Rede und Reue

Von Hakeem Jimo · · 2001/03

Nach eineinhalb Jahren Inaktivität hat in Nigeria die Kommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen nun mit öffentlichen Anhörungen begonnen.

Der Galgen steht noch immer da. Auch der Strick mit der Schlinge schaukelt, wenn sich doch einmal ein leichter Luftzug in die stickigen Gefängnisbauten von Port Harcourt verirrt. Aber seit dem Schicksalstag im November vor fünf Jahren wurde hier kein zum Tode Verurteilter mehr aufgeknüpft. Und auch an jenem 10. November 1995 musste eigens ein Henker aus der rund tausend Kilometer entfernten Wüstenstadt Sokoto eingeflogen werden, weil im Mündungsdelta des Nigerflusses niemand die unheilvolle Aufgabe übernehmen wollte: das Vollstrecken des Todesurteils am Schriftsteller, Menschenrechts- und Umweltaktivisten Ken Saro-Wiwa und an acht seiner Mitstreiter.
Und wieder fließen Tränen. Von denen, die der Exekution schon damals aus ihren Gefängniszellen zugesehen haben und nun als Zeugen wieder an diesem Ort sind. Und von anderen, die die Menschenrechtsverletzungen vergangener, nigerianischer Unrechtsregime nun mittels einer Kommission untersuchen und sich Schauplätze der Verbrechen ansehen: etwa das Gefängnis in Port Harcourt im Nigerdelta.

Die „Human Rights Violations Investigation Commission“ soll nun, nach mehr als dreißig dunklen Jahren, Licht in die nigerianische Geschichte bringen. Die beleuchtete Zeitperiode deckt fast die gesamte Existenz des unabhängigen Nigeria ab: von Januar 1966 – als sich zum ersten Mal das Militär an die Macht geputscht hatte, gerade einmal sechs Jahre nach der Unabhängigkeit Nigerias von Großbritannien – bis zur Amtsübernahme des vor zwei Jahren gewählten Präsidenten Olusegun Obasanjo.
Über dreißig Jahre, in denen das Militär die rund 120 Millionen NigerianerInnen mit einem Willkürregime nach dem anderen nötigte und die Wirtschaft und Lebensverhältnisse durch das Primat der Korruption ruinierte, sollen aufgearbeitet werden. Als absoluter Höhepunkt des Grauens gilt die Schreckensherrschaft von General Sani Abacha Mitte der neunziger Jahre.

Kurz nachdem Obasanjo Ende Mai 1999 sein Amt als Präsident angetreten hatte, setzte er die Kommission ein. Sie besteht aus sieben Mitgliedern unter dem Vorsitz von Chukwudifu Oputa, einem ehemaligen Richter am Obersten Gerichtshof Nigerias. Neben zwei weiteren Richtern sitzen in dem Gremium unter anderem Tunji Abayomi, ein Aktivist und Anwalt für Menschenrechtsfragen, der Generalsekretär der katholischen Kirche in Nigeria, Matthew Kukah, und zwei Frauen aus dem NGO-Sektor, Modupe Areda und Elizabeth Pam.
Die Kommission soll eine Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild sein. „Wir wollen keine Hexenjagd. Die Kommission möchte traumatisierten Opfern eine Chance geben, ihre Erlebnisse und Qualen zu bewältigen, und Tätern ein Rede-Forum bieten, um Reue zu zeigen“, sagt der Vorsitzende Oputa. Doch die Arbeit kam nur ziemlich langsam in Gang. Finanzielle Probleme verhinderten immer wieder einen Beginn. Erst im Oktober konnte die Kommission endlich zu arbeiten beginnen, nachdem unter anderem Hilfe der „Ford Foundation“ eintraf, wie das nigerianische Nachrichtenmagazin „Tell“ berichtete.

