Historische Verbündete und ungleiche Partner

Von Werner Hörtner · · 2006/04

Viel wird gesprochen von der gemeinsamen Geschichte und den engen kulturellen Verbindungen zwischen Europa und Lateinamerika. Eine „Große strategische Partnerschaft für das 21. Jahrhundert“ ist das Ziel der EU – doch auf welcher Basis soll diese Allianz aufgebaut werden?

Las Americas“, sagt man südlich des Rio Grande, wenn man die beiden großen Blöcke des Kontinents bezeichnet, den nördlichen, anglo-frankophonen Teil, also Kanada und die Vereinigten Staaten, und den iberoamerikanischen Teil. Sicherlich eine viel treffendere Bezeichnung, dieser Plural, als unser „Amerika“, das sowohl den ganzen Kontinent als auch – eine leider weit verbreitete Unsitte – die Vereinigten Staaten von Amerika meinen kann, so die imperiale Arroganz der Großmacht übernehmend, die sich schon bei ihrer Gründung als kontinentaler Hegemon empfand. „Las Americas“ drückt wenigstens sprachlich eine Differenzierung, eine Verschiedenheit aus.
In der Monroe-Doktrin von 1823 („Amerika den Amerikanern“ – wobei mit dem ersten Substantiv der ganze Kontinent und mit dem zweiten die USA gemeint waren) drückten diese selbst ernannten United States of America bereits deutlich ihren Herrschaftsanspruch über den „Rest“ des Kontinents aus. In der Praxis sollte es aber noch länger dauern, bis der auf die Kolonialzeit zurückgehende Einfluss der europäischen Mächte – Spanien, Portugal und Großbritannien – von den USA zurückgedrängt wurde.

Die Kolonialherrschaft der europäischen Mächte lebt in der lateinamerikanischen Geschichtsschreibung als eine Zeit der gewaltsamen Eroberung, der Unterdrückung, der Zwangs-Evangelisierung, der Ausrottung der indigenen Bevölkerung weiter.
In der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Lateinamerika für Europa in erster Linie ein Migrations-Kontinent. Millionen von Menschen aus der verarmten „Alten Welt“ emigrierten aus wirtschaftlichen Gründen in die Länder zwischen Rio Grande und Feuerland; in Zusammenhang mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus folgte dann eine zweite Einwanderungswelle aus politischen Gründen. Die zwischenstaatliche Zusammenarbeit zwischen europäischen und lateinamerikanischen Ländern war nur sehr schwach ausgeprägt. Gerade in der Zeit des Zweiten Weltkriegs banden die USA die Staaten des „anderen Amerika“ mit mehr oder weniger starkem ökonomischen und politischen Druck an ihre eigenen Interessen. Der „Hinterhof“ der USA war in der Praxis jahrzehntelang ein Gefängnis, aus dem kein Entkommen möglich war. Einzig Kuba gelang 1959 der Ausbruch; alle anderen Versuche – Guatemala, Nicaragua, Grenada, Panama, Chile – wurden durch militärische Interventionen oder durch politisch-ökonomischen Druck niedergeschlagen.

