Rauten gegen den bösen Blick

Von Redaktion · · 2003/05

Fair geknüpfte Teppiche, zu ökologisch verträglichen Bedingungen hergestellt, werden von Step-Betrieben produziert. Ein Bericht aus Marokko von SÜDWIND-Redakteurin Lydia Matzka.

Aicha Aït Yassin hat mit etwa zehn Jahren zu knüpfen begonnen. Die Berberfrau schätzt ihr Alter heute auf 36. Wie fast alle Frauen ihrer Generation habe sie nie eine Schule besucht, erzählt sie. Aicha ist eine der Frauen, die für das Projekt „Aït Khozema“ des Steirers Wilfried Stanzer Teppiche knüpft. Im Dorf Amassine, 2000 Meter hoch im Anti-Atlas gelegen, knüpfen je nach Bedarf zwischen 40 und 400 Frauen für den Betrieb von Stanzer und verdienen dabei zwischen 50 und 200 Prozent mehr als sonst wo in Marokko. Amassine zählt ca. 1.800 EinwohnerInnen. Die BewohnerInnen leben neben der Teppichproduktion hauptsächlich von der Landwirtschaft. Angebaut werden zum Beispiel Gerste, Kartoffel, Rüben, Mais und Safran.
Das „Aït Khozema“-Projekt produziert für die Schweizer Stiftung Step. Diese engagiert sich seit fast acht Jahren für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und kämpft gegen missbräuchliche Kinderarbeit in der Herstellung handgefertigter Teppiche.
„Aït Khozema“ bezeichnet fünf Berber-Gruppen und heißt übersetzt „Söhne vom Lavendel“. Deswegen wird das Projektzeichen auch in Lavendelfarbe auf die Teppiche angebracht.
Wilfried Stanzer ist seit fast 40 Jahren immer wieder in den Orient gereist. Als Dokumentarfilmer und Sachbuchautor war er vor allem im Iran und in Afghanistan unterwegs. Dort eignete er sich umfassende Kenntnisse über Teppichproduktion und Teppichhandel an. Für sein wissenschaftliches Werk bekam er vor zweieinhalb Jahren vom österreichischen Bundespräsidenten den Ehrentitel „Professor“ verliehen.

Die Idee für das Projekt hatte der Teppichexperte 1995 in Marrakesch im Zuge einer Konferenz der ICOC (International Conference on Oriental Carpets), deren Präsident er ist. Auch familiäre Gründe kamen hinzu, als sich Stanzer vom Dokumentarfilmer zum Teppichhändler wandelte.
95 Prozent der „Aït Khozema“-Teppiche werden nach Europa exportiert. Zwischen 180 und 200 Stück werden im Jahr hergestellt. Farben und Muster wählt Stanzer aus. Und er lässt sich dabei vom Musterschatz der marokkanischen Kultur leiten, ein Konglomerat aus berberischen, arabischen, jüdischen und zentralafrikanischen Elementen.
„Millimeterpapier ist für mich verpönt“, sagt Stanzer. Er gibt nur grobe Vorgaben und lässt den Frauen ihren kreativen Freiraum. „Es gibt immer wieder Überraschungsmomente, dass die Frauen etwas hineinknüpfen, von dem ich vorher nichts wusste. Doch was anfangs vielleicht ungewohnt aussieht, gibt dann dem Teppich oft das gewisse Etwas“, erzählt er lachend. Die Teppiche sollen wie vor 150 Jahren hergestellt werden. Deshalb verwenden die Frauen die alten Muster und Symboliken und verzichten auf Chemiefarben. Sie spinnen die Wolle mit der Hand und färben sie mit Pflanzen. Im Sonnenlicht leuchten die Pflanzenfarben viel kräftiger. Ausdrucksstark, aber nicht aufdringlich und ohne dass die Augen des Betrachters schmerzen.
Solche Teppiche zu knüpfen dauert viel länger als herkömmliche. Die Färbepflanzen müssen gesammelt, getrocknet bzw. zur Farberzeugung präpariert werden.
Bis 1890 wurde in Marokko ausschließlich Naturfarbe verwendet. Die Chemiefarben kamen mit den Franzosen ins Land. Den Menschen haben die leuchtenden, reinen und chemisch hergestellten Farben gefallen, sie fanden rasche Verbreitung. Außerdem erleichterten und verkürzten sie die Arbeit. Heute verwendet kaum jemand mehr Naturfarben, auch wenn in so manchem Souk Gegenteiliges behauptet wird.
Nicht nur äußerlich – bei Farbkombination, Muster und Knüpftechnik – besinnt sich Stanzer auf die alten Traditionen. Er will mit den mythischen Symbolen auch das dazu gehörige Lebensgefühl wieder beleben.
Die Raute ist das wichtigste Symbol der Berber. Sie stellt die Vagina dar und steht für Fruchtbarkeit. Weiters symbolisiert sie das Auge, das vor dem „bösen Blick“ schützt.

