Notizen aus Palästina

Von Stefan Kerl · · 2001/09

SÜDWIND-Mitarbeiter Stefan Kerl hielt sich zu Studienzwecken mehrere Wochen lang in Palästina auf. Wir bringen Auszüge aus seinen Tagebuchaufzeichnungen, Momentaufnahmen aus einem Alltag der ständigen Provokationen und des Terrors.

19. Juli. Ankunft in aller Früh in Jerusalem. Alles ruhig und wie immer. Nur dass sich der israelische Sherut-Fahrer (Sammeltaxi) nicht mehr bis zum Damaskus-Tor fahren getraut und zwar alle möglichen Leute nach Hause bringt, aber nicht jene Französin an ihr Ziel, die auf den Ölberg will. Dort ist es ihm zu gefährlich.

20. Juli. In Ramallah. In der Nacht auf heute wurden drei Palästinenser von Siedlern in Hebron getötet. Morgens kamen alle (arabischen) Zeitungen mit einem riesigen Bild des getöteten Babys heraus. Das Ganze bedeutet insofern eine Verschlimmerung des Konfikts, weil erstmals israelische Zivilisten – von einer radikalen Siedlerorganisation – Palästinenser töteten, was natürlich den Hass untereinander noch mehr schürt. Die Leute hier sehen nur mehr Hizbollah und Hamas als Alternative; Arafat genießt so gut wie kein Vertrauen mehr.

21. Juli. Gestern wurde das Hauptquartier der Fatah (die größte Palästinenser-Organisation; Anm.) in Hebron vermutlich von Israelis gesprengt. Diese behaupten natürlich, die Palästinenser hätten Bomben gebastelt und die wären explodiert. Vier Tote in zwei Tagen, und damit zwei riesige Begräbnisse mit Tausenden TeilnehmerInnen und wohl wieder einige neue Mitglieder von Selbstmordkommandos.2

24. Juli. Heute habe ich mit einer palästinensischen Mitarbeiterin eines Kinderzentrums geredet. Sie meinte: „Ich bin froh, wenn ich höre, dass ein Israeli getötet wurde. Früher war ich nicht so, aber das hat sich geändert.“

25. Juli. Heute wurde ein Palästinenser in Nablus von der israelischen Armee erschossen. Angeblich ein wichtiger Hamas-Aktivist. Das ist ja leider nichts Außergewöhnliches; ungewöhnlich war nur das Wie: mit vier Raketen auf sein Auto, abgeschossen von einem Apache-Hubschrauber. Rafah im Süden des Gaza-Streifens und Jericho in der Westbank sind seit Wochen zu. Einfach geschlossen. Keiner darf rein, keiner raus, auch keine Ausländer, keine Journalisten – nur Soldaten.

31. Juli. In Nablus wurden heute acht Palästinenser durch israelische Raketen getötet, darunter zwei Kinder. Das ist die perfekte Fortsetzung dessen, was gestern in Jenin geschah – dort starben sechs Menschen. Die Israelis nennen das „active defense“. Warum gerade jetzt die Israelis derart ihre Angriffe verstärken, ist mir unverständlich; es gab in den letzten Tagen keine Anschläge oder Aktionen von palästinensischer Seite.

6. August. Das Leben hier wird zunehmend schwieriger. Es wird auch schwieriger, E-Mails zu schreiben. Das Internet-Café hat oft geschlossen, gerade heute wurde wieder eine Leitung getroffen. Am letzten Samstag waren wir in Ramallah, ca. 300 Meter entfernt von dem Platz, wo das Auto des Fatah-Führers Marwan Barghouti mit Raketen beschossen wurde. Irgendwie faszinierend, wie wenig man mitbekommt. Wir standen am Hauptplatz und haben plötzlich die Massen in Richtung des Geschehens laufen sehen. Nachher gab es dann eine Demonstration durch die Stadt. Dieser Vorfall zeigt, dass Israel mittlerweile alle palästinensischen Führungspersonen, auch die von Arafats Fatah-Partei, auf ihren Todeslisten hat und nicht mehr nur Hamas-„Terroristen“.

8. August.Heute ist passiert, was passieren musste und was alle – allen voran Sharon – erwartet hatten. Ein Selbstmordattentat in einer Pizzeria inmitten des jüdischen Westjerusalem hat voraussichtlich 16 Tote und 70 Verletzte gefordert. Seit dem Angriff auf Nablus, bei dem acht Palästinenser starben, war ein derartiges Attentat angekündigt. Durch diesen Anschlag, und erst dadurch, kann Sharon seine Politik der „active defense“ rechtfertigen. Bei der palästinensischen Führung verstärken diese Attentate die vorhandene Lähmung. Die Menschen in Palästina sind in keinen breiten Kampf eingebunden. Die Intifada, der Volksaufstand, ist nicht fähig, sich als solcher zu organisieren. Die Selbstmordattentäter scheinen die Arbeit einer großen Bewegung zu übernehmen, nämlich Israel zu schwächen – das Gegenteil ist aber der Fall.

13. August. Bei der heutigen gemeinsamen palästinensisch-israelischen Demonstration gegen die Besetzung des Orienthauses wurden alle verhaftet, die versuchten, die palästinensische Flagge oder sonst ein Transparent zu entrollen. Offensichtlich geht es darum, die Letzten der Friedensbewegung zu verhaften und unschädlich zu machen.

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