Das noble Anliegen der Oputa-Jury wird von den meisten NigerianerInnen grundsätzlich befürwortet. Doch bei der praktischen Umsetzung schlägt ihr Skepsis entgegen. Das begann bereits bei der Auswahl der Fälle, die untersucht werden sollen. „Wie kommt es, dass nur 200 von insgesamt über 10.000 Petitionen akzeptiert wurden?“, fragt sich Omolade Adunbi von „Civil Liberties Organisation“, der ältesten nigerianischen Menschenrechtsorganisation. „Und bei diesen 200 Anträgen handelt es sich auch noch zum überwiegenden Teil um Petitionen einflussreicher NigerianerInnen. Anhörungen über schwere Menschenrechtsverletzungen wie zum Beispiel die rücksichtslose Zerstörung eines Armenviertels mit 300.000 EinwohnerInnen in Lagos im Zusammenhang mit Bauspekulationen wurden im letzten Moment abgesagt, ohne Begründung oder Absprache mit den Betroffenen.
Aber auch nachdem die Anlaufschwierigkeiten überwunden waren, wurde es nicht einfacher mit der Aufgabe, Tatsachen und die Wahrheit über Menschenrechtsverletzungen herauszufinden, und so die entlang ethnischer Linien gespaltene Bevölkerung zu versöhnen.
Mit Paul Okuntimo und Dauda Musa Komo wollte sich keiner der angereisten Ogonis versöhnen. Unbeeindruckt von den Vergewaltigungszeugnissen eines Dutzend Ogoni-Frauen und den anderen insgesamt ursprünglich über 8000 von den Ogonis eingebrachten Petitionen trat Major Okuntimo in einem traditionellen Gewand der Ogoni-Ältesten auf.
Okuntimo, den viele als personifizierte Heimsuchung der Ogonis sehen, stellte sich als Retter der eine halbe Million zählenden Minderheit dar. Öffentlich dankte er Gott, dass er noch die Chance habe, Zeugnis abzulegen. Aber seine Stellungnahme wurde mehrmals mit „Killer“-Zwischenrufen gestört. Zeitungen schrieben später, dass Okuntimo nur mit einer Flucht durch den Hinterausgang einem Lynchmord entkommen sei.
Auch von seinem Vorgesetzten, dem Ogoni-Zeugen vorwerfen, die Erhängung Ken Saro-Wiwas persönlich überwacht zu haben, kam kein Wort der Reue oder des Einsehens. Kaum ein Täter trat bislang vor die Wahrheitskommission und offenbarte seine Verbrechen. Entweder werden die Anschuldigungen bestritten oder nur vage zugegeben.

Um diesen Missstand zu beseitigen, hat die Kommission allerdings nicht viele Mittel. Probleme ergeben sich hauptsächlich aus der Beschränkung des Mandats. Wiederholt hat der Kommissionsvorsitzende Oputa den Staatspräsidenten Olusegun Obasanjo, dem die Jury direkt untersteht, aufgefordert, die Kompetenzen des Gremiums zu erweitern. Zurzeit kann sie weder eine Amnestie für redewillige Täter anbieten noch rechtliche Zwangsmaßnahmen ergreifen, wenn jemand die Zusammenarbeit verweigert. Die Unterstützung der Regierung für diesen wichtigen Versöhnungsprozess wirkt halbherzig.
Adunbi von „Civil Liberties Organisation“ erklärt sich dies damit, dass Präsident Obasanjo ursprünglich vorhatte, nur die Regierungszeit des despotischen Abacha untersuchen zu lassen. „Doch dann wuchs der Druck, dass auch Menschenrechtsverletzungen in der Zeit davor untersucht werden müssten“, sagt Adunbi. „Plötzlich sah sich Obasanjo selber in der Schusslinie, weil er Ende der siebziger Jahre Militärmachthaber war und auch Leichen im Keller hat.“
Jetzt befindet sich Obasanjo in der prekären Situation, dass er einerseits als Zeuge für die an ihm verübten Menschenrechtsverletzungen während seiner Gefangenschaft unter Abacha auftreten wird, andererseits aber selber zum Angeklagten zu werden droht, weil auch in seiner Zeit als Militärmachthaber von 1976 bis 1979 Menschenrechtsverletzungen vorkamen.

Trotz wiederholter Forderungen nach mehr Kompetenz auch nach den Erfahrungen der ersten Anhörungswochen in Abuja, Lagos und Port Harcourt scheint Obasanjo nicht zu Zugeständnissen bereit zu sein. Das einzige, was die Kommission weiter machen kann, ist Empfehlungen für andere Instanzen zu geben: ob Kompensation gezahlt, ob Fälle von einem Straf- oder Zivilgericht übernommen werden oder ob neue polizeiliche Untersuchungen vorgenommen werden sollten.
Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur südafrikanischen „Truth and Reconciliation Commission“ unter Erzbischof Tutu. Diese konnte beispielsweise den früheren Apartheid-Präsidenten Botha unter Strafandrohung zur Anhörung vorladen. In der nigerianischen Variante der Wahrheitskommission geht nichts ohne die freiwillige Kooperation der Zeugen. Insgesamt gibt es in Afrika neben der südafrikanischen und nigerianischen Wahrheitskommissionen auch im Tschad, in Sierra Leone und Uganda ähnliche Projekte.

Inwieweit Wahrheitskommissionen in Nigeria, Afrika oder anderswo die erhoffte Versöhnung bringen, weiß auch das Kommissionsmitglied Bala Ngilari nicht. „Wichtig ist jetzt auf jeden Fall, dass alles dokumentiert wird – mit allen Medien. Schon jetzt gibt es so etwas wie Legendenbildung in einigen Fällen. HistorikerInnen werden dieses Material brauchen“, sagt Ngilari, ein gelernter Rechtsanwalt.
Den greisen Vater des ermordeten Ken Saro-Wiwa – und wahrscheinlich viele andere auch – trösteten diese Worte nicht. Bei einem Besuch der Jury in seinem Familienhaus im Ogoni-Land sagte Jim Wiwa: „Was wollen Sie von mir. Mein Sohn ist tot – und ich bin traurig.“

Hakeem Jimo ist Westafrika-Korrespondent mehrerer deutschsprachiger Medien mit Sitz in Cotonou (Benin).

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