Mit dem Herzen schreiben

Von Humberto Ak'abal · · 2000/01

Der Dichter Humberto Ak’abal vom Maya-Volk der K’iché erzählt von seiner nicht erlebten Kindheit, von seinem Weg zur Literatur und vom Leben in Guatemala zur Zeit des großen Mordens. Ak’abal schrieb diesen Text, den Erich Hackl übersetzte und der hier ers

Das Jahrtausend geht zu Ende, und mir kommt vor, ich kann es nicht bezeugen. Weil meine Eltern arm waren, hatte ich keine Kindheit. Und der Krieg in Guatemala hat mir die Jugend geraubt.

Ein neues Jahrtausend wartet hinter dem Spiegel, vor dem ich stehe und in dem ich mich betrachte. Der Spiegel zeigt auch das, was in mir drinnen ist: Erinnerungen, Bruchstücke meines Lebens. Das ist keine Biografie, das sind nur Blitze, die über mir zucken, während ich diese Zeilen schreibe.

Mit sechs Jahren begann ich Holz zu tragen, um meinem Vater zu helfen. Ich erinnere mich an den Durst, der mir die Kehle verbrannte. Drei oder vier Scheiter waren meine Last, und dieses Gewicht machte mir sehr früh die Armut deutlich, in der wir lebten.

Die Schule besuchte ich nur ein paar Jahre lang. Mein Vater sagte, es sei wichtig, dass ich lerne, meinen Namen zu schreiben, für später, damit diejenigen, die uns Indios geringschätzen, sich nicht über mich lustig machen.

1960, als ich acht war, schaute ich mir ein paar Bücher an, die unser Lehrer im Klassenzimmer vergessen hatte. Unter ihnen war eines, dessen Deckel eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich ausübte. Vorne waren, auf vergilbtem Untergrund, zwei Kinder abgebildet, der Buchrücken war ziegelfarben, lehmfarben. Ich begann, in dem Buch zu blättern. Es enthielt viele Abbildungen. Ich las die ersten Seiten, sie gefielen mir so gut, dass ich das Buch, ohne lange nachzudenken, einfach stahl. So unternahm ich meine erste große Reise mit der Lebensbeschreibung des deutschen Komponisten Johann Sebastian Bach. Ich litt tausend Qualen bei meinem Bemühen, das Buch gut versteckt zu halten. Wenn es mein Vater gefunden hätte, wäre ich von ihm sicher bestraft worden. Auch der Lehrer wusste nicht, dass ich es war, der ihm das Buch gestohlen hatte.

Mit zwölf Jahren ging ich von der Schule ab. Von da an gleicht alles, was ich an Bildung besitze, der Erfahrung, die ein Baum in seinem Leben erworben hat.

Im Oktober 1964 packte ich zwei Hemden und zwei Hosen ein und verabschiedete mich von meiner Mutter. Ich fuhr in die Hauptstadt, zu einem Mann, den mein Vater gebeten hatte, mir Arbeit zu verschaffen. Ich verkaufte auf der Straße Süßigkeiten und Kaugummi.

Wenige Tage nach meiner Ankunft entdeckte ich eine Buchhandlung, die La Cadena de Oro hieß, „Die Goldkette“. Abend für Abend stand ich davor und starrte durch die Auslage, auf die Bücher. Da war eines, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Auf dem Umschlag war ein furchterregendes Gesicht abgebildet. Ein Gesicht, das im Begriff war zu zerbröckeln oder zu verfaulen, und ich fragte mich, wovon dieses Buch wohl handelte. Ich vermutete, dass es Geschichten von Irren, von Toten oder von Hexenmeistern bergen würde. Drei oder vier Monate vergingen, ehe ich es wagte, nach dem Preis zu fragen. Zwei Quetzales fünfzig, sagte der Buchhändler. Mit viel Mühe gelang es mir, das Geld zusammenzubringen, und endlich konnte ich das Buch kaufen. Oscar Wilde und „Das Bildnis des Dorian Gray“ führten mich an den nächsten Tagen durch ihre Welt. In der „Goldkette“ kaufte ich auch Bücher von Dostojewski und von Stefan Zweig.

Die Lektüre dieser Bücher, nebst anderen, nährten mein Unterbewusstsein. Vielleicht deshalb träumte mir eines Nachts, dass ich ein Buch geschrieben hatte. Nach dem Erwachen beschloss ich, den Traum in die Wirklichkeit umzusetzen. Ich schrieb Verse auf Blätter und nähte die Blätter mit der Hand zusammen. Das war mein „Buch“. Ich trug es ständig mit mir herum, bis ich es irgendwo verlor oder vergaß.

Damals lief ein Gerücht von Mund zu Mund. Draußen auf dem Land, hieß es, gebe es bulla, also Lärm, Radau. So sagten die Leute, wenn sie sich auf den Beginn des Krieges in Guatemala bezogen.

Ich war nicht lange in der Stadt. 1965 kehrte ich in mein Dorf zurück. Dort fing ich an, gemeinsam mit meinem Vater Stoffe aus Schafwolle zu weben, die wir dann in der Hauptstadt verkauften. Sieben Jahre später starb mein Vater. Ich machte die Arbeit allein weiter, um meine Mutter und meine kleinen Geschwister zu erhalten.

Die Unsitte der Zwangsrekrutierung breitete sich immer mehr aus. Ich wurde nicht zum Militärdienst eingezogen, weil ich an meinem rechten Bein behindert bin. Obwohl mein Hinken augenfällig war, musste ich mich jeden Augenblick lang bei der Kommandantur melden, und jedes Mal war ich gezwungen, die Hose runterzulassen, um meine Behinderung nachzuweisen. Ich litt sehr unter dieser Demütigung, fühlte mich ohnmächtig angesichts der Willkür der Militärs.

