Netzwerke – Realität und Utopie unserer Zeit

Von Franz Nahrada · · 2001/04

Soziale Netzwerke sind ein uraltes Phänomen. Im Laufe von Modernisierung und Industrialisierung gerieten jedoch Dorfgemeinschaften und Verwandtschaft ins Hintertreffen. Heute sind neue soziale Netzwerke im Entstehen oder längst gewoben: als Strategie der Basis gegen die Herrschaft einer globalisierten Wirtschaft und Politik.

Der ”Entwicklungskritiker“ Gustavo Esteva hat ein anschauliches Bild autonomer sozialer Basisorganisationen geprägt, die nicht in einer straffen Organisation zentralistisch verbunden sind, sondern ein lockeres Netzwerk bilden. Esteva spricht von der ”Hängematte“. Diese Vernetzung ist so wenig institutionalisiert wie möglich: Man kann sie benutzen, wenn man sie braucht, aber wenn man sie nicht braucht, hat sie so gut wie kein Gewicht.

Netzwerke sind ”idealtypisch“ eine Form kollektiven Handelns, die die Abspaltung des Politischen von der Gesellschaft, die Verselbständigung von Hierarchien, Repräsentanten, Apparaten zu verhindern sucht; in der es möglichst kein Oben, keine Zentrale, keine Befehlshaber, keine Ideologie gibt; in der das Individuum, die Gruppe, die Gemeinde ihre Autonomie bewahren. Trotzdem, das ist das Wichtige, sollen sie zu organisiertem sozialem Handeln fähig sein. Mehr als das: Netzwerke sollen unnötiges Gewicht und die strukturellen Defizite der Institutionen Staat und Markt nicht nur mindern, sondern vielleicht sogar ersetzen helfen. Sie können Probleme bewältigen, die andere menschliche Organisationsformen nur schwer zu lösen imstande sind.

Beispiel: Die Initiative ”Gesunde Stadt Wien“ stellt erstmals eine Studie zum Thema ”Bedeutung sozialer Netzwerke und sozialer Unterstützung für die Gesundheit“ vor. Einige Ergebnisse: Je mehr FreundInnen und Bekannte eine Person hat, desto eher fühlt sie sich gesund und desto weniger Beschwerden gibt sie an. Chronisch oder akut erkrankte Personen haben im Vergleich zu gesunden Menschen ein deutlich kleineres soziales Netzwerk.

Netzwerke sind also nicht nur Ersatz für andere Formen des Handelns, sondern wahrscheinlich konstitutiv für die Entfaltung nachhaltiger, lebensfähiger Formen des Handelns. Sie geben uns nicht nur das Gefühl der Kontrolle, der Überschaubarkeit, der Möglichkeit, verschiedenste Probleme zu lösen. Sie sind auch tatsächlich oft effektiver als andere Organisationsformen. Und sie sind schwer zu beschreiben.

In der Gesellschaftswissenschaft wurden Netzwerke lange Zeit vernachlässigt; es entstand eine Kluft auch in der theoretischen Beschreibung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Psychologie und Soziologie. Das ”Soziale“ erschien als wundersame Regelhaftigkeit und Funktionalität menschlicher Beziehungen, die den Individuen als äußerliche, Wx und fertige Anforderung gegenübertritt. Generationen von Soziologen mühten sich mit Kategorien wie ”Wert“, ”Rolle“, ”Institution“ ab, in denen Gesellschaftlichkeit quasi ohne Zutun der Individuen existiert.

Wir erkennen heute, wie sehr dieses Denken von der scheinbaren Selbstverständlichkeit vertikaler Strukturierung der Gesellschaft geprägt war.

Der amerikanische Autor Alvin Toffler hat von der ”zweiten Welle“ gesprochen, von drei Jahrhunderten einer fast an Wahn grenzenden und keineswegs beendeten Konstitution der Gesellschaft durch Apparate: durch Staat, Industrie, Erziehungswesen, Gesundheitswesen und so fort. In diesem Wahn der totalen Institution spielen Massenproduktion, Standardisierung, Spezialisierung, soziale Kontrolle durch Medien, Politik etc. eine beherrschende Rolle.

