Sex-Arbeiterin im Ruhestand

Von Redaktion · · 2015/09

Was geschieht in Mexiko mit Prostituierten, wenn sie alt werden? Jene, die Glück haben, wohnen in der Casa Xochiquetzal, einem Haus voller einzigartiger Frauen in Mexiko-Stadt. Sonia ist eine von ihnen. Celia Gómez Ramos und Bénédicte Desrus haben sie besucht.

Als kleines Mädchen, erinnert sich Sonia, erklärte der Vater ihr immer, sie hätte blaues Blut. Bis sie von einem Baum fiel und bemerkte, dass das nicht stimmte. Bald danach verließ sie ihr Zuhause. Sie war damals elf Jahre alt, und sie fühlte sich endlich frei von den Regeln ihrer Mutter und deren religiöser Erziehung.

Heute ist Sonia 64. Die attraktive und auffallend hellhäutige Frau ist eine Bewohnerin der Casa Xochiquetzal. Seit Kurzem verkauft sie Süßigkeiten und Zigaretten, denn – wie sie lächelnd sagt – „es kommt ja niemand mehr vorbei“. Sonias Auftreten ist stolz und selbstsicher. Zwei Stunden kann es dauern, bis sie sich zum Ausgehen zurecht gemacht hat. Ihr weißes Haar trägt sie kurz. Sie redet gerne, hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis und ist eine gute Geschichtenerzählerin.

Das Leben, ein Kampf. Sonia erinnert sich daran, als Kind sehr aufmerksam gewesen zu sein und immer viele Fragen gestellt zu haben. Ihr Vater, ein professioneller Hahnenkämpfer, arbeitete auf einer Hacienda.

„Nachdem ich von daheim fortgegangen bin, arbeitete ich als Kellnerin, ein Freund brachte mir das Lesen bei.“ Als sie 13 Jahre alt war, wurde sie am Rande einer Tanzveranstaltung von einem Mann missbraucht, dann schoss er auf sie, um sie vom Schreien abzuhalten. Die Kugel blieb in ihrem Kopf stecken und konnte nicht mehr entfernt werden. Ein Arm und ein Bein wurden dadurch teilweise gelähmt. Außerdem wurde sie schwanger.

Sonia arbeitete auch nach alldem weiter als Kellnerin – sie brauchte das Geld. Bis sie mit 15, nachdem sie von vielen Restaurant-Kunden belästigt worden war, entschied: Wenn ich Sex haben muss, dann kann ich mich auch gleich dafür bezahlen lassen.

Nun lebt Sonia seit fünf Jahren in der Casa Xochiquetzal. Sie zog in die Unterkunft, nachdem eine ihre Töchter sich mit ihren Ersparnissen auf und davon gemacht hatte. Es ist schwer vorstellbar, dass die Bewohnerinnen der Casa, mitten in der Altstadt von Mexiko-Stadt, einst Liebe verkauft haben – oder es in manchen Fällen immer noch tun. Alle sind sie älter als 55, alle haben irgendwann auf der Straße gelebt.

Ein neues Zuhause. Eröffnet wurde die Casa Xochiquetzal im Jahr 2006. Sie ist ein gemeinsames Projekt der Stadtregierung, die das Gebäude und die Verpflegung zur Verfügung stellt, und von weiblichen Intellektuellen und Künstlerinnen, die eine NGO gegründet haben und sich mithilfe von Spenden um alles Weitere kümmern.

Heute leben 26 Frauen unter demselben Dach. Sie schlafen und träumen in einem Gebäude, das früher „Hall of Fame“ genannt wurde – ein Haus aus dem 18. Jahrhundert, jetzt renoviert und recht ansehnlich. Es liegt zwischen den zentralen Vierteln La Merced und Tepito.

Wann fühlt sich eine Frau, die als Prostituierte gearbeitet hat, alt? Sonia sagt: mit 40. Sie erzählt, wie manchmal, wenn sie auf der Plaza Loreto saß, jemand vorbeikam und fragte, wie spät es sei. Sie habe dann immer gesagt: „Willst du wirklich wissen, wie spät es ist, oder willst du etwas anderes?“

Sonia ist zufrieden. Sie putzt jeden Tag ihr Zimmer, sie richtet sich gerne nett her, sie freut sich, etwas Geld in ihrer Tasche zu haben und liest ihre Comic-Bücher. Und sie sticht gerne unter ihren Mitbewohnerinnen heraus. „Meine Freundinnen? Das sind meine Brüste.“ Sie nimmt eine Brust in die Hand. „Die halten zusammen und erzählen mir keine Geschichten.“ So redet Sonia, aber wenn jemand aus der Casa kommt und ihre Hilfe braucht, dann ist ihre Solidarität grenzenlos.

Die Frauen der Casa sind lustig. Und sie sind weise. Sie haben eine lebendige Fantasie, aber auf den Leim gehen sie niemandem mehr.

Celia Gómez Ramos ist eine mexikanische Autorin, die zwischen Journalismus und Literatur wechselt.

Bénédicte Desrus ist eine preisgekrönte französische Fotografin und lebt in Mexiko-Stadt.

Übersetzung: Nora Holzmann

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