Gemeinschaft statt Staat

Von Redaktion · · 2010/02

Die Idee eines „islamischen Staates“, die manchen MuslimInnen so teuer ist, ist völlig unislamisch, argumentiert Ziauddin Sardar.

Nach dem Tod des Propheten Mohammed kommt ein für die Geschichte des Islam entscheidender Moment. Die Teilnehmer des Begräbnisses in Medina stellen eine natürliche Frage: Wer sollte dem Propheten als Herrscher über die Muslime nachfolgen? Der Prophet selbst überließ diese Entscheidung seinen Anhängern.

Eine öffentliche Versammlung wird anberaumt, um über die Nachfolge zu diskutieren. Verschiedene Standpunkte werden vorgetragen. Einige schlagen vor, dass der Kalif, der Nachfolger des Propheten, aus dem Kreise der Menschen Medinas stammen sollte, die ihm in Zeiten der Not Zuflucht gewährt hatten. Andere meinen, er sollte unter den Menschen Mekkas gewählt werden, die mit dem Propheten nach Medina zogen. Es gibt sogar einen dritten Vorschlag: Es sollte zwei Herrscher geben, jeweils einen für Mekka und Medina. Schließlich bildet sich ein Konsens, bestätigt durch einfaches Heben der Hand: Abu Bakr sollte dem Propheten als erster Kalif des Islam nachfolgen.

Viele Gelehrte vertreten die Ansicht, dass bei diesem Treffen das grundlegende Verhältnis zwischen Islam und Politik festgelegt wurde. Der Koran, der heilige Text des Islam, enthält keine Staatstheorie. Aber er besteht darauf, ebenso oft wie deutlich, dass über Gemeinschaftsfragen auf Grundlage der Schura, also der Beratung und Diskussion entschieden werden sollte. Die Versammlung in Medina etablierte die Schura als allgemeines Prinzip der politischen Aktivität, und sie führte auch einen weiteren zentralen Grundsatz des Islam ein: Entscheidungen sollten einem „Idschma“, einem Konsens oder der Ansicht der Mehrheit, entsprechen. Wenn Demokratie eine „Regierung per Diskussion“ ist, wie John Stuart Mill einmal sagte, dann sind diese beiden Prinzipien inhärent demokratisch.

Abu Bakr bestimmte kurz vor seinem Tod Umar, einen weiteren engen Gefährten des Propheten, zu seinem Nachfolger. Er zwang diese Entscheidung aber niemandem auf. Erstens suchte er das Einverständnis aller Gefährten des Propheten. Dann leitete er einen Beratungsprozess ein, mit öffentlichen Diskussionen und der Beteiligung der gesamten Gemeinschaft. Die Ernennung Umars war erst bestätigt, als alle zustimmten.

Bei seiner Antrittsrede führte Umar einen weiteren wichtigen Grundsatz muslimischer Politik ein: Ein Herrscher kann durch die Kraft der öffentlichen Meinung abgesetzt werden, wenn er seine Pflichten nicht ordnungsgemäß erfüllt oder die Anliegen und Ansichten der Bürger ignoriert. Gehorcht mir, erklärte er, nur so lange, als ich meine Pflichten erfülle. Seiner Ansicht nach waren Herrscher und Beherrschte völlig gleichwertig. Umar herrschte 20 Jahre lang, ein Zeitraum, in dem sich das muslimische Reich bis nach Syrien, Ägypten, Anatolien, Persien und Aserbaidschan ausdehnte. Es war nicht mehr möglich, die gesamte Gemeinschaft der Muslime in einer großen Moschee zu versammeln und mit ihnen direkt zu beraten. Also stellte Umar ein siebenköpfiges Wahlgremium zusammen, das über seinen Nachfolger entscheiden sollte. Das Gremium war mit erheblichen Problemen konfrontiert; es war nicht einfach, Menschen an fernen Orten zu Rate zu ziehen. Umar starb zudem, bevor das Gremium zu einer Entscheidung fand.

