Thema Islam – Widerstand und Reform

Von Ziauddin Sardar · · 2002/09

Zwischen dem wahren Wesen des Islam als Religion, Kultur, Tradition und Zivilisation und der Art, wie er sich heute manifestiert, besteht eine tiefe Kluft.

Es hätte der Ereignisse vom 11. September 2001 nicht bedurft, um den Islam zu verteufeln: Er galt im Westen stets als gewalttätig, barbarisch und antidemokratisch, Stereotypen, die bereits auf die Zeit der Kreuzzüge zurückgehen und sich bis heute erhalten haben. Als „Orientalismus“, eine Art, den Islam und die muslimische Welt zu begreifen und darzustellen, wurden diese Stereotype zu einem integralen Bestandteil der Kunst, Literatur und Wissenschaft des Westens. Mit der Auffassung von MuslimInnen selbst steht diese Einschätzung jedoch in eklatantem Gegensatz: Im Islam dreht sich alles darum, Frieden um seiner selbst willen zu suchen. Friede gilt im Islam sogar als essenzielle Voraussetzung der „Unterwerfung unter den Willen Gottes“ – der zweiten wörtlichen Bedeutung des Wortes Islam: Nur über die Schaffung friedlicher Umstände kann der Glaube alle Aspekte der menschlichen Existenz durchdringen.
Was die Ereignisse des 11. September aufzeigen, mehr als alles andere, ist die große Kluft zwischen dem wahren Wesen des Islam – als Religion, Kultur, Tradition und Zivilisation – und der Art, in der er sich heute manifestiert. Weit davon entfernt, eine befreiende Kraft, ein Streben nach Gleichheit, Gerechtigkeit und menschlichen Werten zu repräsentieren, scheint er ein obskurantistisches, unethisches Unterfangen geworden zu sein. Fast sieht es so aus, als ob die MuslimInnen sämtliche historischen und zeitgenössischen westlichen Darstellungen des Islam, die jahrhundertelang zu ihrer Dämonisierung benutzt wurden, internalisiert hätten. Wie konnte es dazu kommen?

Zweifellos sind muslimische Gesellschaften gleichsam in die Zange geraten – zwischen den Kräften der Modernisierung und Globalisierung einerseits und einem aufstrebenden, oft militanten Traditionalismus andererseits. Das ist in Ländern wie Indonesien, Algerien und Bangladesch offensichtlich, wo seit mehr als zwei Jahrzehnten Auseinandersetzungen zwischen Modernisten und Traditionalisten die Innenpolitik dominieren. Es begann in den 40er und 50er Jahren, als die meisten muslimischen Länder ihre Unabhängigkeit erlangten. Damals galt die Modernisierung – genauer gesagt die Entwicklung nach westlichem Muster – als Allheilmittel für sämtliche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme. Und tatsächlich begaben sich die meisten muslimischen Länder auf einen Kurs der raschen Modernisierung. Aber ihre Strategien brachten sie in Widerspruch zu den traditionellen Gesellschaften, und es entstand eine Kluft zwischen den Unterstützern der Modernisierung und jenen, die die traditionelle Kultur, die Lebensweise und Weltanschauung muslimischer Gesellschaften erhalten wollten.
Meist erlebten die Traditionalisten die Modernisierung und die mit ihr einhergehende „Entwicklung“ als Frontalangriff. Für die Modernisten wiederum war die Verwestlichung die wichtigste Grundbedingung für das Überleben der muslimischen Länder. Die modernistischen Führer, die in die Fußstapfen der Kolonialmächte traten, hielten die Gesellschaften unter Kontrolle, indem sie exzessive Gewalt anwendeten, die traditionelle Elite unbarmherzig verfolgten sowie traditionelles Denken und alles, was damit zusammenhing, für ihre Zwecke missbrauchten und ins Lächerliche zogen. Ihre Wirtschafts- und Entwicklungspolitik führte oft zu spektakulären Fehlschlägen und konzentrierte den Reichtum des Landes in den Händen einiger weniger. Die Globalisierung hat traditionelle Kulturen weiter an den Rand gedrängt und in historisch gewachsenen Gemeinschaften eine Belagerungsmentalität entstehen lassen.

Zu diesen Faktoren kommt aber eine weitere Dimension hinzu. Sowohl im traditionalistischen wie im modernistischen Lager herrscht die Ansicht, über das Schicksal ihrer Länder werde tatsächlich anderswo bestimmt. Daher wird auch in der muslimischen Welt so viel Energie darauf verwendet, die Maßnahmen der Machtzentren sowie das Geflecht aus Regierungen, Wirtschaft, Industrie und Massenkultur im Westen zu kritisieren, wo die Globalisierung produziert und dann in die muslimische Welt exportiert wird. Das weit verbreitete Gefühl der Enteignung und Machtlosigkeit in muslimischen Gesellschaften rührt ebenso daher wie die Wut, die Modernisten und Traditionalisten gleichermaßen empfinden.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit – jener Teil, den die meisten MuslimInnen ohne Widerspruch akzeptieren würden. Die wichtigsten Antworten auf die aktuelle problematische Lage der MuslimInnen sind in der Geschichte, der gesellschaftlichen Praxis sowie der geistigen und politischen Trägheit der MuslimInnen selbst zu suchen: Sie sind im allgemeinen kaum bereit, sich selbstkritisch zu betrachten oder den Prozess zu untersuchen, durch den sie den Islam in eine erstickende und unterdrückerische Ideologie verwandelt haben. Das ist keine neue Erkenntnis. Seit mehr als einem Jahrhundert vertreten muslimische Wissenschaftler und Philosophen die Ansicht, dass der Islam dringendst reformbedürftig sei. Oder, um den technischen Begriff zu gebrauchen, die MuslimInnen müssten den „ijtihad“ (etwa die „vernünftige Auseinandersetzung“) aufnehmen, also den Islam überdenken und neu formulieren. Es war der iranische Reformer Jamaluddin Afghani, der sich Ende des 19. Jahrhunderts als erster für den ijtihad einsetzte. Seither haben zahlreiche andere Reformer diesen Aufruf wiederholt, stießen allerdings bisher auf taube Ohren.

