Krisenherd Schule

Von Marietta Mayrhofer-Deák · · 2010/02

„Bildung für alle“ ist eines der von den Vereinten Nationen deklarierten Entwicklungsziele für das angebrochene Jahrtausend. Doch die Schulen, die den Bildungsauftrag ausführen sollten, sind in vielen afrikanischen Ländern – wie Burkina Faso – dem kolonialen Erbe kaum entwachsen.

Die Schule war immer ein strenger Ort, ein Ort, wo man sich unterwerfen muss“, erklärt Abdoul, Volksschuldirektor in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso. „Wenn du dich geweigert hast, in die Schule zu gehen, haben dich die kolonialen Soldaten ausgepeitscht und ins Gefängnis gesteckt.“ Heute führt er seine eigene Schule mit strenger Hand. Um die Masse an Kindern – durchschnittlich sind es 100 pro LehrerIn – in Schach zu halten, kann er sich kein anderes Mittel als Gewalt vorstellen. Wer nicht pariert, wird ausgepeitscht.

Doch die Probleme des Schulsystems in Burkina Faso sind vielschichtig: Es mangelt in materieller, inhaltlicher und struktureller Hinsicht. Die materiellen Probleme sind meist am offensichtlichsten. Fast alles ist knapp oder gar nicht vorhanden: passende Schulgebäude, genügend Klassenzimmer, geschulte Lehrkräfte, Tagesbetreuung, Trinkwasser, Strom, Schulküchen, SchulärztInnen, Medikamente, Hefte, Stifte, Schulbücher, Wörterbücher oder Sanitäranlagen. Die materielle Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern ist so groß, dass oft beide Seiten staunen. Die Lehrerin Emma, die jeden Tag ihre Klasse mit 134 Kindern unterrichtet, kann es kaum glauben, dass die Klassenräume in Europa mit 20 bis 30 SchülerInnen „halb leer stehen“. Wären in ihrer Klasse nur 50 bis 70 Kinder, die alle einmal am Tag Bohnen essen könnten, wäre für sie ein großer Traum erfüllt.

In dem westafrikanischen Binnenstaat öffneten Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Schulen ihre Pforten – Schulen im Sinne des französischen Kolonialsystems. Sie sollten der „noch primitiven“ Bevölkerung die Ideen der „zivilisatorischen Mission“ näher bringen.

Die zunächst wenigen Schulen, die eine einheimische Elite auf den Eintritt in die koloniale Verwaltung vorbereiteten, waren vor allem durch eines charakterisiert: Gewalt. Gewalt, die Schule zu besuchen, Gewalt, sich der herrschenden Ordnung zu unterwerfen und symbolische Gewalt gegenüber afrikanischen Sprachen und Kulturen. Unterrichtet wurde nicht auf Mooré, Djula, Fulfulde oder einer anderen Sprache der Bevölkerung, sondern vom ersten Tag an auf Französisch – der Sprache der kolonialen Verwaltung.

Nach der Unabhängigkeit 1960 konnten Diskussionen um eine Reform des Schulsystems kaum in reale Projekte umgewandelt werden. Zu Beginn der 1980er Jahre startete man sogar einige Schulen mit afrikanischen Unterrichtssprachen, doch auch dieses Projekt scheiterte. Selbst die École révolutionnaire burkinabé (Burkinische Revolutionäre Schule) des charismatischen Präsidenten Thomas Sankara, der oft als „Che Afrikas“ bezeichnet wird, blieb eine leere Worthülse. Die staatliche Schule wurde bis heute nie wirklich von ihrem kolonialen Erbe befreit, sondern bestand im Wesentlichen so fort, wie sie von Anfang an bestanden hatte, wobei die Einschulungsraten langsam aber kontinuierlich stiegen, von rund 13% in den 1970er Jahren auf knapp 30% in den 1990ern bis zu 47% im Jahr 2007. Bis 2010 soll die 70%-Grenze, auch durch eine verstärkte Einbeziehung der bisher unterrepräsentierten Mädchen, überschritten werden, sodass man 2015 das Milleniums-Entwicklungsziel „Bildung für alle“ erreicht.

Doch mit den Strukturanpassungsprogrammen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank wurden und werden in Burkina Faso zunehmend Einschulungen forciert, ohne dass das Angebot selbst ausgebaut beziehungsweise verbessert wird. Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind einerseits LehrerInnen wie Emma, die durch die wachsende Zahl an SchülerInnen immer mehr Stress und Arbeitsbelastung ausgesetzt sind, andererseits die SchülerInnen, denen der Lernstoff nur im Frontalunterricht und unter größter Disziplin vermittelt werden kann. Hinter einer gestiegenen Einschulungsrate, die auf noblen Regierungsbanketts feierlich verkündet wird, steht nicht die vielerorts angepriesene Verbesserung. Auch die kürzlich eingeführte Abschaffung der Schulgebühren hat vor diesem Hintergrund einen schalen Nebengeschmack.

