Lippenstift gegen die Mullahs

Von Nahid Goldschmied · · 2000/01

Im Iran protestieren immer mehr Frauen durch Schminken, auffällige Frisuren und Radfahren gegen die Herrschaft der konservativen Mullahs und ihrer Sittenwächter.

An einem warmen Sommernachmittag stand das Haus von Afsanehs Familie leer. Ihr Vater arbeitete wie üblich mit den vier Söhnen im eigenen Teppichgeschäft. Die 17-jährige Tochter des erzkonservativen Familienoberhauptes nahm die Gelegenheit wahr und lud ihren geheimen Freund ins Haus ein. Plötzlich ging die Tür auf und einer von Afsanehs Brüdern überraschte die beiden, während sie sich küssten. Die Katastrophe war perfekt. Der Bruder erstatte dem Vater Bericht, worauf ihn der religiöse Fanatiker ordentlich verprügelte und die „Familienschande“ dadurch bereinigte, dass er seine eigene Tochter für immer aus dem Haus schmiss.

Seither bummelt sie durch die Straßen des reichen Nordens, mit Umhang und Kopftuch. Darunter sind jedoch ihr bunt geschminktes Gesicht und die engen schwarzen Jeans zu sehen. Immer wieder spricht sie gutbürgerlich wirkende junge Männer an: „Erlaube mir, heute Nacht zu dir nach Hause zu kommen. Ich habe keinen Platz zum Schlafen. Ich erfülle alles, was du dir wünscht.“

So wie Afsaneh geht es vielen jungen Frauen im heutigen Iran. Sie werden zu Leidtragenden im doppelten Sinn. Einerseits leiden sie wie die restliche Bevölkerung unter den sich kontinuierlich verschlechternden Wirtschaftsbedingungen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 30, die Inflation bei knapp 50 Prozent. Viele Unternehmen sind bankrott gegangen. Andererseits geraten sie in die Mühlen des Machtkampfes zwischen Konservativen und Reformern.

Seit die Bevölkerung, und darunter die Mehrheit der Frauen, die große Reformhoffnung Mohamad Khatami vor zwei Jahren zum Präsidenten gewählt hat, gerieten sie direkt an die Front des alltäglichen Tugendterrors in den Straßen der großen Städte. Indem viele Frauen ihren Widerstand gegen die konservativen Mullahs dadurch ausdrücken, dass sie unter ihrem Kopftuch Haare hervorlugen lassen und ihre Gesichter auffällig schminken, werden sie zum Freiwild für marodierende Sittenwächter. Diese streunen in Zivil oder Uniform herum, nennen sich Pasdaran (Revolutionswächter) oder Hizbollahis und sind immer auf der Suche nach einer Frau, die sie so richtig zurechtweisen können – manchmal auch mit ein paar Schlägen.

Zwar passiert es kaum mehr, dass Frauen wegen „unkorrekter“ Kleidung von der Straße weg verhaftet werden. Doch im Grund befindet sich eine Frau in der Öffentlichkeit immer noch auf der permanenten Flucht vor den „Hütern“ der islamischen Revolution. Trotzdem: Im Land, in dem das Todesurteil gegen den Schriftsteller Salman Rushdie immer noch gilt, in dem Zensur und die Unterdrückung von KünstlerInnen, JournalistInnen und Intelektuellen mörderisch gut funktioniert, versuchen sich Frauen im Widerstand.

Sie fordern mit Lippenstift, verpönter Kleidung wie Jeans und westlichen Markenartikeln die fundamentalistischen Nachfolger von Ayatollah Khomeini heraus.

Die Reformregierung von Khatami, auf die sie verzweifelt hoffen, brauchen sie als Unterstützung. Umso bitterer ist es für viele Frauen, dass nun einer der wichtigsten Gefolgsleute von Khatami, Abdollah Nuri, selbst vor Gericht gestellt wurde. „Wie konnte das passieren?“, fragt Pari, Gattin eines verhafteten Journalisten. Ihr Mann wurde vor etwa einem Jahr aus der Redaktion des linken Blattes „Salam“ geprügelt und anschließend verhaftet. „Die Konservativen haben doch Angst vor der großen Popularität Abdollah Nuris. Und was er sagt, ist doch nur die Wahrheit und kein Grund, ihn ins Gefängnis zu werfen“, schwankt Pari zwischen Entrüstung und Verzweiflung. Nuri, vor einem Jahr als reformfreudiger Innenminister gestürzt, hat sich seitdem als Herausgeber der äußerst kritischen Teheraner Tageszeitung „Khordad“ exponiert. Das macht ihn zur Zielscheibe der Konservativen, die Angst haben, im kommenden Februar bei den Parlamentswahlen eine schlimme Niederlage zu erleiden.

So wie Pari verfolgen viele Frauen täglich den Prozessverlauf gegen Nuri in den Zeitungen. In der Hoffnung, dass mit der Verurteilung Nuris nicht die gesamte Reformbewegung zum Erliegen kommt – aber auch in der Hoffnung auf eine bessere wirtschaftliche Zukunft. In welch ausweglose Situation die soziale Notlage manche Frauen oder Familien bringt, zeigt sich am Beispiel von Ali und Maryam.

