Quo vadis, Lula?

Von Robert Poth · · 2002/12

Ohne Senkung der hohen Realzinsen wird die brasilianische Wirtschaft kaum nachhaltig wachsen können. Doch die Koalition des gewählten Präsidenten scheint davor zurückzuschrecken.

Wenn der Internationale Währungsfonds (IWF) vernünftige Ziele vorgibt und der US-Finanzminister (Paul O’Neill) seinen Mund hält, dann werde sich die Lage Brasiliens wieder normalisieren, meinte der US-Ökonom Paul Krugman Anfang November gegenüber der brasilianischen Tageszeitung Folha de Sao Paulo – eine Anspielung auf die Bemerkung O’Neills im Frühjahr, Finanzhilfe für Lateinamerika würde bloß auf Schweizer Bankkonten landen. Tatsächlich bestand kaum Grund, an der Zahlungsfähigkeit der brasilianischen Regierung zu zweifeln. Die Angst vor einem Sieg des ehemaligen Gewerkschaftsführers von der Arbeiterpartei (PT), Luis Inácio „Lula“ da Silva, bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober – oder die Absicht, ihn zu verhindern – erzeugte ihre eigene Begründung: Durch die drastische Abwertung des Real im Laufe des Jahres verschlechterten sich die Schuldenkennzahlen Brasiliens rapide. Der Anteil der Nettoschulden des öffentlichen Sektors am Bruttoinlandsprodukt (BIP) etwa stieg seit Jahresbeginn von 54% auf etwa 65%.
Nach dem überzeugenden Wahlsieg Lulas Ende Oktober begann sich die Lage etwas zu entspannen. Um weitere Panik zu vermeiden, hatte sich die Lula-Koalition zur Einhaltung des Abkommens mit dem IWF vom August über die Zusage einer Rekord-Kreditlinie von 30 Mrd. US-Dollar bekannt. Es enthält zahlreiche Vorgaben, darunter einen primären Budgetüberschuss von 3,75% des BIP (nach 3,88% im laufenden Jahr) sowie die weitere konsequente Bekämpfung der Inflation. Das bedeutet wenig Spielraum für eine aktive Sozialpolitik der zukünftigen Regierung. Allerdings beliefen sich die Zinszahlungen zuletzt auf rund 7,5% des BIP (Österreich: 3,4%), und das Budgetdefizit lag 2001 bei 3,3% des BIP. Hier noch Schulden zuzulegen, würde die Situation wohl aus dem Ruder laufen lassen – jedenfalls zu den in Brasilien notorisch hohen Realzinsen (Leitzinsen abzgl. Inflationsrate).
An Devisen mangelt es jedenfalls nicht, was für Beruhigung sorgen sollte. Die Handelsbilanz des Landes hat sich entscheidend verbessert. Sie dürfte nach Prognosen der brasilianischen Zentralbank dieses Jahr ein Plus von 11 Mrd. Dollar und im kommenden Jahr von 15 Mrd. Dollar aufweisen (siehe Grafik), eine Folge eines Rückgangs der Importe, der sich allerdings in erster Linie der wirtschaftlichen Stagnation verdankt. Der „Turnaround“ ist bemerkenswert: Das Leistungsbilanzdefizit soll 2002 bloß elf Mrd. Dollar betragen und 2003 weiter auf neun Mrd. Dollar fallen. Genau dieses Defizit war seit der Währungsreform von 1994 dramatisch gewachsen und hatte das Land den Launen der Kapitalmärkte ausgeliefert. 1999 entschloss sich die Regierung zur Abwertung und ersparte damit dem Land wohl ein argentinisches Schicksal. Das jetzt erwartete Defizit dürfte sich problemlos durch Kapitalimporte finanzieren lassen – darin sind sich die scheidende Regierung und die PT-Wirtschaftsberater einig. Sofern sich ausländische Investoren wie Citibank, AT&T, Monsanto & Co nicht konzertiert aus Brasilien zurückziehen – und dazu die 30 Mrd. Dollar des IWF beanspruchen, ihr eigentlicher Zweck, wie böse Zungen mutmaßen – sollte die Regierung Lula mit keiner Zahlungsbilanzkrise konfrontiert sein.

Aber ein Selbstfaller ist im Bereich des Möglichen. Die Realabwertung führt zu einer importierten Preissteigerung und einer Abweichung von den strikten Inflationszielen der brasilianischen Zentralbank. Dagegen lässt sich nichts tun, sie versucht aber, einen weiteren Preisauftrieb zu unterbinden, indem sie die Leitzinsen (SELIC) erhöht. Das tat sie zuletzt am 14. Oktober, und zwar kräftig – von 18% auf 21%. Das Problem dabei: Mehr als 50% der Inlandsschulden des öffentlichen Sektors sind an den Leitzinssatz gebunden, und jede SELIC-Erhöhung um ein Prozent auf ein Jahr erhöht den Schuldendienst der Regierung um 0,3% des BIP.
Wahrlich kein Schritt, der das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der Regierung erhöht, aber leider nicht die einzige fatale Wirkung der hohen Realzinsen. Sie würgen auch Investitionen und Konsum ab und sorgen nebenbei für eine perverse Umverteilung: die breite Unterschicht finanziert über Massensteuern hohe Zinseinkommen der Ober- und Mittelschicht. Dass die Realzinsen zu hoch sind, ist in Brasilien und auch in der Region weithin anerkannt. Eine dauerhafte Sanierung des Budgets werde sich wohl nur über eine Senkung der Zinssätze machen lassen, meint etwa die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB). Und für die PT gehört die Senkung der Realzinsen überhaupt zum wirtschaftspolitischen Credo: „Mit Realzinsen von 12 Prozent im Jahr gibt es kein Wachstum“, sagt ihr Wirtschaftsberater, der Ökonom Guido Mantega, der es durchaus für möglich hält, sie auf 3 bis 6 Prozent zu drücken – etwa indem man bei der Inflationsbekämpfung Abstriche macht.

Entsprechend hatte Lula – damals noch im Wahlkampf – auch die Erhöhung der Leitzinsen durch die Zentralbank im Oktober kritisiert. Schon damals hatte aber PT-Chef José Dirceu die Maßnahme überraschend als „unvermeidlich“ bezeichnet. Nun scheint aber tatsächlich ein Umdenken einzusetzen. Als Mitte November ein weiteres Ansteigen der Inflation gemeldet wurde, hieß es, die Zentralbank wolle die Leitzinsen neuerlich erhöhen – und zwar mit Zustimmung der PT-Spitze, wie die Folha de Sao Paulo am 15. November schrieb. Als Begründung wurden Befürchtungen genannt, die Preise könnten gerade im ersten Jahr der Amtszeit von Lula steigen; daher würde man lieber jetzt das Wirtschaftswachstum opfern als die Preisstabilität.
Zweifellos steckt die PT hier in einem Dilemma, denn die steigende Inflation betrifft gerade die Menschen mit geringem Einkommen: Insbesondere Lebensmittel, Gas, aber auch Strom- und Telefontarife dürften sich teils erheblich verteuern. Nur sind sich die meisten ExpertInnen einig, dass mit Leitzinserhöhungen wenig gegen importierte Inflation ausgerichtet, sehr wohl aber die schwächelnde Wirtschaft in die Rezession getrieben werden kann. Und das könnte der letzte Anstoß für ausländische Investoren sein, Brasilien bis auf weiteres den Rücken zuzukehren. Hoffentlich weiß die PT, was sie tut.

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