Geschäfte am seidenen Faden

Von Robert Poth · · 2004/11

Das abrupte Ende der Einfuhrquoten für Textilien und Bekleidung im Norden wird zu einer weltweiten „strukturellen Anpassung“ in Exportländern des Südens führen. Für eine „Abfederung“ dieses Prozesses wurde bislang nicht Sorge getragen.

Ob in den USA, in der EU, in Bangladesch, Mauritius, Mexiko oder der Türkei: Seit Jahresbeginn rührten nationale Herstellerverbände der Textilbranche die Trommel, um das Auslaufen der Quotenregelungen im Textil- und Bekleidungshandel gemäß dem ATC (siehe Kasten) mit Ende 2004 zu verhindern. In der Istanbul Declaration, unterzeichnet auch vom Fachverband der österreichischen Textilindustrie, wird der drohende Verlust von 30 Millionen Arbeitsplätzen beschworen – und noch dazu in vielen Ländern, die an der „Front des Kriegs gegen den Terror“ stünden wie Malaysia, Marokko oder Indonesien. Sündenbock Nummer Eins ist China: Der Exporterfolg des asiatischen Riesen sei eine Folge der gezielten Unterbewertung des chinesischen Yuan und der Subvention der Exportindustrie unter anderem durch Billigkredite.
China, so wird befürchtet, werde daher zusammen mit Indien in wenigen Jahren den Weltexportmarkt insbesondere für Bekleidung dominieren und einen Großteil der Konkurrenz in anderen Entwicklungsländern regelrecht ausradieren. Dieses Szenario stützt sich auf die Geschwindigkeit, mit der chinesische Exporte etwa in den USA die Konkurrenz in Produktkategorien verdrängt haben, für die früher Einfuhrquoten galten – und offenbar auch auf die Millionen junger Frauen aus ärmeren chinesischen Provinzen, die bereit sind, zu niedrigen Löhnen und für ausbeuterische und teils kriminelle Firmen 12-Stunden-Schichten sieben Tage die Woche zu arbeiten.

Schreckensszenarien wie das der Istanbul Declaration dürften jedenfalls übertrieben sein, wenn auch einschlägige Studien und Prognosen übereinstimmend von rasch steigenden Marktanteilen chinesischer Exportprodukte in den USA und der EU ausgehen. Wie rasch und auf wessen Kosten scheint aber ziemlich ungewiss. Die Prognosen für Chinas Marktanteil etwa am US-Bekleidungsmarkt (derzeit 17%) schwanken zwischen 28% und 70%. Sogar in Bezug auf Indien, das man ebenfalls zu den großen Gewinnern zählt, wird in einer im Februar veröffentlichten umfangreichen Studie aus der EU-Textilbranche Skepsis geäußert: Sri Lanka und sogar Bangladesch könnten besser positioniert sein.

Genau diesen beiden Ländern prophezeien aber andere Studien Arbeitsplatzverluste, insbesondere in der Bekleidungsindustrie, die in die Hunderttausende gehen. Einschneidende Verluste werden auch für Mexiko, El Salvador, die Dominikanische Republik, einige afrikanische Länder, Indonesien und die Türkei befürchtet. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass der Preisvorteil von Ländern mit Zollpräferenzen oder Zollfreiheit nicht ausreichen wird, um mit chinesischen oder indischen Exporten konkurrieren zu können. Für Indien und China spricht auch ihre starke „vertikale Integration“ von der Rohstoffbasis über die Garn- und Stoffherstellung bis zum Nähen des Endprodukts. Das wird auch deshalb wichtiger, da die Aufteilung der Produktion auf mehrere Länder zur Akkumulation von Zöllen führen kann, die in einer quotenlosen Zukunft preisbestimmend sein werden. Zweifellos sind jedenfalls Standorte gefährdet, die ihre Existenz vor allem einer unausgeschöpften Länderquote verdanken: Sie dürften als erste zugesperrt oder aus dem Geschäft gedrängt werden.
Dessen ungeachtet sind generelle Vorbehalte gegenüber diesen Prognosen angebracht. Eine Aufwertung des Yuan gegenüber dem US-Dollar um 30 Prozent würde das Bild erheblich verändern; ebenso auch Kapazitätsprobleme: Die Branche war in China dieses Jahr mit steigenden Zinsen und wie die Exportindustrie generell mit einem überraschenden Arbeitskräftemangel konfrontiert, was eine Abkehr von der bisherigen Niedriglohnpolitik einleiten könnte. Unklar ist auch, in welchem Ausmaß die USA oder die EU zu Schutzmaßnahmen gegen rasch steigende Einfuhren aus China oder anderswo greifen werden. Sowohl ATC-Bestimmungen als auch die WTO-Regeln im Allgemeinen bieten dafür breiten Spielraum. Es kann also riskant sein, in China (oder Indien) zu produzieren oder produzieren zu lassen.

Auch wird offenbar angenommen, dass im Bekleidungsgeschäft nur das vor allem preisorientierte Geschäftsmodell mancher Einzelhandelsketten aus den reichen Ländern existiert: Sie zielen auf das Billigsegment ab und bevorzugen eher Anbieter, die große Auftragsvolumina möglichst unabhängig abwickeln können. Markenfirmen dagegen legen mehr Wert auf Qualität, stehen zunehmend unter Druck, Sozialstandards einzuhalten und sind aus beiden Gründen an mehr Kontrolle über die verschiedenen Produktionsstufen und an eher dauerhaften Geschäftsbeziehungen interessiert. Firmen, die kurzlebige Modetrends bedienen, brauchen wiederum vor allem kurze Lieferzeiten und die Fähigkeit zur Abwicklung kleinerer Aufträge. Geographische Nähe zum Zielmarkt könnte daher ein wesentlicher Standortvorteil bleiben.
Trotz dieser Wenns und Abers ist bislang unbeantwortet, wie allfällige ernste soziale und wirtschaftliche Auswirkungen der neuen Situation abgefedert werden könnten. Die britische Entwicklungs-NGO Oxfam etwa fordert die reichen Länder auf, ihrer Mitverantwortung Rechnung zu tragen, die Zölle auf Textil- und Bekleidungsexporte gefährdeter Länder zu senken und die Umstrukturierung ihrer Industrien durch finanzielle und technische Hilfe zu unterstützen. Insbesondere sollte der Mindestanteil an inländischer Wertschöpfung gesenkt werden, der als Bedingung für die zollfreie Einfuhr von Produkten aus den ärmsten Ländern (LDCs) gilt. Das führt bisher dazu, dass etwa ein Großteil der Exporte Kambodschas mit Zöllen belastet wird. Eine Reform dieser „Ursprungsregeln“ ist in der EU immerhin bereits im Gange.

Eine freiwillige Selbstbeschränkung Chinas wäre natürlich möglich, wurde aber von Beijing bisher vehement zurückgewiesen. Auf dem letzten Treffen des Council on Trade in Goods (CTG) am 1. Oktober d.J. am WTO-Sitz in Genf, wo auch die „Anpassungskosten“ thematisiert wurden, rief der chinesische WTO-Botschafter Sun Zhenyu zumindest Weltbank und Internationalen Währungsfonds auf, die negativ betroffenen Länder und Industrien finanziell zu unterstützen. Völlig überraschend erklärte jedoch der Außen- und Handelsminister von Mauritius, Jayen Cuttaree, nach dem selben Treffen, der chinesische Handelsminister hätte ihm freiwillige Exportbeschränkungen „schwarz auf weiß“ zugesagt. Die verbleibende kurze Zeit bis zum Ende der ATC-Quoten könnte also noch spannend werden.

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