Geisterinstitut als Vorzeigeprojekt

Von Ralf Leonhard · · 2004/07

Der Lehrgang Internationale Entwicklung an der Universität Wien boomt – und platzt räumlich aus allen Nähten. Doch bei den zuständigen Behörden findet er wenig Gegenliebe.

Die Juristerei war nicht das Richtige für Monika. Die junge Studentin aus Malawi sattelte nach dem ersten Semester um und sitzt jetzt mit großem Interesse in der Vorlesung über afrikanische Geschichte von Walter Schicho. Von den wirtschaftlichen Entwicklungen nach der Unabhängigkeit ist da die Rede, vom Aufschwung unter den nationalistischen Regierungen der 1960er Jahre. Etwa 40 Studierende lauschen aufmerksam. Die Lehrveranstaltung gehört zum Diplomstudium Internationale Entwicklung an der Uni Wien. Monika hat in ihrem Heimatland einmal während eines Urlaubes bei World Vision mitgeholfen.
Seither hat sie den Wunsch, sich irgendwo in der Entwicklungszusammenarbeit zu engagieren. Auch der 19-jährigen Sarah aus Wien, die ihre Motivation über afrikanische Freunde bezogen hat, schwebt als Berufsperspektive die Entwicklungszusammenarbeit vor. Sie findet die Vorlesungen aber auch spannend, weil sie sich kritisch mit internationalen Themen auseinandersetzen.
Walter Schicho, Professor am Institut für Afrikanistik und einer der Väter des Lehrgangs, möchte dem Irrtum vorbeugen, dass Internationale Politik als logisches Sprungbrett für die Entwicklungszusammenarbeit missverstanden wird: „Wir versuchen, den Leuten die Illusionen zu nehmen.“ Dem Auftrag, neue InteressentInnen eher abzuschrecken als anzulocken, hat sich der Afrikanist verschrieben, seit er sich zu Beginn des vergangenen Wintersemesters einem überquellenden Auditorium gegenüber sah. 330 neu Inskribierte füllten den Hörsaal 50 im alten Universitätsgebäude bis zum letzten Stehplatz. Noch immer sind die Vorlesungen über Geschichte der Nord-Süd-Beziehungen, Praxis der Entwicklungszusammenarbeit, Grundlagen der Landesnatur Lateinamerikas oder Kontinuität und Wandel urbaner Räume in Lateinamerika überdurchschnittlich gut besucht. Proseminare mit 200 Hörerinnen und Hörern sind die traurige Regel. Denn so beliebt der neue Lehrgang bei den Studierenden ist, so wenig Gegenliebe findet er bei den zuständigen Behörden.
Das liegt vielleicht daran, dass dieses Diplomstudium ein Produkt ist, das „von der Basis“ entwickelt wurde. Seine Geschichte reicht bis weit in die 1980er Jahre zurück. Damals wurde der Mattersburger Kreis gegründet, eine lose Vereinigung von entwicklungspolitisch interessierten Personen aus Wissenschaft und Lehre. Mehrere österreichweite Treffen wurden veranstaltet.
Das erste Ergebnis waren Ringvorlesungen an der Technischen Universität in Wien. Inhalt: Eine Einführung in die Entwicklungspolitik, die nicht mehr nur den PraktikerInnen in Ministerium und den NGOs überlassen, sondern Gegenstand theoretischer Diskussionen wurde. Gleichzeitig kamen die ersten Ausgaben des Journals für Entwicklungspolitik (JEP) heraus – heute eine renommierte Quartalsschrift, die oft schnell ausverkauft ist.

Ende der 1980er Jahre wurden Ringvorlesungen mit spezifischeren Themen auf die Beine gestellt: „Wie aus Bauern Arbeiter wurden“ oder „Migration“. 1990 entstand dann aus dem Mattersburger Kreis eine ProponentInnengruppe, die die Gründung eines Senatsinstituts anstrebte.
Zweimal hat der zuständige Universitätssenat die Einrichtung eines Diplomstudienlehrgangs über internationale Entwicklung genehmigt. Und zweimal wurde er vom Wissenschaftsministerium (wie es damals noch hieß) abgeschmettert. Das zweite Mal erfolgte der abschlägige Bescheid unter Hinweis auf die bevorstehende Universitätsautonomie. Da wolle man sich nicht einmischen.
Das Problem mit der Autonomie, so Schicho aus leidvoller Erfahrung, sei, dass den Hochschulen die Verwaltung eines knapper werdenden Budgets aufgelastet werde. Für mutige Neugründungen von Instituten oder Studienrichtungen bleibe da wenig Raum. Das Universitätsorganisationsgesetz von 1997 sieht außerdem vor, dass die Universität zwar selbständig neue Studienrichtungen schaffen darf. Das Ministerium muss aber nach wie vor der Satzung zustimmen und kann mit seinem Veto jede Neuerung blockieren.