Das wieder erwachte europäische Interesse an Lateinamerika war erst eine Folge des 1957 mit den Verträgen von Rom einsetzenden Einigungsprozesses in der Alten Welt. Als politischer Akteur trat Europa jedoch erst in den 1980er-Jahren auf den Plan, und zwar mit einer Friedensinitiative für die krisengeschüttelte zentralamerikanische Region. Seit 1984 fanden die so genannten San José-Treffen statt, so benannt nach dem Konferenzort, der costaricanischen Hauptstadt. Bei diesen Treffen – in der Regel auf Ministerebene – zwischen den zentralamerikanischen Ländern und den Staaten der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ging es darum, eine friedliche Beilegung der bewaffneten Konflikte in der Region zu erzielen.
Aus diesem politisch-humanitären Engagement ergab sich aber bald auch eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit bzw. Wirtschaftshilfe, da die EWG erkannt hatte, dass nur eine ökonomische Entwicklung Mittelamerikas eine dauerhafte Befriedung der Region sichern konnte. Gefördert wurde auch die zwischenstaatliche Zusammenarbeit der zentralamerikanischen Staaten, etwa durch gemeinsame Projekte im Energiesektor oder Verkehrswesen.
Der engste und wichtigste Partner Lateinamerikas ist seit langem Spanien, vor allem nach dem Ende des faschistischen Franco-Regimes 1975. Zur Stärkung dieser Beziehung finden seit 1991 alljährlich Gipfeltreffen auf Ebene der Regierungs- und Staatschefs zwischen den lateinamerikanischen Staaten, Spanien und Portugal statt. Mehr als die Hälfte des spanischen Budgets für Entwicklungszusammenarbeit fließt nach Lateinamerika, und Spanien ist auch in wirtschaftlicher Hinsicht der wichtigste Partner.
Es sollte noch lange dauern, bis die Europäische Gemeinschaft bzw. die spätere Europäische Union eine engere Zusammenarbeit mit Lateinamerika in ihre Politik aufnahm. Vorreiter war die Entwicklungspolitik. 1992 erließ der Europäische Rat eine Verordnung über die finanzielle und technische Hilfe zugunsten der Entwicklungsländer Asiens und Lateinamerikas. Seit damals stellt die Europäische Kommission fünfjährige Leitlinien zur Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika auf, denen es jedoch an einem festen und nachhaltigen Konzept mangelt.
Dieser eher punktuellen, von nationalen Eigeninteressen oder aktuellen Erfordernissen diktierten Zusammenarbeit sollen nun die lateinamerikanisch-europäischen Gipfeltreffen einen strukturierten Rahmen geben.
Beim ersten Gipfelreffen zwischen der EU und Lateinamerika Ende Juni 1999 kamen 48 Staats- und Regierungschefs von beiden Seiten des Atlantiks zusammen. Dabei wurde eine „Strategische Partnerschaft für das 21. Jahrhundert“ beschlossen, die auf den drei Säulen Wirtschaftskooperation, Dialog und Entwicklungszusammenarbeit ruhen soll. 2002 folgte in Madrid ein zweiter Gipfel und im April 2004 in Guadalajara in Mexiko der dritte. Waren bei den ersten Konferenzen jeweils 33 lateinamerikanische und karibische Länder sowie die 15 EU-Mitglieder anwesend, so trafen in Guadalajara bereits 25 EU-Staaten mit den lateinamerikanischen Ländern zusammen.
Die Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika spielen sich auf mehreren Ebenen ab. Einmal die politisch-institutionelle Ebene: Gipfeltreffen wie die vorhin erwähnten Außenministertreffen, Konferenzen von Abgeordneten des Europäischen und des Lateinamerikanischen Parlaments und schließlich Rahmenabkommen der EU mit lateinamerikanischen Ländern in verschiedenen Bereichen.
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten der Europäischen Union und Lateinamerika hat überraschenderweise stark an Bedeutung verloren. Die Außenhandelsbeziehungen Lateinamerikas sind traditionellerweise nach Norden gerichtet; die USA sind weitaus der größte Investor und Handelspartner. Dennoch mutet es überraschend an, dass die in der letzten Zeit verstärkten institutionellen Verbindungen zwischen EU und Lateinamerika sich nicht in einem Anstieg des Handelsvolumens niederschlagen. Eine Ausnahme bilden hier die Staaten des Mercosur, des „Gemeinsamen Markts“ im südlichen Lateinamerika.
Die Regierungen in Brasilien und Argentinien und auch das jüngst beigetretene Venezuela sind deutlich auf eine Stärkung des Mercosur als Wirtschaftsblock, aber auch im Kontext der lateinamerikanischen Integrationsbemühungen ausgerichtet. Die Entwicklung des Bündnisses zwischen dieser Gemeinschaft und der EU wird für die künftige Bedeutung Europas im lateinamerikanischen Kontinent von entscheidender Bedeutung sein.
Eine andere Ebene der Beziehungen ist die soziale und humanitäre. Hier nimmt die EU so etwas wie die Rolle eines Sozialpartners ein. Sie ist der bedeutendste Geber von Entwicklungshilfe – allerdings nur auf der bilateralen Ebene. Die einzelnen EU-Staaten decken fast 40 Prozent der Gesamthilfe für Lateinamerika ab, während die Entwicklungszusammenarbeit der Kommission vor allem in die AKP-Staaten (ehemalige Kolonialstaaten in Afrika, Karibik und Pazifik), Osteuropa, Mittelmeerländer und Asien fließt.

