Jenseits der Loya Jirga

Von Robert Lessmann · · 2002/07

Für den Kampf gegen das Terrorismus-Phantom werden Milliarden Dollar ausgegeben, doch die Hilfe für das zerstörte Afghanistan tröpfelt nur langsam – das gilt auch für die bei der Geberkonferenz in Tokio zugesagten Mittel.

Der alte Mann mit dem langen grauen Bart und der Schaufel lacht und winkt uns zu. Er steht an der Straße von Kunduz nach Kholm, die am Hindukusch entlangführt. Als einsamer Straßenbauer schaufelt er Schlaglöcher zu. Kriegsherr Gulbuddin Hekmatyar hatte diesen Abschnitt einst so gründlich verminen lassen, dass es heute mehr Schlaglöcher gibt als Asphalt darum herum. Man fährt deshalb oft neben der Straße, obwohl dort erst wirklich die Gefahr lauert. Überall können Minen liegen. Einsam ist nur der Alte in diesem Abschnitt. Dutzende Männer, Frauen und Kinder bevölkern die Straße und schaufeln. Für ihren kleinen Dienst am Wiederaufbau erwarten sie sich von den Vorbeifahrenden etwas Geld, für ein Brot vielleicht oder einen Tee.
Dreiundzwanzig Jahre Krieg in Afghanistan haben Spuren hinterlassen: Zerschossene Dörfer und Panzer, Flüchtlingslager säumen den Weg, und natürlich „Märtyrergräber“, kenntlich durch Holzstangen mit Fähnchen oder kleinen Tafeln daran.
Als wir am Lager Khola Alwal, zwei Stunden von Mazar-e Sharif, vorbeikommen, stürmen uns Bewohner entgegen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und UNICEF haben hier 1.400 Familien provisorisch untergebracht. Es sind bereits viele feste Lehmziegelhäuser entstanden und bezogen. In dieser Zone hatten im November US-amerikanische Kampfjets die Taliban „chirurgisch“ die Passhöhe hinaufgetrieben, wo sie auf der anderen Seite von den Nordallianz-Truppen General Dostums erwartet wurden. Ihre Panzer sind in Stücke zersprungen. Übrig sind nur Häuflein verschmolzenen Stahls.
„Wir Lagerinsassen befinden uns in einer Art Koma-Zustand“, sagt einer, der im früheren Leben Ingenieur war. „Seit zwei Monaten haben wir keine Lebensmittel bekommen. In der letzten Woche sind zehn Kinder an Malaria und Cholera gestorben.“ Die internationalen Hilfsorganisationen haben schnell und effektiv gehandelt. Doch die Herausforderungen sind riesig. Schätzungsweise 3,7 Millionen Flüchtlinge in den Nachbarländern und 1,5 Millionen in Afghanistan selbst wollen in ihre Heimat zurück. Bis Mitte Juni sind eine Mio. Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt. Das UNHCR rechnet mit weiteren 100.000, die nicht erfasst wurden. Das übertrifft die Erwartungen und sprengt die Berechnungen. Die HeimkehrerInnen kommen zu schnell, die Hilfe zu langsam. Dem UNHCR fehlen 100 Millionen Dollar, um seinen (ohnehin zu knapp berechneten) Finanzbedarf zu decken. Das Welternährungsprogramm FAO spricht von einer Finanzierungslücke von 138 Millionen Dollar. Die auf der Tokioter Geberkonferenz vom Jänner zugesagten Mittel „tröpfeln extrem langsam“, sagt ein Mitarbeiter des Entwicklungsprogramms UNDP. Zu langsam: Rund neun Millionen Personen, 40 Prozent der Bevölkerung, sind von Nahrungsmittelhilfe abhängig.
Nach drei Jahren Dürre schuf der Regen vom Frühjahr Voraussetzungen für eine gute Ernte. Allerorten sieht man Bauern ackern. Doch viele Felder liegen brach und viele Flächen sind durch Minen unbrauchbar. Als würde ein Fluch auf den Menschen liegen, wird der Norden nun auch von einer Heuschreckenplage heimgesucht. So oder so, die Nahrungsmittelvorräte sind aufgebraucht. Die FAO warnt: Im Juli drohen Hungersnöte. Und der nächste Winter kommt bestimmt.

