Kapital Jungfräulichkeit

Von Axel Veiel · · 2003/06

In Marokko erschweren Armut, das Ideal der unberührten Braut und ein Familienrecht, das die Frauen benachteiligt, die Suche nach sexuellem Glück und dem Partner fürs Leben.

Wären diese Kinokarten nur Karten fürs Kino, Karim hätte sie nicht gekauft. Eine jede hat 25 Dirham gekostet. 2,35 Euro sind das. Viel Geld ist das für einen 17-jährigen Marokkaner, der meist keine Arbeit hat und manchmal eine schlecht bezahlte. Aber die beiden bedruckten Papiere mit der Ecke zum Abreißen verheißen nicht nur Film-, sondern auch Liebesabenteuer. Knapp zwei Stunden ungestörte Zärtlichkeit mit der Freundin erhofft sich Karim in Casablancas Rif-Kino, und dies am helllichten Nachmittag, in einem Land, in dem eine Frau als Hure gilt, die sich öffentlich küssen lässt oder auch nur ein Café betritt.
Zwischen Daumen und Zeigefinger presst Karim die Eintrittskarten zusammen, als wollten Neider sie ihm entreißen. Ein Mädchen im Schlepptau strebt er dem Kinodunkel entgegen. Die künstliche Nacht beginnt bereits an der Tür des Foyers, wo ein Kartenkontrolleur in kinogerecht-düsterer Arbeitskleidung den Weg verstellt. Ganz in schwarz steht er da, von einem Silberarmband am Handgelenk einmal abgesehen. Welchen Film die beiden ansehen? Halb verlegen, halb verärgert blickt Karim zurück und zuckt mit den Schultern.
„Eine Minute Sonne weniger“ ist es auf alle Fälle nicht. Die Islamisten haben durchgesetzt, dass Nabil Ayouchs jüngstes Werk in den Kinos des Landes nicht gezeigt werden darf. Eine Bettszene ist es, die Anstoß erregt. Sexualität ist in Marokko ein Tabu. Sie findet im Verborgenen statt. Nach dem Willen der religiösen Erneuerer der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), die bei den Parlamentswahlen im vergangenen September die Zahl ihrer Mandate verdreifachen konnte und als drittstärkste Formation 42 von 325 Abgeordneten stellt, darf Geschlechtliches nicht einmal zu Aufklärungszwecken ans Licht gezerrt werden. Eine dem Schulunterricht zugedachte Sexualfibel fiel auf Drängen der PJD-Opposition der Zensur zum Opfer.

Ayouchs Film ist allerdings trotzdem zu sehen. Der Fernsehsender Arte strahlt ihn aus. Gemessen an der Vielzahl der Satellitenantennen, die selbst noch in Armenvierteln auf Balkons, Fensterbrettern oder Dachgärten wuchern, verheißt das mehr Publikum, als es Marokkos Kinos je bieten könnten. Auf Umwegen ist der Regisseur seinen Zielen also doch noch näher gekommen, was ja auch für Karim gilt, ja für Liebende überhaupt. Die Liebe als solche ist schließlich nicht verboten. Ein Blick in die Schaukästen des Rif-Theaters zeigt, was statthaft ist. An männlicher Heldenbrust suchen Frauen Halt, die Augen treuherzig, nicht selten auch tränenfeucht zum Bart des Beschützers erhoben. Aber so wie der Andrang bei der Nachmittagsvorstellung mehr ist als nur Ausdruck jugendlicher Kinobegeisterung, zeigen auch diese Fotos nur einen Teil der Wahrheit.
„Marokkos junge Frauen sind alles, nur nicht naiv“, meint Mourad Errarhib. Der gut aussehende Politologe mit dem erfrischend offenen Wesen lacht kurz auf und versucht dann, seine Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht ins Grundsätzliche zu heben. Die Mädchen wüssten genau, was sie wollten, die Ehe nämlich, sagt der 34-Jährige. Von ihr erhofften sie sich meist nicht nur Kinder, sondern in einem so bitterarmen Land wie Marokko auch Errettung aus wirtschaftlicher Not. Da es die Ehe aber nur gegen Nachweis ehrbarer Lebensführung gebe, sprich: körperlicher Unberührtheit, und die Jungfräulichkeit nur einmal im Leben Gewinn bringend eingesetzt werden könne, sei die Begegnung zwischen den Geschlechtern vorgezeichnet.
Zwei Grundsätze habe eine Marokkanerin zu beherzigen. „Sex gibt es erst in der Ehe“, laute der erste, „vor der Heirat ist der Mann Prüfungen zu unterziehen, um herauszufinden, ob er das Opfer der Jungfräulichkeit wert ist und lebenslang treu bleiben wird“, der zweite.

