Tango andersrum in Buenos Aires

Von Antje Krüger · · 2006/10

Die Diskriminierung Homosexueller ist in Argentinien verboten. Doch die gesellschaftlichen Realitäten hinken der Gesetzgebung oft hinterher. Die Milonga La Marshall in Buenos Aires ist ein Freiraum für alle, die anders sind und trotzdem Tango lieben.

Es ist spät nachts, ein Mittwoch im Zentrum von Buenos Aires. Gespannte Stille herrscht in dem kleinen Saal in der Calle Maipú. Nur das Rascheln von Kleidung oder ein vereinzeltes Scharren von Füßen ist noch zu hören, wenn sich jemand bequemer hinsetzt. Wie ein Seufzer schwebt plötzlich das Wehklagen eines Bandoneons durch den Raum, während die Tänzer gemessenen Schrittes Position auf der Tanzfläche in der Saalmitte beziehen. Eine kurze Pause, kaum länger als ein Atemholen, und wie ein Gewitter bricht die Musik über die ZuschauerInnen herein. Zwei Körper in enganliegenden, glänzenden Hosen und blauen Shirts wirbeln umeinander, verhaken die Beine ineinander, gehen wieder auseinander. Die Melodie wird leiser, ein anderes Paar kommt herein, rot gekleidet, tanzt kein Gewitter, sondern pure Sinnlichkeit. Das Bandoneon wehklagt erneut.
Eine Tangoshow mitten im Mekka des Tanzes der zwei traurigen Herzen und vier fröhlichen Beine. Das Publikum schaut gebannt und feiert besonders gelungene Figuren mit spontanem Beifall. Eine Tangoshow in Buenos Aires. Keine Seltenheit, sondern Alltag – oder Allnacht. Und doch ist nichts, wie es sonst immer ist. Die hier miteinander tanzen, sind keine typischen Tanzpaare. Weder die Kleidung noch die Musikauswahl entspricht der Tradition, die sich sonst zumeist am Tango der 1940er Jahre orientiert. Die hier miteinander tanzen und damit alle ungeschriebenen Tangoregeln brechen, sind Männer.
Der Saal tobt, die Show ist ein voller Erfolg. Es gibt Küsschen für die Tänzer, Blumen. Eine Nacht im La Marshall, dem ersten Tangosalon für homosexuelle Paare in Buenos Aires. Man kennt sich, grüßt sich mal herzlich, mal übertrieben freudig und ist sich im übrigen der Besonderheit des Ortes bewusst, drängt sich jedoch nicht in den Vordergrund. Die sonst so strikten Regeln des Tangos stehen im La Marshall Kopf: Frauen dürfen führen, gleichgeschlechtliche Paare drehen sich eng umschlungen, Männer schweben in Stöckelschuhen über das Parkett – undenkbar in traditionellen Tanzsalons.

„Ich unterrichte schon lange Tango in der homosexuellen Szene von Buenos Aires“, erzählt Augusto Balizano, einer der Mitbegründer des La Marshall. „Irgendwann kamen die Jungs zu mir und sagten, wir haben zwar einen Platz, um den Tanz zu lernen, aber keinen Platz, um ihn auch zu tanzen. Und so eröffneten wir im Juli 2004 diese Milonga – so nennt man die Tangosalons bei uns – für homosexuelle Paare“, sagt er und umfasst mit weitausholender Handbewegung den ganzen Raum. Ursprünglich lag das La Marshall im Stadtteil Palermo, bevor man es ins Zentrum verlegte. Ihren Namen erhielt die Milonga von Niní Marshall, einer Komödiantin der 1930er Jahre, die durch ihren Charme zur Galionsfigur der homosexuellen Szene in Buenos Aires wurde.
Von Beginn an war die Milonga gut gefüllt. Sie galt und gilt als Nische. Denn hierher kommen nicht nur homosexuelle Paare. Das Publikum ist gemischt. Hierher kommt, wer im Tango ein wenig mehr Freiheit sucht. Auf sehr sensible Art und Weise wird erspürt, welche Tanzpartner erwünscht sind und welche nicht. „Hier ist das typische Rollenverhalten im Tango zwischen Mann und Frau aufgehoben. Deswegen sprechen die Paare vorher einfach ab, wer führt und wer folgt. Manchmal tauschen wir auch beim Tanzen ganz spontan“, erklärt Roxana Gargano, die gemeinsam mit Augusto die Milonga leitet. Am Nebentisch nickt unaufhaltsam ein Blondschopf, der interessiert zuhört. Michael sei sein Name, stellt er sich vor. Vor einer Woche ist er aus den USA zum ersten Mal zu einem Tangourlaub nach Buenos Aires aufgebrochen. Er hat das dringende Bedürfnis, ein Lob auszusprechen, sagt er und mischt sich ins Gespräch. „Ich tanze für mein Leben gerne Tango, aber noch nirgendwo habe ich mich so angenommen gefühlt wie hier. Dabei bin ich noch nicht einmal homosexuell. Sonst wird man im Tangoambiente immer sehr beobachtet. Aber hier kann ich einfach sein wie ich bin, egal, ob homo- oder heterosexuell. Solch eine Toleranz wie hier habe ich noch nie erlebt“, sagt er.

