Geschichten aus der Weltmusik

Von Thomas Schroedter · · 2004/12

Vor 100 Jahren hat die deutsche Plattenfirma Odeon Toningenieure nach Nordafrika und in die Türkei geschickt. In diesem Jahrhundert haben sich nicht nur die Grenzen der Hörgewohnheiten immer wieder verändert – die räumliche Distanz hat sich überhaupt völlig aufgelöst. Die Welt ist zu einem Dorf geworden, und die Weltmusik zu ihrem musikalischen Etikett.

Wenn wir im Weltmusikregal eines Plattenladens kramen, pendelt unsere Erwartungshaltung irgendwo zwischen Exotik, Transkulturellem, vielleicht aber auch einem Crossover verschiedener „funktionaler Musik“, versetzt mit Einflüssen aus Pop und „autonomer Musik“. Ausgangspunkt dieser Musik ist – ähnlich dem der anderen populären Musikrichtungen – eine mit dem Siegeszug des Kapitalismus einhergehende Weiterentwicklung von Tonträgern, die es – und das ist allerdings neu in der Geschichte der Musik – möglich machte, dass Musik unabhängig vom Produzierenden gespielt und vervielfältigt werden kann. Ende des 19. Jahrhunderts begann sich die erste Form der Weltmusik in den USA zu ihrer ersten Blüte aufzuschwingen. Der Jazz als ein Stilmix aus der Musik der SklavInnen, die aus Westafrika in die USA verschleppt worden waren, und europäischen Einflüssen boomte als New Orleans Jazz und als Hot Jazz. Als populäre Musik war er eine offene Musik, als Dixieland wurde er gebleicht und als „Negermusik“ begeisterte er die europäische Bohème in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. So wurde die erste Weltmusik bald zum Ausgangsstoff der Popmusik, und das Etikett Weltmusik wurde anderen Musikstilen verliehen. Auch bei den Vorläufern der heutigen Weltmusik hat die technische Entwicklung von Tonträgern maßgeblichen Einfluss auf die Musik genommen. Die Grenzen der Hörgewohnheiten wurden in immer kürzeren Zeitabständen überschritten. Wesentlich dabei war die Überwindung von räumlicher Distanz, vor allem der Zugriff einer größeren Schicht von Konsumierenden auf außereuropäische Musik. Die deutsche Plattenfirma Odeon war eine der ersten, die in diesem Geschäft mitmischte. Schon im Jahre ihrer Gründung, 1904, schickte sie Toningenieure nach Nordafrika und in die Türkei. Innerhalb von nur zwei Jahren stieg die Zahl der im Odeon-Katalog angebotenen Schellackplatten mit außereuropäischem Repertoire auf 11.000 Titel an. Erfolgreich war in den Zwanzigern parallel zum Jazz vor allem Musik aus Südamerika. Der aus dem Rio del la Plata-Becken kommende Tango eroberte die Tanzsäle in Paris, Berlin und Wien. Zum ersten Mal bestimmte der Musikstil einer Region des Südens die musikalischen Modetrends im Norden. Musikproduzierende aus dem Süden, vor allem aus Argentinien, traten hierbei nicht nur als RohstofflieferantInnen, sondern auch als Exporteure von Fertigprodukten auf. Dies bedeutete selbstverständlich auch eine immense Stärkung des Selbstbewusstseins der Künstlerinnen und Künstler. Ähnliches wiederholte sich beim Bossa Nova, den Brasilien in den frühen Sechzigern exportierte. Anfang der 1970er Jahre nahmen Ska und Reggae die Tradition von Tango und Bossa Nova auf und zogen nicht nur mit Rohmaterial in die Popmusik ein, sondern eroberten mit Musikern wie Desmond Dekker die Charts. Der Reggae als musikalischer Ausdruck der Rastafari-Bewegung war explizit politisch und zugleich spirituell orientiert. Die selektive Adaption dieser politischen Spiritualität durch