Menschen waren in dieser Wissenschaft durch Rollen konstituiert wie die Teile einer großen Maschine. Individuelles Handeln bewegte sich im Spannungsfeld zwischen Normerfüllung und Abweichung. Kollektives Handeln ohne Repräsentanz, ohne Verselbständigung schien lediglich als irrationaler Rückfall in vorzivilisatorische Zeiten denkbar – primitiv, unkontrollierbar, willkürlich. Dass sich soziales Leben auch genauso von unten nach oben konstituiert – und dass es genau genommen nur so funktioniert – war lange Zeit ein vergessenes und verdrängtes Faktum.

Erst mit dem Heraufkommen der ”dritten Welle“ innerhalb der gesellschaftlichen Produktion selbst, dem bewussten Einsatz von Automation und dezentraler Intelligenz, wurde auch das Denken über Gesellschaft revolutioniert; neue, interaktionistische Schulen der Soziologie entstanden, die auf die Konstitution sozialer Prozesse durch Individuen – ihre Fähigkeit zur spontanen Selbstorganisation – hinwiesen.

Klassisch ist die Studie von J.A.Barnes über das norwegische Dorf Bremnes (1954), wo der Begriff Netzwerk zum ersten Mal in der Literatur auftaucht. Barnes stellte fest, dass sich jenseits der stabilen Interaktionen innerhalb der formalen und hierarchischen Struktur des territorialen und industriellen Systems noch andere soziale Beziehungen verbergen, die aus Freundschafts-, Nachbarschafts- oder Bekanntschaftsbeziehungen bestehen, welche jedermann in der Gemeinde eingeht.

Die moderne Gesellschaft hat aber diese alten, territorialen Netzwerke scheinbar just in dem Moment aufgelöst, wo sie zum Gegenstand des theoretischen Interesses wurden. Die Münchner Subsistenztheoretikerin Christa Müller beschreibt in ihrem Buch ”Von der lokalen Ökonomie zum globalisierten Dorf“ wie die BewohnerInnen einer westfälischen Gemeinde namens Bogentreich ihre wechselseitigen Austauschbeziehungen und damit ihre Eigenmacht schrittweise aufgaben, um in sozialen ”Rollen“ wie Lohnarbeiter und Konsumentin den Versprechungen auf ein besseres Leben zu genügen. Das bunte und von vielseitigen lokalen Austauschbeziehungen gekennzeichnete Leben wurde in einer Generation auf das Gerippe von Intensivbauern reduziert, die der Macht anonymer Märkte unterworfen sind. Die traditionellen Netzwerke zerrissen in dem Moment, als Geld und Leistung, Preis und Konkurrenz zu den vorherrschenden Beziehungen wurden.

Müller beschreibt aber auch Ansätze einer neuen Regionalisierungsbewegung, in denen dem formal rationalen, aber in Wirklichkeit immer irrationaleren sozialen System wieder überschaubare Zusammenhänge und frei gewählte, auf Dauerhaftigkeit angelegte soziale Beziehungen entgegengesetzt werden: Erzeugergemeinschaften der landwirtschaftlichen Betriebe, der Absatz von Produkten in Geschäften der Region, die Förderung kleiner Handwerksbetriebe, eigene genossenschaftliche Molkereien – die Reliquien der ”rückständigen“ Produktionsweise erwachen zu neuem Leben.

Traditionelle Netzwerke haben die Tendenz, sich aufzulösen, wenn sich den TeilnehmerInnen – dies oft nur in Form von Hoffnung oder Erwartung – scheinbar autonomere Handlungsmöglichkeiten bieten. Die traditionelle ”moralische Ökonomie“, in der noch nicht die anonymen Marktkräfte den Ausschlag geben, sondern die der gegenseitigen Verpflichtung, laufen immer Gefahr, als einengend und beschränkend erlebt zu werden; dies vor allem dann, wenn die Netzwerkbeziehungen keineswegs frei gewählt, sondern durch Abstammung, Lokalität, Tradition oder äußere Not eingegangen wurden.