Der charismatische Vorsitzende des Gremiums, Abd ar-Rahman, erklärte, er würde auf Reisen gehen, um die Menschen zu befragen, da er selbst kein Kandidat wäre. Nach vielen öffentlichen Versammlungen und Diskussionen fand er heraus, dass der Konsens zwei Menschen favorisierte – Uthman, einen weiteren Gefährten des Propheten, und Ali, dessen Cousin und Schwiegersohn. Um zwischen diesen beiden zu entscheiden, berief Abd ar-Rahman ein öffentliches Treffen ein, bei dem die Kandidaten befragt und einem Kreuzverhör unterzogen wurden. Auf Basis ihrer Antworten entschied sich Abd ar-Rahman für Uthman; die Versammlung billigte seine Entscheidung.

Nach Uthman jedoch führten Meinungsverschiedenheiten in der muslimischen Gemeinschaft dazu, dass die Prinzipien der Beratung und des Konsenses untergraben wurden. Mit der Entstehung islamischer Monarchien schwand der demokratische Geist dieser Doktrinen dahin. Die Bedeutung von Schura und Idschma wurde auf eine Beratung mit und dem Konsens einer politischen und religiösen Elite anstatt mit der gesamten Gemeinschaft der Muslime reduziert.

An diesem Prozess waren klassische muslimische Gelehrte und Denker beteiligt. Im 10. Jahrhundert argumentierte der einflussreiche Gelehrte al-Mawardi, dass nur die Einwohner der Hauptstadt bei der Wahl eines Herrschers einbezogen werden sollten. Darüber hinaus wäre es nicht nötig, jeden zu konsultieren. Tatsächlich könnte ein Herrscher auch von einem allgemein anerkannten Religionsgelehrten ernannt werden – selbst wenn der Ernannte für Regierungsgeschäfte wenig geeignet und darin nicht bewandert war! Ibn Taymiyya, ein politischer Theoretiker des 14. Jahrhunderts und Guru der modernen muslimischen Fundamentalisten, vertrat die Ansicht, dass Herrscher verpflichtet wären, Religionsgelehrte zu Rate zu ziehen, denen sie zu gehorchen hätten. Er beschrieb Könige als „Schatten Gottes“, denen auch dann zu gehorchen sei, wenn sie ungerecht wären. Beide dieser Denker bestanden darauf, dass die Scharia (das islamische Recht) in jedem islamischen Gemeinwesen unangefochten an erster Stelle zu stehen habe.

Die moderne Idee des „islamischen Staates“ tauchte erstmals in den Texten des ägyptischen Gelehrten Rashid Rida auf. In seinem 1930 erschienenen Buch „The Caliphate and the Great Immamate“ vertrat Rida die Ansicht, dass die Schaffung eines modernen islamischen Staates der Wiedererrichtung des klassischen Kalifats am nächsten komme. Ridas Bezeichnungen für einen „islamischen Staat“ – ad-dawlah (bloß „der Staat“) oder al-hukumat al-Islamiyyah („islamische Regierung“) – existieren weder im Koran noch im klassischen Arabisch. Sie sind eine Neuschöpfung. Rida reagierte damit auf die westliche Idee eines säkularen Nationalstaats. Was diesen säkularen Staat zu einem islamischen machte, war laut Rida die unumschränkte Geltung der Scharia.

Doch erst mit der Unabhängigkeit vieler muslimischer Länder in den 1950er Jahren gewann das Konzept des islamischen Staates an Attraktivität. Es wurde zum wesentlichen Ziel islamischer Bewegungen wie der Jamaat-e-Islami in Pakistan und der Muslimbruderschaft in Ägyten. Die Bruderschaft kollaborierte mit dem Militärregime in Sudan. Die Jamaat-e-Islami arbeitete in den 1980ern mit General Zia ul-Haq daran, Pakistan in einen islamischen Staat zu verwandeln. Doch während Rida glaubte, dass die Scharia erneuert und an die Bedürfnisse und Anforderungen der modernen Gesellschaft angepasst werden müsste, halten zeitgenössische islamische Bewegungen strikt an einem unveränderlichen und verknöcherten Konzept der Scharia fest. Regime wie in Iran und in Saudi-Arabien haben die Scharia rücksichtslos durchgesetzt, sowohl um ihren jeweiligen Staatsformen einen islamischen Anstrich zu verleihen als auch um ihre autoritäre Herrschaft zu rechtfertigen.