die (Sub-)Kulturen des Nordens und insbesondere ihre Einbettung in esoterische Weltbilder verweisen darauf, wie stark der projektive Charakter der Rezeption von außereuropäischer Musik ist. Nicht nur am Beispiel des Reggae sind dabei drei Grundzüge festzustellen: der exotisierende, der transkulturelle und der politische Blick. In der Praxis überlagern sich diese Wahrnehmungen natürlich, und es entwickeln sich oft neue Elemente und Sichtweisen. Um ihren emanzipatorischen von ihrem herrschaftsförmigen Gehalt trennen zu können, lohnt es sich aber, einen Blick auf die „Reinformen“ der Rezeption außereuropäischer Musik zu werfen. Der exotisierende Blick: Bis heute ist beim Blick des europäischen Mainstreams auf die Musikkultur des Südens ein exotisierender Blick dominant, der die Grenze zum Rassismus häufig überschreitet. Dieser Blick ist ein kolonialistischer: Die Angehörigen einer vermeintlichen Moderne blicken auf die authentischen „Wilden“, deren kulturelle Ausdrucksformen zwar als faszinierend fremd, zugleich aber meist auch als minderwertig angesehen werden. Letztendlich steht ein solcher Blick auf das „Andere“ in der Tradition der Völkerschauen, die Hagenbeck und andere seit 1870 in Deutschland durchführten. Bemerkenswert an diesem Konsum des „Exotischen“ ist, dass die RezipientInnen genaue Vorstellungen darüber haben, was überhaupt exotisch und „authentisch“ ist. So wurde beispielsweise die Völkerschau 1885, zu der Bella-Coola-IndianerInnen aus Kanada nach München geholt wurden, zu einem Flop, weil sie keine langen schwarzen Haare und keinen Federschmuck trugen. Die Zeitungen schrieben, die zur Schau gestellten Menschen seien „falsche Indianer“. Diese Tradition setzt sich, wenn auch subtiler, bis heute bei der Rezeption außereuropäischer Musik fort. Die israelische Pop-Diva Noa, die ihre Musik als „globalen Pop“ bezeichnet, beschwerte sich über eine solche Festlegung auf „Authentizität“: „Seit Jahren versuche ich, dem Klischee entgegenzuwirken, dass israelische Musiker entweder orientalische oder politische Lieder machen. Auch eine israelische Sängerin kann universale Popsongs komponieren. Die kolonialistische Konzeption von Weltmusik hat mit der aktuellen Situation nichts zu tun. Nehmen wir Björk: Niemand erwartet von der Isländerin, dass sie nordische Urtöne von sich gibt.“ Der transkulturelle Aspekt: Der Begriff „Weltmusik“ wurde erstmalig vom Musikwissenschaftler Georg Capellen 1905 verwendet. Er bezeichnete mit ihm die Verschmelzung von asiatischer und europäischer Musik und versprach sich davon eine kreative Erneuerung der westeuropäischen Musik. Schon damals war mit dieser „Verschmelzung“ also vor allem die Indienstnahme des (tatsächlich oder vermeintlich) „folkloristischen“ Elementes außereuropäischer Musik für ihre eigene Musikproduktion gemeint – als exotischer Kick. Erst recht gilt dies für die moderne, popmusikalisch orientierte Weltmusik seit den 1980er Jahren. Zu nennen sind insbesondere Peter Gabriel und Sting, die sich mittels ihrer Plattenfirmen Real world und Luaka Bob sicher auch als Förderer nichteuropäischer Popmusik betätigen, zugleich ihre eigenen weltmusikalisch aufgepeppten Musikproduktionen als Produkt einer transkulturellen Synthese verschiedener Stile verstanden wissen wollen. Trotz solcher Kritik wäre es jedoch falsch, Weltmusik oder die Verbindung von verschiedenen Musikstilen auf eine selektive Einverleibung „fremder“ Musikstile in das eigene Repertoire zu reduzieren, die unter den Bedingungen des kapitalistischen Marktes lediglich Herrschaftsverhältnisse reproduziert. Denn in einer Zeit, in der soziale, ökonomische und politische Konflikte zunehmend ethnisiert werden, wird gerade innerhalb der Popkultur Musik produziert, die die gesetzten ethnischen Grenzen explizit überschreitet. Viele „WeltmusikerInnen“ – gleich ob Mainstream oder Subkultur – verstehen sich als GrenzgängerInnen, die ein transkulturelles Konzept des Miteinanders vertreten. Konservative, reaktionäre Kultur- und Zivilisationsbegriffe werden dadurch sozusagen musikalisch widerlegt. Gegen ein konservatives Kulturkonzept stehen in der Bundesrepublik Deutschland vor allem die seit 1981 existierenden Dissidenten, die ihre Musik „Ethnobeat“ nennen. Zwanzig Jahre lang haben sie mit Musikerinnen und Musikern aus Nordafrika und Indien zusammen gearbeitet. Dadurch haben sie ebenso wie Sting oder Peter Gabriel wesentlich dazu beigetragen, dass Künstlerinnen und Künstler aus dem Süden weltweit Gehör bekamen. So sagte zum Beispiel der mittlerweile selbst weltbekannte Raï-Musiker Cheb Khaled, dass die LP „Sahara Electric“ der Dissidenten 1984 der algerischen Raï-Musik den Weg in die Öffentlichkeit gebahnt hätte. Mit ihrem Album „2001: A Worldbeat Odyssey“ nahmen die Dissidenten eine Tendenz auf, die mit dem Einsatz von Samples und elektronischen Instrumenten eine globalisierte Musik schafft, die vermeintliche Authentizität dekonstruiert. Ein weiteres wichtiges Beispiel für moderne transkulturelle Musik ist die London- oder New Dub-Musik, die vor ca. 20 Jahren ihren Anfang nahm. In London griffen die MusikerInnen, die Jamaika hinter sich gelassen hatten, ohne dabei die Traditionen des Reggaes aufzugeben, auf völlig andere Produktionsmittel und auch Produktionsstile zurück als in ihrem Herkunftsland. Die Studios waren teurer, das Netz von MusikerInnen und ProduzentInnen, die „just for fun“ arbeiteten, war längst nicht so dicht wie in Jamaika. So wurde zunehmend mit den digitalen Sounds moderner Keybords und Sample-Maschinen gearbeitet. Was für die Punks die Garage, war für die Dub-Produzierenden das Wohnzimmer: Studio und Büro zugleich. Die politische Botschaft: Viele der MusikerInnen, deren Platten unter der Rubrik „Weltmusik“ zu finden sind oder deren Produktionen mittlerweile aufgrund ihrer Verkaufszahlen in die Pop-Charts gewechselt sind, kommen aus der Tradition des politischen Liedes und des Folksongs. Dieser neben Exotismus und Transkulturalität dritte wesentliche Aspekt der Weltmusik ist in Westeuropa schon seit den 1970er Jahren populär. Auslöser dafür war häufig der Bezug der MusikerInnen auf Befreiungsbewegungen, vor allem aus Lateinamerika. Gruppen wie Inti-Illimani – um nur eine Band zu nennen, deren Platten in keinem Schrank von Solidaritätsbewegten fehlten – wären ohne ihren politischen Hintergrund kaum in Europa populär geworden. Die Rezeption außereuropäischer politischer Musik spiegelte dabei allerdings häufig den Paternalismus und die Projektionen der Solidaritätsbewegung wieder. Doch es gab auch Stimmen, die sich dagegen wandten und die vor allem auf Transkulturalität setzten. Für viele sicherlich überraschend, war es Manfred Mann’s Earthband, die mit dem Song „Brothers and Sisters of Azania“ auf der LP „Somewhere in Africa“ eine frühe, eindeutige Stellungnahme gegen den westlichen