Eine Toleranz, die unter den Besuchern der Milonga normal ist, außerhalb der Wände dieses Tanzsalons jedoch noch nicht so existiert, auch wenn Buenos Aires zur Hauptstadt der Homosexuellen in Südamerika avancierte. Vor mehr als zehn Jahren wurde hier ein Gesetz gegen die Diskriminierung von Homosexuellen verabschiedet, und Ehen zwischen gleichgeschlechtlichen PartnerInnen sind seit 2003 erlaubt. Es gibt einen umfangreichen Gay-Tourismus nach Buenos Aires. Die am Eingang ausgelegten Werbekarten bieten verschiedensten Service an: spezielle Hotels, dauerhafte Haarentfernung, Sauna, Rechtsberatung. „Buenos Aires ist vergleichsweise sehr tolerant, auch wenn die Angst vor dem Anderssein noch zu spüren ist. Hier lassen sie dich, aber du stehst unter Beobachtung. In Europa wird man einfach angenommen“, erzählt Augusto von seinen Erfahrungen mit homosexuellen Tangofestivals in Europa.
„Wir sind nie offen angefeindet worden und wenn hinter unserem Rücken geredet wurde, so haben wir das nicht mitbekommen“, sagt Roxana. Und doch dringt das mangelnde Verständnis einer stark katholisch geprägten Gesellschaft, in der über Jahrzehnte schon der Tango an sich als schmutziger Gossentanz galt, trotz allem auch bis ins La Marshall vor. „Bitte keine Fotos vom Publikum“, sagt die 28-Jährige und legt die Hand auf die Kamera. „Viele haben sich noch nicht geoutet und es wäre für sie eine Katastrophe, wenn ihre Familien sie in einer Zeitung abgebildet sähen“, fügt sie erklärend hinzu.

Von einem erhöhten Podest aus, mit dem Kopf knapp unter der Decke, herrscht Mario Orlando über die Tanzfläche. Der in ganz Buenos Aires bekannte Tango-DJ mischt gekonnt traditionelle Stücke – die Hits der 1930er und 1940er Jahre – mit zeitgenössischeren Tangos. Viele lächeln, während sie tanzen, und wenn Mario seine berühmte Runde Rock’n’Roll bringt oder argentinische Folklore auflegt, brennt die Luft. „Ich bin gerne hier. Hier kann ich mit der Musik auch mal experimentieren, anders als in den traditionellen Salons“, sagt er hinter seinem CD-Player. „Augusto und Roxana fragten mich, ob ich hier auflegen möchte, denn sie suchten jemanden, der einen guten Ruf im Tango hat, damit ihre Milonga von Anfang an Gewicht bekommt. Viele möchten hier nicht arbeiten, aber ich mag das Ambiente“, erklärt er. Mario hat täglich den Vergleich zu den traditionellen Tangosalons. Er legt die Musik in der wichtigsten traditionellen Milonga in Buenos Aires, dem Sunderland auf. „Der Tango ist ein zum Tanz gewordener Ausdruck aller machistischen Werte, im Positiven wie im Negativen. Der Mann kümmert sich um alles. Er führt nicht nur, sondern ist auch derjenige, der die Frau auffordert – nicht umgekehrt – und sie mit seinem Körper auf der vollen Tanzfläche beschützt. Dazu gehört Entschlossenheit und Stärke. Viele haben Angst, weich zu werden, wenn sie sich auf einen Tanz unter Männern einlassen würden. Die klare Rollenverteilung bietet Halt und wird ohne Absprache im Tangoambiente geschützt“, sagt Mario und erklärt, dass wahrscheinlich niemand ein homosexuelles Paar in der Milonga offen angreifen, aber sie alle eiskalt schneiden würden – in der sehr geschlossenen Szene des Tangos eine kaum auszuhaltende Vorstellung.
Dabei wurde der Tango als Tanz unter Männern geboren, wenn auch nicht im homosexuellen Ambiente. Frauen war das Tangotanzen nicht erlaubt. Nur die Prostituierten gaben sich dem unzüchtigen Tanz hin. Sie übten genauso wie die Männer untereinander, um die Schritte zu lernen und die Zeit bis zur Nacht totzuschlagen. Trotzdem vermutet Augusto hinter so manchem übenden Männerpaar vom Anfang des letzten Jahrhunderts versteckte Homosexualität. „Aber wir knüpfen nicht an diese Tradition an. Unsere Milonga entstand aus den Bedürfnissen der heutigen Zeit. Hier geht es darum, offen mit demjenigen tanzen zu können, mit dem man Lust dazu hat“, sagt er.
Die Tangoshow im La Marshall ist mittlerweile in die Zugabenrunde gekommen. Alle Tänzer sind auf der Piste, jetzt weiß gekleidet. In immer neuen Formationen wirbeln sie herum, in ihrem Zentrum eine zierliche Frau. Die Musik holt noch einmal aus und leitet zur Schlusspose. Vier Männer umringen, einander umarmend, die Frau. Beifall. Die einzige Dame im Ensemble von „Propuesta 5“ ist Japanerin. Im La Marshall mischt sich alles und existiert mit- und nebeneinander – der traditionelle Tango ebenso wie der homosexuelle Tanz, Kulturen und Nationalitäten.

Antje Krüger studierte Politikwissenschaft an der FU Berlin. Heute arbeitet sie als freie Journalistin, insbesondere über Argentinien und Chile.

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