Das junge Ehepaar lebt im Zentrum Teherans und ist seit zwei Jahren verheiratet. Ali, früher Bediensteter der Stadtwerke, konnte sich und seine Frau einigermaßen ernähren. Vor einem Jahr wurde er gekündigt. Seither mussten die beiden nach und nach ihre sämtlichen Habseligkeiten aus der Wohnung verkaufen, um sich über Wasser zu halten und ihre Miete zu bezahlen. Als Maryam schwanger wurde, trat eines Tages die begüterte, aber bislang kinderlose Nachbarin an die verarmte Frau heran und fragte unvermittelt, ob sie nach der Geburt das Kind „adoptieren“, das heißt kaufen könne. Fünf Tage nach der Entbindung holte die Nachbarin den Säugling ab und hinterließ umgerechnet 1700 Schilling. Genügend Geld für gerade zwei Monatsmieten.

Maryam konnte dieses Ereignis nur schwer verwinden: „Ich war nur fünf Tage lang Mutter. Die Milch in meinen Brüsten erinnert mich noch tagtäglich daran.“

Mehr als zwanzig Jahre sind seit der islamischen Revolution vergangen. Gegen ihre gesellschaftlichen Werte, die die Geistlichen gesetzlich verankert haben, wächst der Widerstand.

Die tägliche Not korrumpiert die Menschen kontinuierlich. Zwar ist der Alkoholkonsum verboten, doch das Opiumrauchen ist weiter verbreitet denn je – und geduldet von den Konservativen. Wahrscheinlich weil es die Menschen in den sanften Schlaf der Apathie wiegt.

Besonders die junge Generation iranischer Frauen ist das größte Opfer der Mullahkratie. Sie leiden unter einem Gesetz, das wie ein steinzeitliches Souvenir der islamischen Kultur unter der männlichen Gürtellinie belebt und verbreitet wird: die Prostitution. Genannt wird sie natürlich anders, nämlich Zeitehe.

Ein Muslim, der gerade Lust auf eine Frau hat, kann mit ihr zum nächsten Mullah gehen und einen Ehevertrag abschließen. „Wie lange möchten Sie verheiratet sein? Länger als eine Stunde?“, fragt der Geistliche den Mann üblicherweise.

Bekanntlich darf ein Mann nach dem Gesetz der Sharia bis zu vier fixe Ehefrauen haben, von denen er sich jederzeit ohne Angabe von Gründen scheiden lassen kann. Zusätzlich darf er sich weitere „Zeitehefrauen“ leisten. Die Kinder aus solchen Zeitehen bleiben dann bei den Müttern, da sie die Männer ohnehin nicht mehr zu Gesicht bekommen. Von einem Vaterschaftstest ganz zu schweigen.

Auch Donja musste bereits derartige Erfahrungen hinter sich bringen. Die 42-jährige Frau, die viel älter aussieht, lehrte bis vor fünf Jahren auf einem Gymnasium in Teheran Mathematik. Dann wurde sie plötzlich gekündigt. Ohne Ehemann – er starb im Krieg gegen den Irak – und als Mutter von zwei Kindern muss Donja seither immer wieder „Zeitehen“ abschließen. Jedes Mal wenn ihre Kinder nach Teheran auf Besuch kommen, kann sie auf ihre fragenden Blicke nur antworten, dass sie Privatunterricht gebe.

Trotz religiöser Willkür gegenüber iranischen Frauen ist tagtäglich ihr Widerstand zu spüren. Viele KünstlerInen, JournalistInnen und Intellektuelle sind entweder im Gefängnis oder schon exekutiert. Die Überlebenden stehen unter Schock und leben in Todesangst. Nicht wenige Frauen, wie die iranische Gegenwartsdichterin Simin Behbahani, die mit ihren 75 Jahren mit auffälliger Frisur, geschminktem Gesicht und prägnantem Lippenstift durch die Straßen Teherans flaniert, tun dies nicht aus Affektiertheit, sondern als politisches Statement gegen den Terror der islamischen Gesetze.

Im Jahr 1936 zwang der iranische Schah die islamischen Frauen zur Entschleierung als ein Zeichen des Modernismus. Im Jahr 1983 zwang die islamistische Regierung alle Frauen zur Verschleierung. Dieser Akt wurde als ein Symbol für den Aufbau eines islamischen Gottesstaates betrachtet.

Zwei Jahre nach dem Regierungsantritt von Mohammad Khatami wird Schminken und Kleidung sowie Rad- und Motorradfahren als politische Waffe gegen die reaktionären Schlägertrupps der Hizbullah benutzt.

Nahid Bagheri-Goldschmied wurde 1957 in Teheran geboren, studierte persisch-arabische Literatur und arbeitete als Journalistin. Auf der Flucht vor dem Schah-Regime kam sie 1980 nach Österreich, wo sie seither lebt. Sie veröffentlichte mehrere Lyrikbände,

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