Lateinamerikas unvollendete Revolutionen

Von Werner Hörtner · · 2010/10

Zwei Jahrhunderte nach den ersten Staatsgründungen in Lateinamerika geistert neuerlich die Idee der bolivarischen Revolution durch den Kontinent. Ein umfassende Darstellung in Buchform liegt jetzt vor.

Viel wurde und wird heuer gefeiert in Lateinamerika. In neun Ländern, darunter Mexiko und Kolumbien, Argentinien und Chile, wird der „Bicentenario“ feierlich begangen, der 200. Jahrestag der Unabhängigkeit. Eine wirkliche Staatengründung hat damals jedoch nirgends stattgefunden, das Jahr 1810 markiert vielmehr den Beginn lang anhaltender Kämpfe gegen die spanische Kolonialmacht und/oder verlustreicher Bürgerkriege.

Stefan Rinke, Professor für Geschichte Lateinamerikas an der Freien Universität Berlin, skizziert in seinem Buch über die „Wege in die Unabhängigkeit“ anschaulich die Unabhängigkeitsprozesse, wobei er die Verschiedenartigkeit der Entwicklungen und der Hauptdarsteller der Kriege hervorhebt und nicht der früher üblichen Mythenerzählung erliegt.

Die durch die Französische Revolution und Napoleon ausgelösten Kriegswirren in Europa fanden auch in den amerikanischen Kolonien ihren Niederschlag. Als Nebenschauplatz der europäischen Kriege positionierte sich nunmehr England in Lateinamerika immer stärker als politischer Akteur.

Die erste wirklich revolutionäre Umwälzung in der Neuen Welt ereignete sich ab 1789 im Gefolge der Sklavenaufstände in der französischen Kolonie Saint-Domingue, dem Westteil der Karibikinsel Hispaniola. Die Aufstände endeten 1804 mit der Ausrufung der Republik Haiti, dem ersten „schwarzen“ Staat der Welt.

Erst gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts begannen sich die Revolten direkt gegen die spanische Kolonialmacht zu richten (Brasiliens friedliche Staatswerdung war ein Ausnahmefall in Lateinamerika). In Caracas und Buenos Aires, in Bogotá und Santiago de Chile entstanden 1810 offene Bürgerversammlungen (cabildos abiertos) und frei gewählte Lokal- oder Regionalverwaltungen (juntas comunales). Bei der Bildung einer solchen Junta im April 1810 in Venezuela trat erstmals der damals 27-jährige Kreole Simón Bolívar in Erscheinung, der spätere Held der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung.

Stefan Rinke: Revolutionen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit 1760 – 1830 München, Beck 2010. 392 Seiten mit 19 Abbildungen und 7 Karten, € 27,70

Unabhängigkeit und Bürgerkrieg: Venezuela war damals, zusammen mit Kolumbien und Ecuador, Bestandteil des Vize-Königreiches Neu-Granada. In Kolumbiens Hauptstadt Bogotá bildete sich am 20. Juli – heute der Nationalfeiertag – des Jahres 1810 ein Oberster Rat, der den Unabhängigkeitsprozess einleitete. Doch durch konkurrierende wirtschaftliche Interessen kämpften in der Folge verschiedene Regionen und Städte gegeneinander und alle zusammen gegen die Kolonialmacht. Erst im August 1819 konnte Bolívar die Spanier entscheidend in der Nähe von Bogotá schlagen.

Am schnellsten erfolgte die Staatsgründung im südlichen Vize-Königreich La Plata. Dort hatten sich bereits 1809 die Gewichte zugunsten der nach Autonomie strebenden Kreolen verschoben. Auf Druck der städtischen Bevölkerung und der kreolischen Miliz wurde am 25. Mai 1810, dem heutigen Nationalfeiertag Argentiniens, der spanische, doch Napoleon-freundliche Vizepräsident, abgesetzt. In Mexiko und Peru sollte es noch über ein Jahrzehnt dauern, bis die Unabhängigkeit ausgerufen wurde.

Nach den verlustreichen Siegen über die spanischen Truppen kehrte noch lange keine Ruhe ein in den neuen Staaten der Hemisphäre. Im Gegenteil, es kam zu mehr oder weniger blutig ausgetragenen Machtkämpfen unter den neuen Eliten. Im Gefolge der Befreiungskriege kam es zu einer Aufwertung der militärischen und politischen Aktivitäten. Durch die bewaffneten internen Auseinandersetzungen bis hin zu Bürgerkriegen wuchs dem Militär eine immer wichtigere Rolle in der lateinamerikanischen Gesellschaft zu.

Die besonders von Simón Bolívar forcierten Einigkeitsbestrebungen scheiterten rasch. Im Gegenteil: Die zuerst entlang der Grenzen der spanischen Vizekönigreiche erfolgten Staatsbildungen lösten sich wieder auf. Großkolumbien zerfiel in Kolumbien, Venezuela und Ecuador, die späteren zentralamerikanischen Staaten lösten sich von Mexiko; im Süden des Kontinents entstanden Bolivien und Paraguay als kleinere staatliche Gebilde, Uruguay wurde als Pufferstaat zwischen Brasilien und Argentinien geschaffen.

Die zwei Helden der Befreiungsbewegung, der Venezolaner Simón Bolívar und der Argentinier José Francisco de San Martín, verloren an Einfluss und gingen ins Exil.

Die politische Instabilität zieht sich in der Folge wie ein roter Faden durch die Geschichte Lateinamerikas. Erst in der jüngsten Zeit nehmen jene Ideen, die vor 200 Jahren nur unvollendet oder gar nicht umgesetzt wurden, wieder Gestalt an: die Idee der politischen und wirtschaftlichen Einheit, die Integration aller sozialen und ethnischen Gruppierungen, die Rückgewinnung einer echten Souveränität und Unabhängigkeit.

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