Das Fazit daraus kann nur lauten: Eingegangene Verpflichtungen müssen umgehend eingehalten werden. Wo Milliarden für den „Terrorkrieg“ ausgegeben werden, muss auch Geld für die Not leidende Zivilbevölkerung da sein. Nothilfe wird ein fester Bestandteil der Afghanistanhilfe bleiben müssen. Ernährungssicherheit, Einkommens- und Grundbedürfnissicherung müssen oberste Priorität haben – was immer man sonst noch für wünschenswert halten mag.
„Sobald die ausländischen Soldaten weg sind, werden die Kämpfe wieder losgehen.“ Der exilafghanische Offizier in Duschanbe mit Ausbildung in der DDR steht mit dieser Meinung nicht allein. Es ist zu früh, von einem prekären Frieden zu sprechen. In Afghanistan herrscht Krieg. Im Südosten jagt die „Anti-Terror-Allianz“ weiter Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer. Im relativ ruhigen Norden lieferten sich noch vor sechs Wochen bei Mazar-e Sharif Truppen des Usbekengenerals Dostum und des Tadschiken Mohammed Atta Gefechte.

Anlässlich der Großen Ratsversammlung, der Loya Jirga, war viel von Ausgleich und Machtbalance zwischen den verschiedenen Volksgruppen die Rede. Vielen ihrer Repräsentanten werden Menschenrechtsverbrechen zur Last gelegt, manche gelten im Westen als Massenmörder. Große und kleine Kriegsfürsten kontrollierten 50 Prozent der Delegierten zur Loya Jirga oder saßen gleich selbst dort. Ob mit ihnen ein Staat zu machen ist, darf bezweifelt werden. Nur: Ohne sie wird es auch nicht gehen.
Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. „Die Kommandanten wollen den Frieden“, da ist sich Abdullah Quayuom, der Polizeichef des Städtchens Imam Saheb an der tadschikischen Grenze, ganz sicher. Schließlich war er selbst einer, der 450 Männer befehligte. 97 davon – alle ehemalige Mudschaheddin – bilden heute die Polizei von Imam Saheb. Ein Kommandant sei jeder, der zehn Kalaschnikows oder mehr hinter sich versammeln könne, sagt Quayuom. Ihrer 70 gebe es im Distrikt, darunter viele, die bereits seit dem 14. Lebensjahr Bewaffnete befehligen und sonst nichts gelernt haben.
„Die Kommandanten wollen den Wandel“, so sieht es auch der in der Sowjetunion ausgebildete stellvertretende Kommandeur der Grenztruppen im Distrikt, Rommel Haider. Sie bräuchten eine Zukunft mit Sicherheit und Würde, meint er, dann würden sie Ruhe geben. Von den 300.000 EinwohnerInnen des Distrikts wurden bisher 810 Waffen eingesammelt, berichtet der Polizeichef, ein Bruder des Provinzgouverneurs. Man kann also davon ausgehen, dass noch genug vagabundierende Feuerkraft für neue Scharmützel vorhanden ist.
Aus der Perspektive des Nordens hat das Eingreifen der USA den (nahezu erreichten) Sieg gegen einen vormals übermächtigen Gegner ermöglicht: die Taliban. (Ich habe niemanden getroffen, der sagt, dass er darüber nicht froh wäre.) Verständlich ist daher die große Angst vor Taliban, die nach Pakistan oder in den Süden des Landes geflohen, untergetaucht oder übergelaufen sind. Wo ist die Grenze zwischen Mitläufertum und Gesinnungstäterschaft?
Auch einer der Fahrer im Projekt des Hilfswerks Austria in Imam Saheb war früher Fahrer der Taliban. In diesem Fall scheint die Integration gelungen.
„Die Grenze wird dort gezogen, wo Verbrechen begangen wurden“, erklärt der Polizeichef. Diese Leute würden hart bestraft. „Heute Morgen wurden die letzten sieben Taliban von den Amerikanern aus meinem Gefängnis abgeholt. Alle waren Pakistani“, erzählt er. Wohin sie gebracht wurden und was mit ihnen geschehen wird, das weiß er nicht.
Die internationale Gemeinschaft sollte sich davor hüten, Afghanistan Lösungen von außen aufzuzwingen: „Sie werden das niemals akzeptieren. Alle Lösungen müssen islamische Lösungen sein“, sagt ein tadschikischer Kenner der Situation. Und Rommel Haider wünscht sich von der internationalen Kooperation: „Sie soll unsere Kultur respektieren, nicht nachlassen im Bemühen um Frieden und in der Unterstützung beim Wiederaufbau.“ Inschallah.

Der Autor ist freier Mitarbeiter des SÜDWIND-Magazins, Consultant, Lateinamerika- und Drogen-Experte und besuchte soeben Afghanistan.

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