Gewaltiger Energieschub

Von Leo Gabriel · · 2001/03

Porto Alegre – der fröhliche Hafen – im südlichen Brasilien wurde in der letzten Jännerwoche zur Welthauptstadt der Visionen. Hier trafen einander Tausende VertreterInnen sozialer Bewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen aus der ganzen Welt, um Alternativen einer menschenwürdigen Zukunft zu entwerfen. Für SÜDWIND berichtet aus Porto Alegre

War der Gipfel von Porto Alegre der Durchbruch der „internationalen Zivilgesellschaft“ zur alternativen Vision? Manche Beobachter bezweifelten es. Doch die TeilnehmerInnen des „Weltsozialforums“ mit dem Titel: „Eine andere Welt ist möglich“ erlebten eine Vielfalt des Widerstands, die in vielen Regionen dieser Erde bereits Wirklichkeit geworden ist.
Die viel zu kleinen Hörsäle der Päpstlichen Katholischen Universität (PUCA) von Porto Alegre waren erfüllt mit Protestparolen, ausgelassenen Zwischenrufen und spontanem Applaus. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser fröhlichen Grundstimmung leisteten die brasilianischen Gastgeber. Sowohl der Gouverneur dieses südlichsten aller Bundesstaaten Brasiliens, Olivio Dutra, als auch Tarso Genro, der als künftiger Präsidentschaftskandidat gehandelte Bürgermeister von Porto Alegre, äußerten unmissverständlich, was sie von der beim Davoser Gipfel praktizierten Verherrlichung des Neoliberalismus halten.

„Der Neoliberalismus verteidigt und propagiert die Modernität. Aber in seinem Konzept von Modernität erscheint der technologische Fortschritt nicht als Instrument der Verbesserung der Lebensqualität der Bevölkerung, sondern als exklusives und kaltes Instrument der Akkumulation und Konzentration des Reichtums“, so Olivio Dutra bei seiner Eröffnungsansprache.
Der brasilianische Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso konterte umgehend: „Wenn dieser Gaucho aus dem Bauch heraus die soziale Frage auf die Spitze treibt, beweist er damit nur, dass er zu diesen Globalofóbicos gehört, die auf Staatskosten die Angst vor der Globalisierung schüren.“
Am 25. Jänner, dem Eröffnungstag des Gipfeltreffens der anderen Art, tanzten an die 20.000 Menschen in einem „Marsch für das Leben“ durch die weitläufigen Straßen von Porto Alegre. Zur gleichen Zeit schritten etwa 1200 Angehörige der brasilianischen Landlosenbewegung MST zur Aktion. Sie besetzten 300 Kilometer südlich von Porto Alegre eine Genversuchsanstalt des transnationalen Saatgutkonzerns Monsanto. Mit dabei der französische Bauernführer José Bové, der aufgrund seiner spektakulären Besetzungsaktion gegen McDonald’s schon vor Jahren Aufsehen erregt und die Justiz beschäftigt hatte. Ein paar hundert Landlose rissen die dort gezüchteten Sojapflanzen mit der Wurzel aus und veranstalteten danach ein öffentliches Begräbnis der genmanipulierten Pflanzen.
„Die Repräsentanten der USA und der Europäischen Union sind die wirklichen Schwerverbrecher auf dieser Welt“, erklärte Bové vor laufenden Kameras, „denn sie haben nicht nur die BSE-verseuchten Gehirne der Rinder, sondern auch das durch Antibiotika und Genmanipulation zu Tode geschwächte Immunsystem des Menschen auf dem Gewissen.“

Gleichzeitig kündigte Rafael Alegría, der Vorsitzende von Via Campesina (einem weltumspannenden Netzwerk von Bauernund Landlosenorganisationen; vgl. SWM 4/00 und 9/00, jeweils Seite 6/7), eine weltweite Kampagne gegen „Nahrungsmitteldumping mit unlauteren Mitteln“ an.
Die brasilianische Bundesregierung reagierte ungewöhnlich heftig auf Bovés Genpflanzen-Zerstörung. Sie erteilte dem französischen Bauernführer den Befehl‘ binnen 24 Stunden das Land zu verlassen, was bei den ForumsteilnehmerInnen einen Wirbelsturm der Entrüstung hervorrief. Buchstäblich in letzter Sekunde verhinderten sie die Verhaftung Bovés in seinem Hotel. Der Gouverneur von Rio Grande do Sul erklärte in der Zwischenzeit die Angelegenheit zur Landessache und hob den Ausweisungsbescheid der Regierung Cardoso auf.