Bereits mehr als 40 Prozent aller in der Schweiz verkauften Teppiche entsprechen dem Step-Kodex. Das Step-Siegel für Unternehmen soll nun auch in Österreich im Rahmen der Clean Clothes Kampagne (CCK) etabliert werden. „Kinder, die jünger als 14 Jahre sind, dürfen nicht in einer Fabrik arbeiten“, sagt Werner Dick von der Stiftung Step. „Ich möchte aber nicht ausschließen, dass zum Beispiel in Pakistan ein Kind seiner Mutter beim Teppichknüpfen hilft“, fügt Dick hinzu. Während die internationale Initiative „Rugmark“ sich gegen jede Art von Kinderarbeit in der Teppichproduktion einsetzt, engagiert sich Step „nur“ gegen missbräuchliche Kinderarbeit. „Ich halte es für realistischer, wenn – wie bei Step – Kinder im Rahmen der Familie mitarbeiten können“, betont Elisabeth Schinzel von CCK-Österreich. „Das muss nicht immer Ausbeutung bedeuten.“ Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Rugmark und Step ist, dass das Siegel „Rugmark“ für einzelne Teppiche vergeben werden kann, während Step verlangt, dass sich ganze Betriebe auf eine faire Produktionsweise umstellen.

In Marokko begleitet Step drei Betriebe: eine kleine Fabrik in Rabat (mit nur fünf Knüpfstühlen), eine größere in Kenitra (wo etwa 300 Frauen knüpfen) und das Dorf Amassine (wo zwischen 40 und 400 Frauen für das Projekt „Aït Khozema“ werken).
Auch die Knüpferinnen des Step-Betriebes „Kenitra Carpet“ stellen Teppiche für den europäischen Markt her. Exportiert wird hauptsächlich nach Deutschland. „Kenitra Carpet“ ist mit 45.000 m2 Teppichen pro Jahr der größte Step-Lieferbetrieb in Marokko. Im ganzen Land werden jährlich circa 400.000 m2 Teppiche für den Export produziert. „Früher waren es viel mehr: 1984/85 wurden noch zwei Millionen m2/Jahr exportiert. Dann fiel der Teppichhandel in eine Krise“, erzählt Abdallah Zahnoun, Chef von Kenitra Carpet, nachdenklich, „doch wir hoffen, dass die Nachfrage wieder steigen wird“.
Abdallah Zahnoun unterstützt auch soziale Projekte: Vor allem zu Schulbeginn versorgt er Erstklassler (ca. 100 Kinder) mit Unterrichtsmaterialien; im Fastenmonat Ramadan werden Lebensmittel an arme Familien verteilt; ca. 100 Beschneidungsfeiern von Burschen werden finanziert. Diese wichtige Tradition kommt die Familien teuer zu stehen. Kindern aus armen Familien wird ein zweiwöchiger Urlaub am Meer finanziert. „Wir sorgen uns nicht um die Arbeiterinnen, Arbeiter und deren Familien, die haben bei uns ein gerechtes und geregeltes Einkommen. Wir sorgen uns um die Armen, die kein Geld haben“, erzählt Zahnoun.
„Die Teppichknüpferinnen arbeiten frei. Sie kommen und gehen, wann sie wollen“, fügt er hinzu. Die Frauen werden im Step-Betrieb gut entlohnt. Je nach Qualität und Muster bekommen sie zwischen 70 und 200 Dirham (6,5-18,5 Euro) pro m2 bezahlt. „Frauen, die ‚full time‘ bei mir arbeiten, verdienen circa 200 Euro im Monat. Der Mindestlohn in Marokko liegt bei 166 Euro im Monat“, sagt Zahnoun.

Während sich die Männer hauptsächlich um die Landwirtschaft kümmern, war und ist das Teppichknüpfen Frauensache. Früher knüpften sie fast ausschließlich für den Hausgebrauch. Die Frauen knüpften all ihre Hoffnungen, Wünsche und Ängste mit hinein. Durch die Kommerzialisierung der Teppichproduktion ist dieser mythische Vorgang verloren gegangen. Die Frauen knüpfen nicht mehr für sich selbst, sondern für eine anonyme Kundschaft. Stanzer will den alten Zauber wieder einfangen. „Anfangs war es schwierig, den Frauen klar zu machen, dass die alten Muster wieder gefragt sind. Sie waren die kleinteiligen Muster für die maschinelle Erzeugung gewohnt, die die lokalen Händler vorher von ihnen verlangt hatten“, erzählt Stanzer. Doch neu ist, dass die Frauen durch das Projekt erstmals Geld in die Hand bekommen. Bislang wurde der Verkauf der Teppiche über die Männer abgewickelt, welche sie am 70 km entfernten Wochenmarkt feilboten. Die Kinder bleiben in der Regel bei der Mutter, die sich neben Teppichknüpfen auch um die Hausarbeit (vor allem Putzen, Waschen und Kochen) kümmern muss.
Ob Aicha Aït Yassin ihre Wünsche mitknüpft? „Nein, ich arbeite fürs Projekt. Wenn ich einen Teppich für mich machen würde, dann würde ich meine eigenen Wünsche einbringen“, sagt sie lächelnd. Akia Safi sitzt neben ihr und nickt. Ob sie denn lieber etwas anderes als Teppichknüpfen tun würde? „Nein“, sagt Akia Safi, „auch wenn ich die Wahl hätte, würde ich Teppiche knüpfen, denn das gehört zu unserer Tradition.“ Aicha Aït Yassin stimmt ihr zu.


Weiterführende Information:
www.rugmark.net
www.oneworld.at/cck
www.step-foundation.ch
www.wortwerkstatt.at
Artikel zu Step siehe SWM Nr. 1-2/2003 (Seite 8)

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