Nachida* hat ihren Mann vor der Ehe eingehenden Prüfungen unterzogen und sich trotzdem in ihm getäuscht. Die Lehrerin ist geschieden, die Folgen sind fatal. Nachida sieht sich „doppelt bestraft“: durch die Moudawana, das die Frau benachteiligende, dem Koran entlehnte Familienrecht, und durch die gesellschaftliche Geringschätzung, die ihr entgegenschlägt.
Von Rechts wegen hat die 32-Jährige keinen Unterhaltsanspruch und bedarf in so persönlichen Angelegenheiten wie einer neuerlichen Heirat der Zustimmung des Vaters, des ältesten Sohnes oder eines anderen männlichen Familienmitglieds. Gesellschaftlich steht Nachida als geschiedene Frau im Ruch der Prostitution, so ehrbar sie auch leben mag. Von Männern als Verstoßene eines anderen Mannes missachtet, sehen Frauen in ihr die aller Fesseln entledigte Rivalin, die weder dem Erhalt ihrer Unschuld noch einem Ehemann verpflichtet ist und deshalb über ihren Körper frei verfügen kann. Zu Kollegentreffen werde sie nicht mehr eingeladen, erzählt Nachida. Befreundete Paare hätten sich zurückgezogen.
Vereinsamt, ja verloren, wie die geschiedene Frau, wirken auch die jungen Männer, die in einem Café beim Bahnhof Casablanca Port zusammensitzen. Zwischen 16 und 22 Jahre sind sie alt, tragen Sportschuhe, Nylonhosen und Baseballkappen. „Ich heiße Almiki, so wie Mickey, und bin Fabrikbesitzer“, stellt sich einer aus der Runde vor. Die anderen fallen ihm ins Wort, empfehlen sich als Dolmetscher, Disc-Jockeys, Chauffeure. Die Wahrheit sieht anders aus. Außer Omar, der Zugtoiletten putzt, haben alle keinen Job. „Keine Arbeit, kein Geld, keine Wohnung, keine Ehe, kein Sex“, zählt Almiki auf, was er „Stationen eines Teufelskreises“ nennt. „Wie soll ich eine Frau heiraten und eine Familie gründen, wenn ich im Elternhaus ein Zimmer mit meinem Bruder teilen muss?“ fragt der Marokkaner.
Vor dem Café zerren zwei Mädchen ein drittes von einem Jungen fort, der es nicht freigeben will. Schreie werden laut, Männer springen auf, stoßen den Übeltäter zu Boden, treten nach ihm. Aufgestaute Wut scheint sich Bahn zu brechen. Auch sexueller Frust? Almiki verabschiedet sich, legt seinen Kumpels den Arm um die Schulter, streicht dem einen über den Kopf, gibt dem anderen einen Bruderkuss. Zärtlichkeit zwischen Männern wie auch Zärtlichkeit zwischen Frauen, das zumindest ist in der Öffentlichkeit erlaubt, ja erwünscht.

So sehr Frauenverbände, SozialistInnen und andere der Emanzipation verpflichtete Kräfte seit Jahren auch versuchen, das dem Koran entlehnte Familienrecht zu reformieren: Gegen ein breites Bündnis religiös, aber auch weltlich ausgerichteter Konservativer vermochten sie bisher wenig auszurichten. Ja, nach dem Wahlerfolg der Islamisten sieht es so aus, als solle die Religion das gesellschaftliche Leben noch mehr bestimmen. Immer mehr Männer tragen Bart, immer mehr Mädchen Kopftuch. „Gottlose“ Rockmusiker, die schwarze T-Shirts mit Teufelsfratzen und Totenschädeln zur Schau trugen, wurden wegen ihres „Satankultes“ zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Wenn der Richterspruch einschlug wie eine Bombe, dann freilich deshalb, weil die Mehrheit der MarokkanerInnen bei aller Glaubenstreue nicht fundamentalistisch denkt. Nach massiven Protesten wurde das Urteil in zweiter Instanz wieder aufgehoben. Und was im Straßenbild nach Religiösität aussieht, ist nicht nur Bekenntnis zu Allah, sondern auch Mode. „Islamismus ist chic, Bärte und Kopftücher sind ,in‘ wie einst Che-Guevara-Poster“, findet ein Student, der sich in Rabats Triangle-Park auf die nächste Prüfung vorbereitet. Als der Wind den Gebetsaufruf des Muezzin herüberträgt, erhebt keiner der Jugendlichen ringsum den Blick von Lehrbuch, Comic-Heft oder Pistaziensack.
Casablancas Diskothek „Cage“ erfreut sich unter den Reichen und Schönen des Landes weiterhin großer Beliebtheit. Die Mädchen zeigten sich dort freizügiger, in der Kleidung jedenfalls, hatten Almiki und seine Freunde erzählt. Über sexuelle Bereitschaft bzw. Freizügigkeit müssen enge Jeans und bauchfreies Top in der Tat nicht viel sagen. „Nur unberührt können wir uns in dieser Männergesellschaft teuer verkaufen“, meint eine der Trägerinnen koketter Kleidungsstücke und lacht. So ähnlich klang das auch bei Mourad Errarhib. Partnersuche in Marokko, hatte der Politologe gesagt, habe wenig mit Tausendundeiner Nacht zu tun. Das sei vor allem eine hyperrealistische, unromantische Geschäftsanbahnung zwischen zwei Menschen und deren Familien.

*Name vom Autor geändert.

Axel Veiel ist Nordafrika-Korrespondent mehrerer deutschsprachiger Medien mit Sitz in Madrid.

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