Aber nicht nur die weltweit vernetzten Bäuerinnen und Bauern zeigten ihre Zähne: Die stark vertretenen LateinamerikanerInnen kündigten ihren frontalen Kampf gegen die von der US-Regierung initiierte Initiative einer riesigen kontinentalen Freihandelszone, der so genannten ALCA (Alianza para el Libre Comercio para las Americas) oder FTAA (Free Trade Area of the Americas) an. Diese Initiative wird deshalb auch bei den künftigen Wirtschaftsforen in Buenos Aires am 6. und 7. April und in Quebec (Kanada) vom 17. bis 22. April Gegenstand weltweiter Mobilisierungen sein.
Auch die Themen Schuldenerlass, Kampf gegen Privatisierungen und Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen (letzteres auf Betreiben der zahlenmäßig stark vertretenen Delegation von ATTAC-Frankreich) standen im Mittelpunkt der Diskussionen. Sie fanden Eingang in den zwei Seiten langen „Mobilisierungsappell von Porto Alegre“, der während der allabendlich stattfindenden Versammlungen von OrganisationsvertreterInnen erarbeitet wurde.

Aus Europa waren neben den TeilnehmerInnen aus Frankreich vor allem Italien und Spanien stark präsent. Der angelsächsische Raum war ebenso schwach vertreten wie der deutschsprachige. Aus Österreich waren nur Vertreter der Demokratischen Offensive und des ÖGB gekommen. Auffällig war auch die Abwesenheit von Delegationen aus Asien. Sie konnten ebenso wie viele AfrikanerInnen wegen der hohen Reisekosten nicht teilnehmen.

Doch an Publikum und DiskutantInnen mangelte es dennoch nicht. Die Vormittagsvorträge der zahlreichen namhaften Persönlichkeiten alternativer und oppositioneller Strömungen aus Wissenschaft, Kultur und Politik kreisten um vier zentrale Themenkomplexe: Finanzmärkte, Nachhaltige Entwicklung, Demokratisierung und Konfliktlösung. Sie waren ebenso gut besucht wie die nachmittäglichen Workshops. Total überlaufen waren die so genannten „Testimunhos“ (Zeugnisse) von Eduardo Galeano, Frei Betto, Augusto Boal, Danielle Mitterand, Joăo Pedro Stedile und José Bové.
Angesichts der Fülle des Angebots ging das an zwei Tagen stattfindende Parlamentariertreffen ebenso unter wie eine eigene Konferenz der ziemlich stark vertretenen indianischen Organisationen. Bemerkenswert war jedoch die Tatsache, dass sich die ParlamentarierInnen nicht nur zu einer gemeinsamen Schlusserklärung durchringen konnten, sondern in Porto Alegre auch ein „Internationales Parlamentariernetzwerk“ konstituierten. Dieses soll „die Aktionen der sozialen Bewegungen und Bürgerinitiativen wirksamer unterstützen“.

Noch ist es zu früh, über die Ergebnisse des Weltsozialforums von Porto Alegre Bilanz zu ziehen. Was wird in die Geschichte der internationalen Zivilgesellschaft eingehen? Die konzeptuelle Arbeit in Bezug auf die „Solidarökonomie“, die Texte der aktionsbezogenen Schlusserklärungen oder die allgemeine Aufbruchsstimmung? Auch ob die rege Publikumsbeteiligung zu einem Qualitätssprung in der Bildung internationaler Netzwerke führen wird, bleibt den zukünftigen Mobilisierungen vorbehalten. Fest steht nur, dass Porto Alegre allen BesucherInnen einen gewaltigen Energieschub für die zukünftige politische Arbeit gegeben hat. Oder wie es der Alternativökonom und Befreiungsphilosoph Euclidio Mance formuliert hat: „Jetzt wissen wir, dass wir eine Macht darstellen – und zwar in dem Maße, in dem es uns gelingen wird, globale Netzwerke zu bilden.“


Joăo Pedro Stedile

Mitglied des Leitungsgremiums der brasilianischen Landlosenbewegung MST:

Porto Alegre hat zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine doppelte Rolle gespielt: Einmal hat es einen Raum geschaffen, in dem die Menschen ohne den Zwang, zu einem einheitlichen Abschlussdokument zu kommen, ihre Ideen ausdrücken konnten. Und zweitens konnten wir diesen Raum nutzen, um uns über einen Plan des gemeinsamen Kampfes zu verständigen.
Wir befinden uns in einem Augenblick des Übergangs. Die Zeit der überbürokratisierten Organisationen wie der Internationalen der Gewerkschaften oder der Parteien ist vorbei. Doch wir wissen noch nicht genau, welche Alternativen wir aufbauen müssen. Und niemand weiß, wie lange dieser Prozess dauern wird. Doch wie schon Mao sagte: Auch für einen langen Marsch muss man die ersten Schritte setzen. Und wir befinden uns bei diesen ersten Schritten.


Miguel Angel Lluco Texe

Präsident der indianischen PachacuticBewegung in Ecuador:

Für uns in Ecuador ist es vor allem die Auslandsverschuldung, die schwer auf uns lastet. Unsere Regierungen haben dem Internationalen Währungsfonds gegenüber immer mehr nachgegeben und die Gesundheit, die Wohnverhältnisse und die Bildung unserer Völker vernachlässigt. Diese Politik ist vor allem den transnationalen Konzernen, die sich in unserem Land niedergelassen haben, zugute gekommen. Besonders den Erdölgesellschaften, die unsere Luft und unser Wasser verschmutzen. Viele Tiere und Menschen sind dadurch umgekommen.
Unsere Reaktion auf diesen Prozess ist die Mobilisierung, um unsere nationale Souveränität zu retten. Wir haben die Erdölfirmen in den USA geklagt, aber die Gerichte stellen sich taub und sagen, dass sie z.B. für Texaco nicht zuständig sind.