Netzwerke sind aber gleichzeitig wieder im Vormarsch, da sie den gewachsenen Möglichkeiten der Technologie und der Kommunikation besser entsprechen als die alten, hierarchischen und vertikalen Organisationsformen. Das Internet schafft einerseits direkten Zugang aller Netzwerkmitglieder zueinander, zugleich schafft es einen gemeinsamen Arbeitsgegenstand, eine ”digitale Almende“, wie der elektronische Kommunikationsraum in Anspielung an alte Gemeinschaftsweidegründe genannt wird. Steckt also die Zukunft in der Vergangenheit?

Netzwerke sind einerseits ein uraltes Phänomen. Vielleicht sind sie sogar die älteste soziale Organisationsform überhaupt. Wir wissen heute aus der ethnologischen und sozialanthropologischen Forschung, dass kaum eine der menschlichen Subsistenzgemeinschaften in Isolation existierte, dass die Welt keineswegs an den Stammesgrenzen endete, sondern dass auch die kleinräumigen, in sich abgeschlossenen Lebensformen in ein weitläufiges Netz von bestandssichernden Austausch- und Schutzbeziehungen eingebunden waren.

Jahrtausendealte Handelsstraßen künden von den Bedürfnissen lokaler Subsistenzgemeinschaften nach bestimmten Produkten fremder Herkunft.

Die Herstellung von Märkten und Austauschplätzen selbst ist außerökonomisches Handeln, und dieses Handeln ist erst sehr spät politisch-institutionelles Handeln geworden. Solche ”Märkte“ bildeten sich spontan an Kreuzungspunkten der Wege, in regelmäßigen Zusammenkünften und Festlichkeiten; das vorindustrielle Leben hatte eine Tendenz der spontanen Vernetzung, die man ihm erst gewaltsam abgewöhnen musste.

Zugleich sind Netzwerke für viele die Utopie unserer Zeit, in der es nicht mehr darauf ankommt ”das Projekt der Modernisierung und Entwicklung zu vollenden, sondern es zu beenden“ (C.Spehr). Die Modernisierungsmaschine mit ihrem unersättlichen Hunger nach Arbeitskraft und Absatzmärkten hat sich totgelaufen, es wird immer absurder und teurer, die randvollen Kanäle und Ströme der industriellen Warenproduktion mithilfe eines noch größeren und noch gewaltigeren gesellschaftlichen Produktionsaggregates zu überfluten.

Das heißt: Die Absurdität schafft sich eine neue Form, denn gerade deshalb sind Netzwerke innerhalb der Wirtschaft als Notbehelf entstanden, als Ersatz von unrentabler Gigantomanie durch Auslagerung von Kosten. Die Automobilindustrie zum Beispiel umgibt sich mit einem Netzwerk von Zulieferbetrieben, denen sie die Kosten der Produktion fast zur Gänze aufbürdet; die Kommunikationsmittel und die Logistik werden zu den zentralen Fragen der Wirtschaft.

Dieser Vernetzung von oben im Sinne der planetaren Arbeitsmaschine tritt eine soziale Vernetzung von unten entgegen. Noch sind die Erscheinungsformen dieser Vernetzung von unten ganz vereinzelt und scheinen auf vollkommen verschiedenen Ebenen zu liegen.

