„Ganz Nicaragua ist ein Gefängnis“

Von Renate Zöller · · 2019/Jul-Aug

Die angesehene Schriftstellerin Gioconda Belli gehört zu den schärfsten KritikerInnen des Staatspräsidenten Daniel Ortega. Sie versucht weltweit Aufmerksamkeit für das Geschehen in ihrem Land zu gewinnen, das Interview fand in Köln statt.

Frau Belli, sie kommen diesmal als eine Art Botschafterin nach Europa. Wie würden Sie die aktuelle Situation in Ihrem Land beschreiben?

Die Krise der Menschenrechte in Nicaragua ist inakzeptabel. Täglich werden Menschen verhaftet. Sobald Leute auf die Straße gehen, um zu demonstrieren, schwärmen Schwadronen von Polizisten aus. Die Pressefreiheit ist aufgehoben. 29 Wochen lang wurden die Zeitungen nicht mit Papier beliefert, damit sie nicht gedruckt werden konnten. Journalistinnen und Journalisten werden gegängelt und tätlich angegriffen. Wir haben keine Freiheit. Ganz Nicaragua ist ein Gefängnis.

Die Abkehr der einst idealistischen revolutionären Sandinisten von vielen ihrer progressiven Prinzipien unter Daniel Ortega im Laufe der Jahre hat unter der europäischen Linken und in der Solidaritätsbewegung immer wieder Diskussionen ausgelöst. Wie stehen Sie selbst dazu?

Ich verstehe den Schmerz. Auch ich bin traurig, wenn ich sehe, dass die jungen Menschen die Flagge der Sandinisten verbrennen. Es fühlt sich an, als ob eine große Liebe kaputt geht. Wir hatten eine schöne Revolution und die Menschen sind stolz darauf.

Wenn wir zurückschauen, hatte der Sandinismus allerdings von Anfang an autokratische Tendenzen. Damals herrschte Bürgerkrieg und da war das verständlich. Aber auch danach wurde er nicht so demokratisch, wie wir ihn uns wünschten. Wenn sie einmal an der Macht ist, tendiert die Linke dazu, die alten Fehler zu wiederholen, die schon in Russland zum Scheitern der Revolution geführt haben. Sie rechtfertigt Unfreiheit damit, dass sie nötig sei, um soziale Gerechtigkeit durchzusetzen. Sie fürchtet die Demokratie. Anstatt die Menschen von ihrer Idee zu überzeugen, beginnt sie, sie zu unterdrücken.

Die Regierung diffamiert die Protestierenden als „rechte Vandalen“. Wer ist da wirklich auf der Straße?

Die Protestbewegung erfasst alle Bevölkerungsschichten. Es ist eine spontane Bewegung von Studierenden, vielen Frauen, Angehörigen der Mittelschicht aber von auch armen Campesinos, die vom geplanten Bau des Nicaragua-Kanals bedroht sind. Diese Bauern demonstrieren bereits seit fünf Jahren dagegen, dass sie zugunsten des chinesischen Investors enteignet werden können. Uns alle verbindet, dass wir Freiheit für unser Land wollen. Wir wollen nicht rückwärts gehen und wieder in einer Diktatur leben. In den vergangenen Monaten hat sich aus vielen Gruppierungen, mittlerweile 72 insgesamt, eine Art Organisationsform entwickelt. Die UNAB, Nationale Union Blau & Weiß, will einen Konsens finden, wie wir gemeinsam bei den nächsten Wahlen antreten können.

Der Aufstand

Im April 2018 kam es zu Protesten wegen unzureichenden Maßnahmen gegen einen Waldbrand im Bioreservat Indio Maíz. Diese wurden blutig niedergeschlagen.

Kurz darauf verkündete Vizepräsidentin Rosario Murillo die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge. Spontane Demos stießen auf Polizeigewalt. Es gab erste Tote. Aus punktuellen Protesten entwickelte sich ein weitgehend gewaltloser Aufstand gegen das autoritäre System des Präsidenten, Daniel Ortega. Landesweit wurden Barrikaden und Straßensperren errichtet, die Repression nahm zu. Ein erster, von der Kirche moderierter Dialog scheiterte.

Amnesty International nannte einen Bericht „Shoot to kill“, weil DemonstrantInnen mit gezielten Schüssen getötet worden waren. Vor dem Revolutionsjubiläum am 19. Juli 2018 kam es unter hohem Blutzoll zur Räumung der Barrikaden. Tausende flohen ins Ausland. Menschenrechtsorganisationen sprachen von über 500 Todesopfern.

Im Februar 2019 brachte ein Dialog das Versprechen Ortegas, alle politischen Gefangenen freizulassen. Bis Juni sind mehrere hundert in Hausarrest entlassen worden. Weitere werden festgehalten oder wurden schon zu absurd hohen Strafen verurteilt. Ralf Leonhard

Wer könnte für die UNAB führend in den Wahlkampf gehen?

