eindruck von der österreichischen Erziehung ist auch, dass Eltern Kinder wie Erwachsene behandeln. Bei uns sind Kinder einfach Kinder, man erklärt ihnen nicht so viel, man sagt ihnen einfach, was sie zu tun haben. Es ist sicher nicht gut, nichts zu erklären, aber es ist auch nicht gut, mit kleinen Kindern so zu sprechen, als wären sie Erwachsene.

Welche großen Unterschiede seht ihr in der Kindererziehung, wenn ihr Österreich mit Uruguay, Armenien und Indien vergleicht?
Pablo:
Uruguay ist wirklich ein Paradies für Kinder. Erwachsene können sich viel eher in eine Kinderseele hineinversetzen. Es gibt eine deutlich größere Toleranz gegenüber Kindern, auch wenn sie sich nicht richtig benehmen oder launisch sind.

Purnima: Wenn Kinder etwas Schlimmes tun, sind hier die Eltern schuld. Das ist in Indien nicht so. „Eltern haften für ihre Kinder“ – solche Schilder gibt es nicht. Das sind Kinder, heißt es, den einen oder anderen Blödsinn dürfen sie sich erlauben.

Susanna: Was ich aus Armenien nicht kenne, ist die Trotzphase. Ich habe wirklich das erste Mal in Österreich trotzige Kinder gesehen, die sich auf die Straße werfen oder um sich schlagen. Das gibt es bei uns einfach nicht. Aber die Kinder können laut sein und niemand beschwert sich. Hier regen sich ältere Leute zum Beispiel in der Straßenbahn oft über Kinderlärm auf.

Haben Kinder in Uruguay, Armenien und Indien auch mehr Autonomie, dürfen sie mehr, zum Beispiel alleine mit ihren Geschwistern unterwegs sein?
Purnima:
Ich bin Erstgeborene. Man lernt als indisches Kind sehr schnell, Verantwortung für die kleineren Geschwister zu tragen. Ich selbst habe meine Kinder auch sehr früh losgelassen. Als mein Sohn noch im Kindergarten war, habe ich ihn schon in den Supermarkt gehen lassen, eine Kleinigkeit einkaufen. Ich war das selbst so gewohnt. Man kontrolliert die Kinder weniger, lässt sie spielen.

Pablo: Obwohl ich als Kind überall alleine hingegangen bin, macht sich nun meine eigene Mutter Sorgen, weil ich meine neunjährige Tochter allein zur Schule gehen lasse. Die Zeiten haben sich überall etwas geändert, man ist sich der möglichen Gefahren mehr bewusst.

Wie geht es denn euren Kindern, wenn ihr mit ihnen gemeinsam eure Herkunftsländer besucht?
Purnima:
Die Menschen in Indien verhalten sich sehr anders gegenüber Kindern. In Österreich geht man auf Kinder ganz langsam zu, nimmt erst mal Blickkontakt auf, spricht mit ihnen. In Indien werden sie gepackt und abgeknuddelt. Da waren meine immer recht perplex. Mittlerweile haben sie sich daran gewöhnt. Innerhalb der Großfamilie ist alles sehr innig, man teil alles miteinander. Ich hatte auch immer das Vertrauen, dass auf meine Kinder geschaut wird. Da gibt es nicht die Einstellung: „Das ist Purnimas Kind, die muss selbst schauen.“ Man muss als Kind eben auch auf die Tante hören.

Pablo: Das Leben für Kinder ist in Uruguay total süß. Meine Söhne wurden von ihrer Oma immer endlos verwöhnt: Im Bett bleiben, Zeichentrickfilme schauen und dabei Süßigkeiten essen. Sie waren die Könige. Uruguay war immer das Paradies für sie.
Im Vergleich dazu finde ich die Erwachsenen hier viel liebloser. Sie sind oft kalt und überstreng, wenn es um Kinder geht. In Uruguay wird kein kleines Kind auf der Straße ignoriert, alle reden es an, der Taxifahrer, der Gemüsehändler. Kinder werden einfach wahrgenommen. Und das hat meine Söhne immer auch ein Stück reifer gemacht.

Susanna: Das ist auch in Armenien so. Verkäufer schenken zum Beispiel den Kindern immer etwas extra.

Es klingt so, als würde euch der Umgang mit Kindern in euren Herkunftsländern besser gefallen als hier in Österreich. Gibt es auch etwas, das euch weniger zusagt?
Purnima:
Was mich stört, ist, dass es in Indien für Süßigkeiten kein Limit gibt. Manchmal sind zu wenige Grenzen da. Kinder dürfen bis zum dritten Lebensjahr absolut alles tun, was sie wollen.

