Kulturelle Inquisition

Von Brigitte Voykowitsch · · 1999/04

Radikale Hinduisten empfinden die kulturelle Vielfalt der indischen Zivilisation als Bedrohung. Die national-hinduistische Regierung giebt sich liberal und duldet dennoch Gewalttaten der Fanatiker.

Von einem „schrecklichen Irrweg weg von den Traditionen der Toleranz und Humanität, für die Indien bekannt ist“, sprach Staatspräsident R. K. Narayanan nach dem grausamen Mord an dem australischen Missionar Graham Stewart Staines und dessen zwei minderjährigen Söhnen im ostindischen Bundesstaat Orissa Ende Januar. Anläßlich des Staatsfeiertages ging Narayanan kurz danach erneut auf jene Toleranz ein, auf der der Zusammenhalt „unserer Gesellschaft mit ihrer reichen Vielfalt und ihrem üppigen Pluralismus“ beruht.

In den vergangenen Monaten wurde eine Reihe von Gewalttaten gegen Christen verübt: Nonnen vergewaltigt, Bibeln verbrannt, Kirchen zerstört und Tote aus ihren Gräbern auf christlichen Friedhöfen ausgescharrt. Danach war selbst der Erzbischof von Delhi, Alan de Lastic, um Klarstellung bemüht: „Indien ist ein sehr tolerantes Land.“

Im vergangenen Jahr, seit der Machtübernahme durch die hindu-chauvinistische Indische Volkspartei (BJP), „hat sich jedoch die Atmosphäre spürbar gewandelt“, betont de Lastic. Radikale Hindu-Organisationen, die, wie auch die BJP, einem „Sangh Parivar“ (Hindu-Familie) genannten Verbund angehören, sollen ja die Urheber der Gewalt gegen Christen sein. Diese machen lediglich 2,5 Prozent der rund 960 Millionen InderInnen aus. 82 Prozent sind Hindus, 12 Prozent Muslime.

Die Sangh Parivar, allen voran die ideologische Mutter-Organisation RSS (Nationales Freiwilligen-Corps), möchte das verfassungsmäßig ausdrücklich säkulare Indien in ein „Hindu-Rashthra“ (Reich der Hindus) umwandeln. „Eine Nation, ein Volk, eine Kultur“, definierte die BJP auch im vorjährigen Wahlkampf ihre Ideologie. Hindutva (Hindutum) heißt der kulturelle Nationalismus, dem sich die Partei verschrieben hat.

Muslime, Christen, Sikhs sowie Angehörige anderer Religionen haben sich dementsprechend unterzuordnen.

Für Sudhir Kakar, einen der bekanntesten indischen Psychoanalytiker, ist der Fundamentalismus bei Hindus wie Muslimen „ein Versuch, das Projekt der Moderne neu zu formulieren“. Diese Entwicklung, betont Kakar, war bereits vor einigen Jahrzehnten abzusehen. Je mehr die Modernisierung voranschreitet, desto mehr werden einzelne „in Gruppen mit absoluten Wertesystemen und mit geringer Toleranz für Abweichungen von den Normen Aufnahme suchen“, sagt Kakar.

„Indem Fanatiker diese Hindutva-Ideologie schaffen, rekonstruieren sie aber zugleich den Hinduismus“, betont die Historikerin Romila Thapar. Ist der herkömmliche Hinduismus ein sehr offenes System mit einer Vielfalt von Richtungen, theologischen und philosophischen Schulen, Traditionen und Gebräuchen, „so soll er nun zu einem klar konturierten System nach dem Vorbild von Christentum und Islam umgestaltet werden.“

Kakars These von der mit einer Verfolgungsangst gepaarten Selbst-Idealisierung läßt sich nicht nur durch ungezählte Reden von Hindu-Politikern belegen. Sie wurde gerade im vergangenen Jahr immer wieder durch Aussagen gewöhnlicher BürgerInnen bestätigt. „Wir Hindus sind sehr tolerant. Wir tun alles, um die Minderheiten in unserem Land versöhnlich zu stimmen. Das aber führt dazu, daß jeder uns übervorteilt und schmäht“, rechtfertigte ein Hindu in Mumbai die Angriffe auf den Maler M. F. Husain.

Mitglieder des zur Sangh Parivar gehörenden Bajrang Dal hatten vor einiger Zeit die Wohnung des 82jährigen Künstlers gestürmt, eine Reihe seiner Werke zerstört und sein Atelier verwüstet. Hervorgerufen hatte ihren Zorn ein mehr als ein Jahrzehnt zuvor entstandenes Gemälde, auf dem Husain die mythologische Figur Sita, Gattin des Hindu-Helden Ram, nackt dargestellt hatte.

Damit hatte der Muslim Husain nach Ansicht radikaler Hindus ein schweres Sakrileg begangen, für das er sich auf Druck von Hindu-Organisationen gar öffentlich entschuldigen mußte.