Wir wollen keine einzelnen Anführer mehr. Vor allem die jungen Leute sind dagegen. Es gibt Einzelne, die eine wichtige Rolle spielen und wir honorieren das. Aber wir wollen uns nicht auf sie, sondern auf die Macht der gesamten Bewegung konzentrieren. Deshalb sind wir gerade dabei, einen politischen Rat mit elf Vertreterinnen und Vertretern zu wählen.

Es gibt viele weibliche Oppositionelle. Wie sehen Sie als ehemalige feministische Guerillera diese Frauen?

Sie sind freier und selbstsicherer als wir damals. Sie sagen mit großer Leichtigkeit, was sie denken. Für uns war es 1979 noch ein Kampf, geradeheraus zu sein und mit den Männern zu diskutieren. Aber wir waren in sehr hohen Funktionen und einige Kommandeure, die bis heute Symbolcharakter haben, waren Frauen. Wir haben Ihnen ein Beispiel gegeben. Ich denke, die jungen Frauen heute fühlen sich wirklich gleichberechtigt. Das finde ich toll.

Das scheint nicht zusammenzupassen mit aktuellen Meldungen über Gewalt gegen Frauen in Nicaragua …

Wir kämpfen immer noch gegen die Macho-Mentalität. Dabei gibt es Fortschritte, aber auch Rückschläge. Wir hatten in den 1990er Jahren in Lateinamerika in sieben Ländern Präsidentinnen. Gleichzeitig gibt es statistisch gesehen in unseren Ländern die höchste Anzahl an Frauenmorden und Gewalt gegen Frauen.

Im Arabischen Frühling ab 2010 konnte man beobachten, wie die Gewalt vor allem gegen Frauen zunahm. Ist der Alltag für Frauen in Nicaragua durch die Proteste gefährlicher geworden?

Ja, es gibt ein Anwachsen der Kriminalität. Die Polizei ist mit politischen Aufgaben beschäftigt, da werden Gewalttaten und Raub weniger geahndet. Ich persönlich fühle mich nicht unsicherer auf der Straße als früher. Ich glaube, die größte Angst haben junge Frauen vor der Polizei. Leider sind viele der Aktivistinnen im Gefängnis und müssen dort Grauenhaftes erleben. Es gibt viel Gewalt und Vergewaltigungen. Zwei weibliche Transgender wurden einfach zu den Männern in die Zellen gesperrt. Das ist unverzeihlich.

Glauben Sie, dass es Präsident Ortega gelingen wird, die Situation wieder zu befrieden?

Wir erleben im Moment eine Art zivile Revolution. Ziel der Proteste war ursprünglich lediglich, sich gegen eine Sozialreform zu wehren, nach der Steuer auf die Renten der älteren Menschen erhoben werden sollte. Aber die Antwort der Regierung war so brutal, so mörderisch, dass die Bevölkerung begann, gegen sie selbst zu protestieren. Da wurden die Reaktionen des Regimes noch grausamer. Hunderte Menschen wurden getötet. Es sind so schreckliche Dinge passiert, wir können nicht einfach zum einstigen Status Quo zurückkehren. Eine Regierung, die so kaltblütig ihre eigenen Bürger tötet, hat keine Legitimation mehr.

Wie wird es weitergehen, wenn es tatsächlich zu einem Umsturz kommt?

Ich denke, wir haben eine harte Zeit vor uns. Es wird schwer sein, alles zu vergessen, was geschehen ist und einen neuen Weg zu finden. Revolutionen brauchen Zeit. Erst hundert Jahre nach der Revolution war Frankreich wirklich eine Republik. Aber ich habe ein sehr tiefes Vertrauen in die jungen Menschen aus Nicaragua. Sie haben sehr viel Köpfchen und sind sehr erwachsen. Ich vertraue darauf, dass sie das Richtige tun werden.

Interview: Renate Zöller

Renate Zöller ist freie Journalistin und berichtet v.a. über Mittelosteuropa. 2015 erschien ihr Buch „Was ist eigentlich Heimat?“. Gioconda Belli lernte sie 2016 bei einer Lesung kennen und traf sie 2019 für dieses Interview in Köln wieder.

Gioconda Belli, geboren 1948 in Managua, studierte Kommunikationswissenschaften in den USA und in Spanien und unterstützte als junge Frau und kämpferische Feministin die sandinistische Revolution von 1979 in Nicaragua, die den Diktator Anastasio Somoza stürzte. Bekannt und mit zahlreichen Preisen geehrt wurde sie für ihr lyrisches und belletristisches Schaffen seit den 1970er Jahren. Bis heute setzt sie sich für Frauen- und Menschenrechte ein.

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