Susanna: Ich nehme positiv hier wahr, dass die Eltern mit Kindern sprechen, ohne sie anzuschreien. In Armenien ist man viel autoritärer. Wenn Mama oder Papa etwas einmal gesagt haben, muss es gemacht werden. Es wird gar nichts erklärt, auch keine Konsequenzen möglichen Handelns.

Pablo: Schreien ist auch in Lateinamerika ein Thema. Es gibt teilweise mehr Aggressivität, was ich nicht gut finde, auch in körperlicher Hinsicht. Die „gsunde Watschn“ ist sicher gang und gäbe. Was mich auch stört, ist, dass man Kindern beibringt zu lügen. Du musst früher weg? Dann sag einfach, du gehst zum Arzt! Solche Ausreden sind ganz normal. Es wird unnötig gelogen, auch Kinder werden wegen Kleinigkeiten angelogen.

Purnima: Die Wahrheit verwehrt man Kindern auch in Indien oft. Wenn jemand stirbt, erzählt man kleinen Kindern zum Beispiel, die Person wäre verreist. Wenn Kinder etwas noch nicht verstehen, erklärt man es nicht in ihren Worten, sondern erzählt einfach irgendetwas. ..

Wie wichtig sind in Uruguay, Armenien und Indien die Eltern in der Erziehung von Kindern? Haben sie die gleiche Bedeutung wie hierzulande?
Purnima:
Ich glaube, dass die Eltern einen sehr wichtigen Stellenwert in Indien haben. Als Kind wirst du immer daran erinnert, dass du nur durch die Liebe deiner Eltern auf der Welt bist. Bei jedem Schritt, den du machst, sei dir bewusst, du strahlst auf deine Eltern zurück. In Österreich kann man auch mal gegen die Vorstellungen der Eltern handeln. Eltern akzeptieren viel eher, wenn man was anders macht, als sie es gerne hätten. In Indien könnte dadurch ein Bruch für immer entstehen.

Pablo: Ich habe auch eine Zeit lang überlegt, mit meinen Eltern zu brechen, war aber trotzdem jeden Sonntag bei ihnen zum Essen. Hier in Österreich sehen manche erwachsenen Kinder ihre Eltern wochen- oder monatelang nicht.

Susanna: Meine Eltern sind in Armenien, aber ich telefoniere jeden Tag mit meiner Mutter. Immer weiß sie, was wir unternehmen und was wir uns zum Essen kochen. Bei uns leben die Eltern für die Kinder, dann für die Enkel. Für die Familie hat man immer Zeit. Hier sagen Großeltern: Das ist mein Leben, ich habe keine Zeit, um auf Enkelkinder aufzupassen. Ich muss meine Mutter nie vorher fragen, ich komme einfach mit meiner Tochter vorbei.

Pablo: Wenn es um die Betreuung von Kindern geht, ist in Lateinamerika übrigens auch die Nachbarschaft immer präsent, das ist schon ein krasser Unterschied zu Österreich, wo du mit deinen Nachbarn nicht unbedingt etwas zu tun hast.

Was möchtet ihr euren Kindern mitgeben? Welche Erwachsene sollen sie werden?
Pablo:
Ich möchte Ihnen beibringen, so früh wie möglich Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Sie sollen sich in andere Menschen hineinversetzen können. Kritisch bleiben. Und ich will ihnen weitergeben, dass das Wichtigste im Leben die Liebe ist.

Purnima: Ich wünsche mir für meine Kinder, dass sie ihre persönlichen Ziele erreichen. Dass sie sich aussuchen können, was sie machen und das dann gut und gerne machen, sich damit identifizieren können. Uns wurde der Weg viel mehr vorgegeben, das möchte ich für meine Kinder nicht.

Wann endet Erziehung?
Pablo:
Es gibt einen Moment, da kannst du nicht mehr erziehen. So ab 15 würde ich sagen. Ich habe aber natürlich auch jetzt bei meinen erwachsenen Söhnen den Reflex, sie zu erziehen.

Purnima: Den haben meine Eltern auch noch. Wenn ich mit ihnen rede, habe ich das Gefühl, sie hoffen immer noch, mich erziehen zu können. 

Pablo Rudich kam, als er 13 Jahre alt war, mit seiner Familie nach Österreich. Der gebürtige Uruguayer hat zwei Söhne (20 und 22) und eine Tochter (9).

Susanna Gil zog vor fünf Jahren von Armenien nach Wien. Ihre Tochter ist vier Jahre alt.

Purnima Chopras Eltern kommen aus Indien, sie selbst ist in Österreich geboren. Sie ist Mutter eines Sohnes (14) und einer Tochter (9).

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