Nicht minder erzürnt waren fanatische Hindus über den international vielfach augezeichneten Film „Fire“. Würde es sich um zwei muslimische Frauen handeln, die in Fire eine lesbische Beziehung eingehen, hätte Bal Thackeray, Chef der in Mumbai mit der BJP in Koalition regierenden radikalen Hindu-Partei Shiv Sena, nach eigenen Worten kein Problem damit gehabt.

Da die beiden Charaktere aber Hindus sind und eine noch dazu von einer Muslimin dargestellt wird, seien die Angriffe seiner Mannen auf Kinos in Mumbai und Delhi, in denen der Film lief, berechtigt gewesen.

Während chauvinistische Hindus von einer Herabwürdigung der Hindu-Kultur sprachen, stellte sich die indische Filmbranche hinter Regisseurin Deepa Mehta, selbst eine dem Säkularismus verpflichtete Hindu, und warnte vor dieser Art „kultureller Inquisition“.

Noch mehr Sorge als diese öffentlichen Akte der Gewalt und Intoleranz bereitet aber vielen die, wie der Zeithistoriker Bipan Chandra es ausdrückt, „schleichende Zerstörung der indischen Zivilisation“. „Die BJP mag nicht die Vielfalt dieser Zivilisation, die über Jahrtausende gewachsen ist und in der eintausend Jahre lang auch die Muslime einen prägenden Einfluß hatten“, sagt Chandra und verweist auf die Bemühungen der Sangh Parivar, über die Schulen das säkulare Indien zu untergraben.

Wo immer die BJP bisher auf Regionalebene regierte, wurden Geschichtsbücher und Lehrpläne im Sinne der Sangh Parivar umgeschrieben. Im vorigen Herbst ging die BJP-Regierung auf Bundesebene allerdings zu weit, als sie zu einer Konferenz aller Bildungsminister aus den Bundesstaaten einen als „Experten“ vorgeschobenen Verfechter der Hindutva-Ideologie einlud.

Die englischsprachigen Medien, Frauen- und andere Organisationen liefen Sturm gegen die geplante „Verzerrung der Geschichte“ und das „Aufzwingen der RSS-Agenda“ für das ganze Land. Die Frauen protestierten insbesondere gegen den mit dem patriarchalen Konzept der RSS konformen Vorschlag, für alle Mädchen künftig verpflichtenden Haushaltsunterricht einzuführen.

Die Kongreßpartei ist nicht unschuldig an dieser Entwicklung. Mit Ausnahme kurzer Perioden war sie es, die in den ersten 50 Jahren nach der Unabhängigkeit 1947 das Land regierte. Immer wieder hat sie in dieser Zeit radikalen Kräften freie Hand gelassen oder nach Unruhen nicht die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. So wurden etwa muslimische Fanatiker mit dem Verbot von Salman Rushdies Satanischen Versen besänftigt.

Und der Sturm radikaler Hindus auf die Moschee von Ayodhya 1992 fand unter einer Kongreß-Regierung statt. „Die säkulare Strategie des Kongresses hat häufig einfach Schweigen und Zulassen bedeutet. Aus Furcht, Extremisten der einen oder anderen Seite könnten Unruhen auslösen, hat der Kongreß sie gewähren lassen. Es war eine völlig falsche Politik“, sagt der Psychoanalytiker Kakar. Wobei ein weiterer Aspekt – die Sorge des Kongresses, potentielle Wähler zu vergrämen -, nicht zu vernachlässigen ist.

Als zunehmend korrupte, ineffiziente, in sich gespaltene Partei hat der Kongreß 1998 die Wahlen verloren. Daß die BJP stimmenstärkste Einzelpartei wurde, verdankte sie den Wahlanalysen zufolge aber weniger ihrem Hindu-Nationalismus als dem Wunsch der InderInnen nach einer Alternative zum Kongreß. Und die konnte keine der unzähligen kleineren Parteien bieten.

Die BJP selbst ist heute gespalten zwischen ihrer Zugehörigkeit zur Sangh Parivar und ihrem Bekenntnis zum Regierungsprogramm. Premier Atal Bihari Vajpayee, das liberale Gesicht der BJP, hat mit seinen zögerlichen, knieweichen Reaktionen auf die Gewaltakte gegen Christen landesweite Empörung ausgelöst. Die Sangh wiederum sieht ihre Agenda viel zuwenig durch die Regierung vertreten.

Insgesamt hat es dabei seit dem Antritt der BJP-Koalitionsregierung vor einem Jahr weniger religiös motivierte Gewalt gegeben als in manchen früheren Jahren. Aber das Potential für Gewalt ist nach Ansicht von Kommentatoren massiv angewachsen.

Daß heute die ChristInnen und weniger die Muslime das Ziel der Aggression sind, ist für Erzbischof de Lastic nachzuvollziehen: „Die Christen sind ein leichtes Ziel. Anders als die Muslime setzen sie sich nicht zur Wehr.“

Die Autorin ist Redakteurin der Tageszeitung „Der Standard“ und bereist häufig Indien.

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