Man ließ sich aber nicht entmutigen. Der Schwung, den eine neue Generation von WissenschaftlerInnen – Leute wie Karin Fischer, Andreas Novy, Christof Parnreiter oder Irmi Maral-Hanak – hereinbrachte, war wohl mitentscheidend, dass unter Missachtung der obrigkeitlichen Abfuhr ein Lehrgang entwickelt wurde. Anfangs wurde er als Zweitfach zu einer etablierten Studienrichtung eingeführt. Der große Zulauf motivierte die Beteiligten, ein eigenständiges Diplomstudium daraus zu entwickeln. Im Studienplan wurden Lehrveranstaltungen, die von den Instituten für Geschichte, Politikwissenschaften, Geographie, Volkswirtschaft, Soziologie und Afrikanistik angeboten werden konnten, durch zusätzliche, eigene Vorlesungen und Proseminare ergänzt. Aber auch dieser Anlauf fand keine Gnade vor dem Ministerium.
Als Ausweg bot sich das ehemalige „Studium irregulare“ an, das nach der neuen Studienordnung Diplomstudium heißt. Studium irregulare ist ein individuell gestaltetes Studium, das es den Studierenden ermöglicht, eine Ausbildung zu wählen, die in der Studienordnung (noch) nicht vorgesehen ist, nach der aber seitens der Arbeitgeber große Nachfrage besteht. Im Wintersemester 2002/2003 suchten über 90 Studierende um Aufnahme an, im folgenden Sommersemester kamen weitere 56 dazu.
Inzwischen sind fast 600 Studierende inskribiert. Dennoch bleibt die internationale Entwicklung eine Art Geisterinstitut, das weder eine eigene Studienkennzahl, noch Verwaltungspersonal oder gar einen wissenschaftlichen Posten sein Eigen nennt. Ohne schlecht bezahlte Lektorinnen und Lektoren, die als Teilzeitangestellte ihr Fachwissen einbringen, wäre der Betrieb nicht möglich. Dank des notorischen Mangels an festen Posten auf der Universität gibt es auch reichlich hochqualifizierte WissenschaftlerInnen, die genügend Zeit haben und sich zu diesen prekären Bedingungen gewinnen lassen. Dazu kommt, wie Walter Schicho betont, die überdurchschnittliche Selbstverantwortung, die die Studierenden übernehmen. Sie betreiben die Homepage, managen eine Newsgruppe und versuchen sogar, Inserate zu keilen, um das kommentierte Vorlesungsverzeichnis zu finanzieren. Schicho: „Einige sind sehr engagiert – weit über die Proseminare hinaus.“ Viele sind bei ATTAC oder anderen kritischen Organisationen aktiv.

Trotz der prekären Dotierung, so Christof Parnreiter, Lektor und Lateinamerikaexperte, sei der Lehrgang bereits jetzt ein Vorzeigeprojekt – vier Semester, bevor der erste Magister und die erste Magistra der Philosophie ihren Sponsionseid leisten. Dass Studierende aus dem fernen Bremen eigens dafür nach Wien kommen wollen, sei dafür ein Beweis. Den Ruf des „Billigscheinstudiums“, bei dem man ohne viel Arbeit sein Diplom abholen könne, habe der Lehrgang ganz und gar nicht.
Dennoch: „Mit dem Diplom hat niemand eine Berufsausbildung“, warnt Walter Schicho. Bessere Aussichten am Arbeitsmarkt haben jene, die Fächer wie Volkswirtschaft oder Völkerrecht studiert haben. Außerdem wird neben zwei europäischen Fremdsprachen das Erlernen einer außereuropäischen Sprache empfohlen. Schicho: „Es geht nicht darum, dass die perfekt beherrscht werden muss, sondern vielmehr um die Auseinandersetzung mit Sprache, damit man sieht, wie anders gestrickt ein Kommunikationssystem sein kann.“ So gibt es Sprachen, die kein Geschlecht kennen und dafür andere soziale Differenzierungen in den Vordergrund rücken.

Ein Praktikum im Ausland ist zwar nicht zwingend vorgeschrieben, doch kann keine theoretische Auseinandersetzung die Erfahrungen ersetzen, die ein einsemestriger Aufenthalt in Afrika oder Lateinamerika bringt. Partnerschaften mit Universitäten in Dar-es-Salaam (Tansania), Ouagadougou (Burkina Faso) und einigen südamerikanischen Großstädten erleichtern die Entscheidung, einmal die Luft des Südens zu schnuppern. Dafür gibt es auch die Möglichkeit, Stipendien zu bekommen. Um die Motivation von Studentinnen wie Monika, die auch andere Länder ihres Heimatkontinents kennenlernen will, oder Sarah, auf die Afrika schon lange eine starke Faszination ausübt, muss man sich keine Sorgen machen.
Trotz des offensichtlichen Enthusiasmus bei Lehrenden wie Studierenden ist das Weiterbestehen des Lehrgangs noch nicht gesichert. Im Zuge der Hochschulreform muss die Universität demnächst entscheiden, ob der Diplomlehrgang zum Regelstudium wird, das mit eigenen Posten versehen und aus dem Universitätsbudget finanziert werden müsste, oder dem Fallbeil des Sparpakets zum Opfer fällt. Das würde sicherlich auf vehemente Proteste stoßen und wäre auch unbillig, wie Christof Parnreiter vorrechnet: „Wenn wir von den Studiengebühren unserer Hörerinnen und Hörer nur 50 Prozent bekommen, könnten wir ohne Problem arbeiten.“

Der Autor lebt als freiberuflicher Journalist und Korrespondent mehrerer deutschsprachiger Zeitungen in Wien.

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