Die Proteste von Seattle’ der weltweit koordinierte Kampf der Gegner der planetaren Arbeitsmaschine, die nur um den Preis der galoppierenden Zerstörung gesellschaftlicher Strukturen und natürlicher Lebensgrundlagen ihr Tempo von Akkumulation und Wachstum halten kann, ist genauso ein Produkt der modernen Kommunikationsmittel wie die kooperativen Projekte des Internet von LINUX bis SETI (Search for Extraterrestrial Intelligence). Es scheint, als ob die wirklich wichtigen kollektiven geistigen Anstrengungen (und auch eine Menge extravagante) der Menschheit in den Netzwerken ihren Platz Wnden könnten, und dass in einer Sphäre nach der anderen ein Titanenkampf bevorsteht zwischen dem wirtschaftlichen und dem vernetzt-kulturellen Modell. Microsofts Kampf gegen Linux, die Musikindustrie gegen Napster – das Muster beginnt sich zu wiederholen. Netzwerke artikulieren sich selbstbewusst als Subjekte und vertreten gegenüber dem privaten wirtschaftlichen Interesse und dem verstaatlichten Herrschaftsinteresse ein allgemeines gesellschaftliches.

Dasselbe gilt auch für die andere große Sphäre der modernen Gesellschaft, die Sphäre der Politik. Neue politische Bewegungen betonen regionale und lokale Autonomie und insistieren zugleich darauf, dass Probleme nur in einem gesellschaftlichen, globalen Rahmen gelöst werden können, für die Staaten oder territoriale Einheiten ohnehin zu klein seien. NGOs betonen die aktive und gestaltende Rolle der Zivilgesellschaft gegenüber dem staatlichen Anspruch auf Unterwerfung der AkteurInnen unter formale Regeln; demgegenüber wird die Effizienz der Verhandlung und Abstimmung von Interessen im vorrechtlichen Raum betont.

Gemeinsam ist all diesen Aspekten, dass die Errungenschaften der Moderne nicht geleugnet werden; diese hat überhaupt erst, um ein Wort von Toffler zu zitieren, quasi die Kanäle gebaut, auf denen die Menschen zugleich als WeltbürgerInnen und zugleich als KonstrukteurInnen ihrer ganz besonderen und spezifischen Kultur auftreten, die nicht mehr hinter einer ”Leitkultur“ oder gesellschaftlichen Standardisierungen zurücktritt. Soziale Netzwerke sind in diesem Sinn Kulturen, Werte- und Normensysteme, die nicht mehr mit dem Anspruch der Allgemeinverbindlichkeit, sehr wohl aber mit der Verbindlichkeit für all diejenigen, die sich ihnen verbunden fühlen wollen, auftreten und die sich in ein globales Gemeinschaftswerk einfügen wollen.

Das Internet ist so zum Symbol und zugleich zum Austragungsort dieser Auseinandersetzung geworden. In rasender Geschwindigkeit hat es sich in den wirtschaftlichen Zentren und darüber hinaus ausgebreitet, weil das Bedürfnis und die Fähigkeit der Vernetzung in der Gesellschaft sich längst entwickelt hat; nie zuvor mussten Netzwerke allerdings Fragen von derartiger Komplexität bewältigen und sich einem derartigen Vergleich stellen, wie in der sich abzeichnenden Auseinandersetzung mit den historisch einmaligen Machtballungen Staat und Wirtschaft. Ob sie diese Herausforderung schaffen, wird nicht zuletzt davon abhängen, dass sich lokale Eigenmacht erhält und erweitert. Der Komplementärbegriff zum Netzwerk ist im Kleinen das handlungsfähige Individuum, im Großen die handlungsfähige und kompetente Gemeinde und Gruppe. Sie bedingen einander gegenseitig. Nur wer weitgehend autonom ist, kann sich vernetzen. Und Netzwerke können umgekehrt unsere Autonomie befördern. Dazu braucht es aber viel mehr als Technik.

Franz Nahrada ist Soziologe und Leiter des Labor GIVE (Forschungsgesellschaft für das Leben im Globalen Dorf). Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Community Building, Nachhaltigkeit und Netzwerke. Gleichzeitig arbeitet er praktisch an einem neuen Modell von Gastronomie, einem ”Electronic Community Café“ in Wien-Jedlesee.

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