Paternalismus formulierte. Diese LP war eine der ersten großen Produktionen, die Popmusik und die Gesänge der schwarzen südafrikanischen Bevölkerung miteinander verband – wohlgemerkt zu einer Zeit, als derlei aus der Sicht des südafrikanischen Regimes ein Sakrileg war. Songs wie die „Africa Suite“ wurden so zu den eindruckvollsten Liedern gegen die Apartheid. Mit Bob Marleys „Redemption Song“, der auf dieser Produktion zu „No Kwazulu“ mutierte, mischte Mann gleich drei verschiedene Stile zu einer neuen Einheit. Insbesondere dieses Lied ist ein Beispiel dafür, wie Musik zu einer universellen Sprache werden kann, bei der die lokalen Besonderheiten in einen globalen Zusammenhang gestellt werden – musikalisch wie politisch. In den Neunzigern waren es vor allem Bands wie die Londoner Asian Dub Foundation, die diese Transkulturalität weiter entwickelten und explizit in einen (linken) politischen Kontext stellten. Sie fügten den Reggae-Wurzeln des Dub Elemente aus der Musik des indischen Subkontinents hinzu. Die Asian Dub Foundation versteht ihre Auftritte zugleich als politische Kundgebung. „Die Musik, die wir machen, überschreitet Grenzen“, rappen sie in ihrem Lied „Jericho“, nicht ohne einen Seitenhieb auf ihr teilweise weißes Publikum: „Du bist multikulturell, wir sind antirassistisch.“ Diese Variante des Dub spielt in Großbritannien unter der zweiten und dritten MigrantInnengeneration mittlerweile eine wichtige Rolle bei der politischen und kulturellen Ortsbestimmung. Auch Manu Chaos Musik, die die Zeitschrift Jungle World einmal zur Musik der „Globalisierungsgegner“ kürte, bedient sich wie die Dub-MusikerInnen einer Collagetechnik: Verweise auf andere Stücke, ergänzt durch Nachrichtenausschnitte oder Tiergeräusche, sorgen dafür, dass die Leichtigkeit der Musik Brüche und Kanten bekommt. Schon als Lead-Sänger der Polit-Punk Gruppe Mano Negra hatte Manu Chao deutlich Stellung bezogen gegen Kapitalismus und Rassismus. Dieser Tradition ist er treu geblieben. Eine Kritikerin schrieb: „Eine Stunde lang scheinen die Kontinente zusammenzudriften, wen kümmern da noch Nebensächlichkeiten wie Börsenkurse.“ Doch zumindest bei Letzterem hat sie Manu Chao offensichtlich missverstanden. Denn er balanciert an der Grenze zwischen Nord und Süd in der Hoffnung auf die große Welle, die sämtlichen Börsenkursen den Garaus macht. Kein Wunder, dass er bei diesem Balanceakt auch für Bands aus Lateinamerika die Türen nach Europa aufgestoßen hat, wie Karamelo Santo aus Argentinien und Panteón Rococó aus Mexiko. Beide Gruppen gehören zu einem Netzwerk von Bands aus Lateinamerika, die sich mit politischen Statements etwa für die EZLN oder die Piqueteros in Argentinien in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ihrer Länder einmischen (vgl. dazu den Artikel von Knut Henkel). Doch dies wird sicherlich nicht die letzte Etappe politischer Weltmusik sein. In Paris gab es in den 1980ern eine Jugendorganisation mit dem Namen „Den Bastarden gehört die Zukunft“. Das genau ist der Ansatz der politischen Weltmusik. Sie kommt in einer Vielfältigkeit und Widerspenstigkeit daher, die den „Kampf der Kulturen“ Ton für Ton und Zeile für Zeile zur Makulatur macht.

Der Autor ist Pädagoge, hat Lehraufträge zu Popmusik und Globalisierung an der Fachhochschule Darmstadt sowie der Universität Paderborn und arbeitet auch als Journalist und DJ.

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