Das transatlantische Dreieck: Eine Bestandsaufnahme der Beziehungen von Europa zu Lateinamerika ist undenkbar, ohne dabei die Rolle der Vereinigten Staaten in Betracht zu ziehen. Seit der eingangs schon erwähnten Monroe-Doktrin entwickelten die USA und Europa ein Konkurrenzverhältnis, das sich in der letzten Zeit jedoch substanziell zu verändern beginnt und immer mehr die Umrisse einer Arbeitsteilung annimmt. Trotz aller gegenteiliger Rhetorik aus Brüssel und aller Gipfeltreffen ist, in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, ein Rückzug Europas aus Lateinamerika festzustellen. Die EU ist wesentlich mehr auf die Osterweiterung konzentriert als auf eine Verstärkung der Beziehungen zu Lateinamerika (mit Ausnahme der Allianz mit der Mercosur-
Region).
Eine Analyse der derzeitigen Lateinamerika-Politik Washingtons ist schwer zu formulieren, ist die Weltmacht Nummer Eins politisch und militärisch doch stark in ihre Probleme im Nahen und Mittleren Osten verwickelt. Was den lateinamerikanischen Staaten etwas mehr Gestaltungsfreiraum gibt – siehe etwa Venezuela, Argentinien und Brasilien.
Die Statistiken zeigen deutlich, dass in wirtschaftlicher Hinsicht bezüglich Lateinamerika keine Konkurrenzbeziehung zwischen Europa und den USA besteht. Die EU hat in den letzten Jahren gegenüber den Vereinigten Staaten in Lateinamerika Marktanteilsverluste hinnehmen müssen, sowohl im Export als auch im Import, während die USA ihre wirtschaftliche Machtposition ausgebaut haben.
Auch in der seit dem 11. September 2001 die Weltpolitik dominierenden sicherheitspolitischen Agenda ist Lateinamerika kein Streitfall zwischen Europa und den USA. Gerade in diesem Bereich haben sich Kursveränderungen hin zur US-Position vollzogen. Das zeigt sich am deutlichsten bei der EU-Politik gegenüber Kuba und Kolumbien. Die Beziehungen zu Kuba sind seit Jahren großteils auf Eis gelegt, und in Kolumbien unterstützt die EU rhetorisch den „Friedensprozess“ von Präsident Uribe Vélez mit den Paramilitärs, der de facto eine Legalisierung dieser massiv in den Drogenhandel, die Vertreibungen und politische Morde involvierten Banden bedeutet.
In politischer Hinsicht kann jedoch festgestellt werden, dass das Missbehagen gegenüber der radikalen Hegemonialpolitik von Präsident Bush Lateinamerika und Europa wieder näher zusammenbringt. Diese Gemeinsamkeit könnte auch für die nächste Zukunft einen Impuls darstellen, die Zusammenarbeit zu verstärken und zu verbreitern und der „Strategischen Partnerschaft für das 21. Jahrhundert“ ein kräftiges neues Leben einzuhauchen.

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