Ruy Cinatti: Lieder für Timor. Prosatexte und Gedichte.

Von Werner Hörtner · · 2002/07

Aus dem Portugiesischen von Elfriede Engelmayer. Verlag Walter Frey, Edition Tranvía. Berlin 2002, 195 Seiten, 40 Fotos, € 22,-.

Der Portugiese Ruy Cinatti, Agrartechniker und Anthropologe, war von 1946 bis 1948 in der Kolonialverwaltung in Osttimor tätig und hielt sich auch später mehrmals auf der Insel auf. Er entwickelte eine tiefe Liebe zu der Natur und den Menschen, die bis hin zur Identifikation mit den BewohnerInnen dieser Region ging. Cinatti war kein Antikolonialist, noch weniger ein Revolutionär – er war ein treuer Beamter des faschistischen Salazar-Regimes, der erst langsam, v.a. nach dem Ausbruch des Kolonialkriegs in den 60er Jahren, zu dessen Kolonialpolitik auf Distanz ging.
Doch entgegen der vorherrschenden – auch unter Anthropologen stark verbreiteten – Kolonialmachtsphilosophie, die im Untertan ein unreifes, unterentwickeltes Subjekt sah, war für Cinatti der Timorese „ein erwachsenes, denkendes Wesen mit einer sozial definierten, verantwortungsvollen Persönlichkeit“. Und schon 1948 schrieb er: „Eines stand fest: Die Reinheit, die Gerechtigkeit und andere, noch transzendentere Mächte würden durch die wunderbare Wirklichkeit eines neuen Timor gekrönt werden.“ Es sollte noch mehr als ein halbes Jahrhundert dauern, bis diese „wunderbare Wirklichkeit“ tatsächlich Realität wurde.
Der „Cancioneiro para Timor“ erschien in Portugal erst 1996, zehn Jahre nach dem Tod des Kolonialbeamten und Schriftstellers. Er vereinigt Prosatexte aus verschiedenen Publikationen Cinattis. Ein Höhepunkt dieser Aufsätze ist ein imaginärer Dialog mit einem timoresischen Stammeshäuptling – einem Alter Ego des Autors – , in dem Cinatti mit diesem über die Liedersammlung diskutiert, die den zweiten Teil des Buches ausmacht. Der Teil „Der Waise“ in Cinattis „Lieder für Timor“ trägt auch autobiographische Züge: „Meine Mutter floh vor mir, / wie der Adler in der fernen Luft. / Ich möchte mit ihr sprechen und kann nicht. / Ich habe ihre Sprache verloren. / Meine Mutter spricht mit den Adlern. / Ich habe ihre Sprache verloren.“ Die Mutter des Autors verstarb schon sehr früh; gleichzeitig kann dieses Gedicht auch als Klage eines akkulturierten Osttimoresen über den Verlust seiner Kultur verstanden werden.
Die Annektion Osttimors durch Indonesien 1975 versetzte Cinatti in eine tiefe psychische Krise. Er sah seine geistige Wahlheimat nie wieder, und er sollte auch die „wunderbare Wirklichkeit“, die Unabhängigkeit Osttimors, nicht mehr erleben.

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