Der iranische „islamische Staat“ wurde nach der Revolution von 1979 errichtet. In seinem Buch „Islamic Government“*) erklärt Ayatollah Khomeini, dass der islamische Staat „weder autokratisch“ sei noch „sein Oberhaupt zur Quelle aller Gewalten“ erhebe; er sei vielmehr „ein Verfassungsstaat“ unter Herrschaft der Scharia. Als er aber an die Macht gelangte, verwandelte Khomeini den Iran in eine Theokratie, in der das Oberhaupt tatsächlich über „alle Gewalten“ verfügt – religiöse, politische und rechtliche. Khomeini führte das innovative Konzept des Velayat-e Faqih, des Obersten Führers ein, der befugt ist, Krieg zu erklären, den obersten Richter und den Generalstaatsanwalt des Landes zu ernennen, Ergebnisse von Präsidentschaftswahlen zu billigen oder abzulehnen, und die sechs Juristen des Schura-ye Negahban, des Wächterrats, zu ernennen, der die gesamte Gesetzgebung des Parlaments zu genehmigen hat. Das ist ein Rezept für den Totalitarismus, wie nur allzu offensichtlich wurde.
Die Artikel dieses Themas wurden zuerst im Monatsmagazin „New Internationalist“ (Ausgabe 426 Oktober 2009) veröffentlicht. Wir danken den KollegInnen in Oxford für die gute Zusammenarbeit. Der „New Internationalist“ kann unter der Adresse: Tower House, Lathkill Street, Market Harborough, Leicestershire LE16 9EF, England, U.K., bezogen werden. (Jahresabo: 37,85 Pfund; Telefon: 0044/ 171/82 28 99). www.newint.org. Redaktionelle Bearbeitung und Kürzung der Artikel: Irmgard Kirchner.
Übersetzung: Robert Poth.

Das Konzept eines „islamischen Staates“ ist völlig unislamisch und in der Geschichte des Islam ohne Vorläufer. Selbst der Begriff ist in sich widersprüchlich: Der Islam ist kompromisslos universell; ein „Staat“ ist unzweifelhaft partikulär. Ein islamischer Staat mit festen Grenzen und einer Bindung an eine einzige, spezielle Interpretation des Islam untergräbt sowohl die Universalität des Islam als auch die Vielfalt des Islam und der Muslime. Werden zudem Religion, Politik, Recht und Moral in eine einzige monolithische Einheit verwandelt, erhält das Konzept eines islamischen Staates einen inhärent autoritären Charakter. Wenig überraschend, dass überall, wo ein islamischer Staat errichtet und die Scharia durchgesetzt wurde, der Autoritarismus regiert und sich mittelalterliche Strafen und gesellschaftliche Verhältnisse als Hauptergebnis einstellen.

Daher wird ein solcher Staat von muslimischen Gelehrten weltweit zunehmend abgelehnt. Einer der ranghöchsten Geistlichen Irans, Großayatollah Hossein Ali Montazeri (gest. am 19.12.2009, Anm. d. Red.), betrachtet den Islamischen Staat und den Obersten Führer als blasphemische Konzepte. Sunnitische Gelehrte von Marokko bis Indonesien haben das ganze Mischmasch als dem Geist des Islam völlig entgegengesetzt verurteilt.

Stattdessen arbeiten reformorientierte Muslime heute an einem neuen Verhältnis zwischen Islam und Politik, das uns zur Praxis von Abu Bakr und Umar zurückbringt. Der Koran spricht von der Gemeinschaft, nicht vom Staat. Daher sollte es bei Politik im Islam um die Schaffung einer vielfältigen, politisch lebendigen Gemeinschaft von BürgerInnen gehen. Das ist etwa der Standpunkt des Liberal Islam Network in Indonesien, das Millionen junger AnhängerInnen hat. Hauptelement bei der Schaffung eines politischen Gemeinwesens zur Zeit von Abu Bakr und Umar war freiwillige Assoziation auf Basis von Beratung und Zusammenarbeit. Und Schura, argumentiert das Network, kann heute einfach als Abhaltung von Wahlen interpretiert werden.

*) Übersetzt von Hamid Algar, Mizan Press, 1982

Ziauddin Sardar ist Buch- und Fernsehautor in London und lehrt u.a. Postcolonial Studies an der City University London. Näheres siehe u.a.
http://en.wikipedia.org/wiki/Ziauddin_Sardar


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