Wenn ich in die Stadt fuhr, am Abend vor der Abreise, war der Blick meiner Mutter wie ein Gebet, und manchmal deutete ich ihn wie ein letztes Abschiednehmen… Vor Tagesanbruch begleitete sie mich ein Stück weit, wobei sie mir mit einer Fackel aus Föhrenharz leuchtete. Ich trug ein Bündel auf dem Rücken, und wenn ich die Brücke überquerte, die aus zwei nebeneinander gelegten Baumstämmen bestand, blieb meine Mutter am Rand der Schlucht stehen und hielt den Atem an. Wenn ich die andere Seite erreicht hatte, schenkte sie mir ihre letzten Worte, dann stieg ich in den Bus. In Gedanken daran fährt mir ein Schauer über den Rücken. Ein falscher Schritt, und ich wäre in die Tiefe gestürzt.

Damals hatte der Krieg schon einen Großteil des Landes erfasst. Die Strecke zwischen Momostenango und der Hauptstadt war schrecklich. Wie in einem Alptraum waren alle Fahrgäste einander unbekannt. Niemand redete während der Fahrt. Man wusste nicht, wer neben einem saß, und selbst wenn man es wusste, schwieg man aus Vorsicht. Schweigen bedeutete, eine Minute länger zu leben.

Neben der Straße spielten sich entsetzliche Szenen ab. Einmal sahen wir in einem Straßengraben zwanzig Leichen, nackt, mit tiefen Wunden, die von Machetehieben stammten. Ein andermal tauchte ein Hund aus einer Senke auf, in der Schnauze den Arm eines Menschen.

Oft konnte ich nachts nicht schlafen. Tagsüber fühlte ich mich manchmal sicherer, wenn der Himmel bedeckt war, denn ich fürchtete mich vor dem eigenen Schatten. Dabei stimmt es nicht, dass mir Angst zuvor unbekannt war. Ich wusste um sie, im kulturellen Sinn. In unserer Kultur gibt es das Gespenst. Dieses Etwas, von dem wir wissen, dass es da ist, unsichtbar, mit einem lebt. Dessen Gegenwart uns einen Schauer über den Rücken jagt oder uns, mittels seiner energetischen Kräfte, Herzklopfen verursacht. Doch angesichts des realen Terrors, den wir erlebten, erbleichten unsere Gespenster.

Der Krieg hinterließ Narben in den Gesichtern der Überlebenden in der Provinz. Ihr Lächeln wurde gemordet. Sie altern, weil sie den Dolch des Schmerzes im Herzen tragen. Die andern, viele, leben nur noch in unserer Erinnerung.

Da war der Gedanke, weit weg zu gehen, aber wohin? Viele brachen auf, schafften es, über die Grenze in das Nachbarland zu entkommen, nach Mexiko. Wir anderen konnten das nicht, wir beschlossen, uns unter den Leuten zu verstecken. So kam es, dass ich in die Stadt zurückkehrte und Arbeiter wurde. Ich begann in Fabriken zu arbeiten. Die Behandlung dort unterscheidet sich kaum von der, die die Landarbeiter in den Latifundien an der Küste erfahren: Unrecht und Ausbeutung.

Überall spürte man die Gegenwart von Terror und Hass. Der Krieg dauerte. Es war 1980.

In all dieser Zeit waren die Bücher meine Freunde. Ich begriff, dass Lesen ein Akt der Demut ist. Wer ein Buch liest, ist nach der Lektüre verwandelt.

Es war damals schwer zu leben. Mein Gesicht wurde rauh vom Salz der Tränen.

Ich fing an, Gedichte zu schreiben, in denen ich das Bedürfnis spürte, in meine Kindheit zurückzufinden. Sie wiederzugewinnen, besser gesagt: ich versuche in jedem Text, diese Kindheit zu gewinnen, die mir versagt geblieben war. Ich versuche auch, jenes Dorf wiederzugewinnen, das ich vom einen Ende zum andern ablief, um Botendienste zu erledigen, oder aus reiner Lust am Gehen, unter der Sonne oder im Regen. Ich versuche auch, die Jahre meiner Jugend wiederzubekommen, die in der Arbeit verwelkt sind.

Manchmal werde ich gefragt: Wie fühlt sich ein Mensch, der nicht Kind war? Hungrig, antworte ich. Deshalb liebe ich meine Erinnerungen. So ist die Armut, sie zwingt einen, sich schon als Kind erwachsen zu fühlen, und man versteht den Unterschied erst, wenn die Kräfte einen vor Sonnenuntergang verlassen.

Ich schreibe in erster Person, denn ich bin niemand, um namens der anderen zu sprechen. Und ich bin tief bewegt, wenn meine eigenen Leute zu mir kommen, um mir zu sagen, dass sie sich in meinem bescheidenen Schaffen aufgehoben fühlen.

Die Ablehnung und Diskriminierung, die ich von einigen Intellektuellen meines Landes erfahren habe, hat mich nicht entmutigt, ich habe sie als Ansporn genommen.

Mir ist klar, dass meine Dichtung weder in der guatemaltekischen Literatur noch in der Welt eine Revolution darstellt. Aber ich bin auch kein Pilz, der von einem Tag auf den andern aus der Erde sprießt. Ich spreche und schreibe ohne Groll und ohne Bitterkeit. Was ich mache, mach ich mit dem Herzen.

Humberto Ak’abal wurde 1952 in Momostenango geboren, wo er auch heute noch lebt. Für seine in K’iché geschriebenen und von ihm selbst ins Spanische übersetzten Texte erhielt er 1999 in Mexiko den von der UNESCO gesponserten Preis Canto de América.

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