In Burkinas Schulen dominiert die französische Sprache. Schätzungen zufolge wird die Hälfte der Schulzeit in den Grundschulen nur mit Französischlernen verbracht. Die Geographie- oder die Geschichtsstunden sind im Grunde themenbezogene Vokabeleinheiten, die durch gemeinsames Wiederholen erlernt werden. In der Kolonialzeit gab es nur Schulbücher aus Frankreich, die veränderten Versionen nach der Unabhängigkeit wurden von Pariser PädagogInnen geschrieben. Ein Grund, weshalb die Unterrichtssprache, die für fast alle Kinder eine Fremdsprache ist, nie geändert wurde, ist unter anderem der Import von französischen Büchern und die fortwährende wirtschaftliche Abhängigkeit von Frankreich. Doch auch das geistige Erbe der Kolonialherrschaft wirkt sich weiterhin aus: „Als ich in der Grundschule war, war es verboten, in einer einheimischen Sprache zu sprechen“, erklärt Joël, Grundschullehrer in einem Armenviertel Ouagadougous. „Wenn du deine Muttersprache in der Schule gesprochen hast, bist du bestraft worden. Also was machst du, wenn du kein Französisch verstehst? Du bleibst den ganzen Tag über still, ohne etwas zu sagen.“ Heute sei es besser, fügt er hinzu. Es gibt bereits bilinguale Schulen, in denen in den ersten beiden Jahren auch eine afrikanische Sprache verwendet wird. Und daher bestraft Joël seine SchülerInnen auch nicht mehr, wenn sie eine Frage in Mooré stellen. Dennoch ist es auch für ihn schwierig bis unmöglich, in dieser Schule, in der LehrerInnen und SchülerInnen einander kaum verstehen, die in Afrika üblichen oralen Traditionen weiterzugeben.

Durch die leichte Trendwende der nationalen Bildungspolitik ist das Trauma der systematischen Entwertung afrikanischer Sprachen noch lange nicht überwunden. In Burkina Faso gibt es immer noch eine Sanktionsmethode, die in Frankreich unter dem Namen „bonnet d’âne“ (Eselsmütze) bekannt wurde: Wer ein nicht-französisches Wort sagt, muss ein symbolisches Schandzeichen tragen – eine Mütze, ein Stück Holz oder einen Knochen. Dies behält der Übeltäter so lange, bis einem anderen das gleiche Missgeschick passiert. Dann kann das Zeichen weitergegeben werden. Wer es am Ende des Tages bei sich trägt, bekommt eine zusätzliche (Prügel-)Strafe. Dieses Prinzip – aus Europa in afrikanische Kolonien exportiert – hat in Frankreich bereits seine Effizienz erwiesen: Die Schule hat wesentlich zum Verschwinden regionaler Sprachen Frankreichs, wie Bretonisch oder Okzitanisch, beigetragen. Eine ähnliche Herkunft hat die Peitsche, mit der SchülerInnen in den Schulen Burkina Fasos bestraft werden. Sie heißt „chicotte“, angeblich vom Französischen „chicot“ (Baumstumpf) abgeleitet. Sie ist bekannt als Symbol der kolonialen Unterdrückung in Belgisch-Kongo, wo die „chicotte“ bis 1959 offiziell zur Züchtigung von „Einheimischen“ in Gefängnissen, Zwangslagern und Schulen eingesetzt wurde.

In Burkina Faso sind fast 90 Prozent der Menschen Kleinbäuerinnen und -bauern, HändlerInnen oder HandwerkerInnen. Die Schule vermittelt jedoch fast nur theoretische und kaum praktische Kenntnisse. Für das erworbene Wissen gibt es daher einen sehr limitierten Markt.

Wohin gehen die mit dem „bonnet d’âne“ und der „chicotte“ erzogenen SchulabbrecherInnen und AbsolventInnen, die keinen Posten beim Staat finden? Paradoxerweise erzeugt „Modernisierung“ in diesem Zusammenhang Ausweglosigkeit, ein Gefangensein in einer Situation, in der es weder ein vor noch ein zurück gibt.

Amadé Badini, Universitätsprofessor an der Universität Ouagadougou, findet, dass die öffentliche Schule als Abkömmling einer Industriegesellschaft mit imperialistischen Bestrebungen eine immense Gefahr für afrikanische Sprachen und Kulturen ist. Denn meist können oder wollen Kinder, die in der Schule sozialisiert wurden, nicht mehr in ihr Heimatdorf zurück. Eine massive Landflucht sowie das Verschwinden von Traditionen und Sprachen sind die Konsequenz. Die psychischen und sozialen Folgen der pädagogischen Praxis sind in Afrika kaum erforscht, doch in französischen Übersee-Departements wie Martinique ist das Phänomen des „Selbsthasses“ als Zeichen dieser inneren Zerrissenheit bekannt. „Die formale Schule, das ist eine seelenfressende Maschinerie“, schreibt auch Joseph Ki-Zerbo, einer der wichtigsten afrikanischen Historiker, der 1997 mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde. „Die moderne Schule versucht, den Schüler seines historischen Gedächtnisses zu berauben. Man trainiert ihn darauf hin, seine Persönlichkeit zu verlieren, sodass er sich weder an Vater, Mutter noch an sein Zuhause erinnern kann. Da Kinder von ihren historischen Wurzeln abgeschnitten werden, riskieren ganze Völker, ihre Identität zu verlieren.“

Marietta Mayrhofer-Deák ist Soziologin und arbeitet an ihrer Dissertation zum Thema Schule in Französisch-Westafrika. Sie ist Autorin des Buches „Sprache – Macht – Schule. Neokoloniale Erfahrungen in Burkina Faso“, VDM Verlag

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