Nordhalbkugel-Perspektive

Von Matthias Finkentey · · 2005/05

Cover Chile 4/2005

Die Auswahl des Titelbildes und die Artikel von Antje Krüger und Robert Poth beschreiben nur sehr unzureichend die tatsächliche Situation in Chile nach fünf Jahren Regierung von Ricardo Lagos. Und um diese letzten fünf Jahre geht es bei der Betrachtung, nicht um die „verlorenen“ zehn Jahre der christdemokratischen Präsidenten Aylwin und Frei. Pinochet ist fünfzehn Jahre nach dem Ende der Diktatur eben nicht mehr das wichtigste Thema. Und das ist eines der sichtbarsten Ergebnisse der Regierung Lagos. Die aktuellen Enthüllungen um das ins Ausland geschaffte Vermögen Pinochets sind bereits der Anfang vom Ende der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Ich erinnere mich noch gut an meinen Aufenthalt in Chile im März 2000: Ricardo Lagos übernahm sein Amt im selben Moment, als Pinochet aus London zurück nach Chile kam. Dieses Thema war dann für ca. ein Jahr bestimmend, natürlich gefeatured von der immer noch sehr konservativen Presse. Lagos hat in der Folge trotz täglicher Insistenz der Presse standhaft einen Kommentar zu diesem Problem abgelehnt und auf die Gewaltenteilung verwiesen: das sei Aufgabe der Justiz. Und so war es auch. Die chilenische Justiz arbeitet langsam, aber sie arbeitet – und das ist einer der großen politischen Erfolge von Ricardo Lagos. Denn die Länder, in denen die Gewaltenteilung so funktioniert, sind gezählt – und da brauchen wir von Europa nicht nach Lateinamerika zu fahren!
Der Aufarbeitungsprozess der Diktatur wird sicher noch länger dauern. Aber man muss auch vergleichen: wann hat man in Deutschland angefangen, sich um die eigene Nazivergangenheit zu kümmern? Das war Ende der 1960er Jahre, aber dann gründlich erst wirklich in den 1970er Jahren, also gut dreißig Jahre nach 1945. Über die österreichische Art der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit wollen wir besser gar nicht reden.
Eine Bemerkung zur Beschreibung der Einkommensverteilung in Chile. Schon recht, es darf gemahnt werden. Aber bitte, bleiben wir realistisch: Man muss die Ausgangssituation in Chile berücksichtigen und das Land mit seinen Nachbarländern vergleichen. Veränderung ist nur möglich in einem langsamen Prozess, und der hat begonnen. Und wenn wir schon bei Zahlen sind, wie sieht die Situation in Österreich aus: laut einer Anfang des Jahres im STANDARD veröffentlichten Statistik besitzen in Österreich 10% der Bevölkerung 66% des Vermögens. So unterschiedlich sind die Zahlen also gar nicht. Und die Frage ist, welche Dynamik haben diese Zweidrittelgesellschaften, die in Chile und die in Europa?
In einem aktuellen Interview in der Tageszeitung „Tercera“ vom 13.3.2005 hat Ricardo Lagos noch einmal erklärt, was sein Ziel war: zu zeigen, dass auch eine Linksregierung „vernünftig“ regieren kann, dass Menschen in den Familien und in ihren Freundeskreisen weiter miteinander reden, auch wenn sie unterschiedlicher politischer Meinung sind. Und dass die ChilenInnen wieder nach vorne schauen und aktiv die Zukunft dieses Landes gestalten.
Und genau das merkt man derzeit in Chile an allen Ecken und Enden: Zukunft erscheint den Menschen möglich. Die lange politische Stabilität, die vielen wichtigen Reformen unter Ricardo Lagos, die haben dieses Land wirklich nach vorne bewegt: Reform des Justizwesens, Ehescheidungsgesetz, Verkürzung der Arbeitszeit, um nur drei zu nennen. Aber es geht vor allem um die Atmosphäre: und die ist überwiegend positiv und optimistisch. Wenn man diese Stimmung in Chile erlebt hat, dann ist das aktuelle Chile eben nicht so kritisch zu beschreiben, wie es hier getan wird. Das ist einfach eine falsche, eine Nordhalbkugel-Perspektive. Und die gehört so nicht in den Südwind.

Matthias Finkentey
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