Danielle Mitterand

Vorstand der Menschenrechtsorganisation France Libertés:

Im Unterschied zu ähnlichen Treffen in der Vergangenheit sind die Leute nicht nur hierher gekommen, um anzuklagen, sondern um konkrete Vorschläge zu machen, wie man ein solidarischeres Leben führen kann. Porto Alegre markiert eine irreversible historische Etappe auf dem Marsch zu „einem möglichen anderen Leben“.
Die Globalisierung der Finanzwelt hat eine Gegenmacht hervorgebracht: die soziale Globalisierung. Was heute z. B. in Österreich passiert, muss man auch im Zusammenhang dieser weltweiten Auseinandersetzung sehen.


Aloisio Mercadante

Langjähriger Chefökonom der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), seit kurzem auch deren Internationaler Sekretär:

Wir haben in Brasilien, ausgehend von einem neuen Strategiekonzept der PT, Allianzen mit den verschiedensten Organisationsformen der zivilen Gesellschaft geschlossen: mit den Volksbewegungen, mit den Landlosen, mit den Nicht-Regierungsorganisationen und verschiedenen Vereinigungen. Das hat uns zu einem wirklichen Durchbruch auf der lokalen Ebene der Gemeinden verholfen und zu neuartigen Modellen in der öffentlichen Verwaltung geführt. Wie hier in Porto Alegre, wo wir partizipative Mechanismen bei der Budgeterstellung eingeführt haben. Aber auch Maßnahmen wie Kinderstipendien, die „Banco del Pueblo“, die den Leuten ein Auskommen ermöglicht, oder unser Einsatz für die Verwirklichung einer echten Agrarreform gehören dazu.
Das heißt erstens: Aufbau einer solidarischen Ökonomie, die die derzeit bestehende Wettbewerbsökonomie ersetzt. Zweitens müssen wir uns diesem historischen Ablösungsprozess, der sehr langsam und kompliziert sein wird, stellen und ihn international vorantreiben. Erst durch die internationale Vernetzung können wir diesem neuen Menschenbild zum Durchbruch verhelfen.


François Houtart

Belgischer Weltpriester und Befreiungssoziologe, Direktor des Centre Tricontinental in Löwen, Belgien:

Hier in Porto Alegre sind die Initiativen der zivilen Gesellschaft vertreten. Aber eigentlich gibt es ja zwei zivile Gesellschaften: die von oben und die von unten, und deren Projekte sind total entgegengesetzt. Die Zivilgesellschaft von oben, das ist Davos, wo sich die Leute den Kopf zerbrechen, wie die Welt auf der Grundlage eines kapitalistischen Systems aufgebaut werden kann. Im Gegensatz dazu glauben wir, dass die Welt nicht nach der Logik des Marktes gestaltet werden darf, sondern nach einer anderen Logik, nämlich der der menschlichen Bedürfnisse.


Frei Betto

Brasilianischer Befreiungstheologe, Autor des Buches „Gespräche mit Fidel“:

Es geht nicht darum, dass die zivile Gesellschaft die Macht über die politische Gesellschaft ergreift. Es muss vielmehr zu einer relativen Autonomisierung beider Sphären kommen, die einander ergänzen.
Hier in Brasilien zum Beispiel haben wir das durch „Volksverwaltungen“ wie in Rio Grande do Sul erreicht. Diese sollen die Fehler des sogenannten Realsozialismus vermeiden, der die Volksorganisationen zu einem Transmissionsriemen der politischen Gesellschaft gemacht hat.
Für den Dialog und den Austausch zwischen den einzelnen Sektoren der Zivilgesellschaft – hier in Brasilien sind es die pastoralen Bewegungen, die Volksbewegungen, die Gewerkschaften und die unabhängigen NGOs – sind die Medien von besonderer Bedeutung. Ich selbst bin Journalist gewesen, noch bevor ich mich für das Priesteramt entschieden habe. Für mich sind die Medien nicht die „Vierte Gewalt“, für mich sind sie die „Erste Gewalt“.
Gerade deshalb müssen wir ein alternatives System der Kommunikation schaffen, um uns gegen jene transnationalen Informationskonzerne durchzusetzen, die das reale Leben der Menschen verschweigen. In Brasilien haben wir bereits relativ viel erreicht: Neben alternativen Radios und Informationsnetzwerken beginnen wir jetzt auch mit alternativen Fernsehstationen, die den Gemeinden gehören. Dieses Forum hier ist ja selbst ein gigantisches Experiment alternativer Kommunikation.


Der Autor arbeitet seit vielen Jahren als Journalist, Buchautor und Filmemacher zu Lateinamerika. Er ist Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für zeitgenössische Lateinamerikaforschung in Wien.

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