Für diese fehlende Reaktion gibt es mehrere Gründe. Wie der Begriff selbst andeutet, ist der ijtihad mit Anstrengung und ernsthaftem Nachdenken verbunden; es ist immer verlockend, den einfachen Weg zu gehen und auf Auslegungen oder Meinungen altehrwürdiger Rechtsgelehrter zurückzugreifen. Außerdem neigen MuslimInnen dazu, klassische Autoren in einem romantischen Licht zu sehen: als perfekte Persönlichkeiten, unfähig zu einem falschen Urteil. Klassische Gelehrte sind für die Perpetuierung dieser Tendenz mitverantwortlich. Sie haben den „taqlid“, das unkritische Akzeptieren einer Autorität, derart gepflegt und verehrt, dass er heute den Status eines heiligen Grundsatzes inne hat.
Es war während der Herrschaft der Abbasiden, dem so genannten „Goldenen Zeitalter des Islam“ vom 8. bis zum 13. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung, als die klassischen Gelehrten die „Tore des ijtihad“ verschlossen. Sie waren über die vielfältigen Interpretationen des Islam besorgt, die sich damals ausbreiteten. Insbesondere ging es ihnen darum, den Missbrauch des ijtihad durch Menschen abzustellen, die weder theologisch noch juristisch dazu qualifiziert waren. Außerdem vertraten sie die Ansicht, dass die meisten Probleme der muslimischen Gesellschaft bereits gelöst wären: Jedes neue Problem könnte einfach durch Nachahmung oder durch Analogieschlüsse gelöst werden.
Das Einfrieren der Interpretation, das Schließen der „Tore des ijtihad“, hatte eine verheerende Auswirkung. Etwa auf die „Scharia“, ein Begriff, der gewöhnlich als „islamisches Recht“ übersetzt wird. Die meisten MuslimInnen glauben an die göttliche Natur der Scharia und nehmen an, sie gründe sich auf die Lehren des Koran. Tatsächlich entstand die Scharia in ihrer heutigen Gestalt aber unter den Abbasiden. Sie besteht großteils aus dem „fiqh“ oder der Rechtssprechung, wobei es sich um die Rechtsauffassung klassischer Rechtsgelehrter handelt. Sogar der Begriff fiqh selbst existierte vor der Zeit der Abbasiden nicht, sondern wurde während des „Goldenen Zeitalters“ erfunden, formuliert und kodifiziert.

Die Welt war einfach und konnte ebenso einfach in Schwarz und Weiß getrennt werden. Dementsprechend konstruierte die islamische Rechtssprechung die Welt als aus zwei Teilen bestehend: dem Dar al-Islam („Reich des Friedens“) und dem Dar al-Harb („Reich des Krieges“). Alles, was sich außerhalb der islamischen Welt befand, wurde als feindlich aufgefasst. Noch mehr, auch die in der Zeit des muslimischen Imperialismus herrschenden Vorurteile – etwa gegen Frauen und Minderheiten – und Voreingenommenheiten wurden in die Scharia integriert. Praktisch bedeutet das, dass bei der Auferlegung der Scharia in muslimischen Ländern jene Widersprüchlichkeiten zu Tage treten, die schon die Formulierung und Entwicklung des fiqh bestimmten. Deshalb nehmen muslimische Gesellschaften, in denen die Scharia heute angewendet wird, mittelalterliche Züge an. Wir sehen das in Saudi-Arabien, im Iran, im Sudan und in Afghanistan unter den Taliban.
Das Verbot des ijtihad war auch mit schwerwiegenden Folgen für MuslimInnen als Einzelpersonen verbunden. Wenn sämtliche relevanten Auslegungen bereits vorliegen, brauchen sich Menschen nur mehr blind an sie zu halten. Eigene Überlegung ist nicht erforderlich; MuslimInnen werden zu passiven RezipientInnen überkommener Interpretationen und Meinungen, anstatt selbst nach der Wahrheit zu suchen.
Historisch gesehen wird die wörtliche Auslegung des Koran stets dann beliebt, wenn sich der Islam in der Krise befindet und MuslimInnen sich selbst als Angegriffene wahrnehmen. Ihr konsequentester Befürworter war Ibn Taimiyya, ein Gelehrter des 13. Jahrhunderts. Er befasste sich ausschließlich mit dem Überleben der muslimischen Gemeinschaft in einer Zeit, als die islamische Zivilisation, die sich gerade von den Kreuzzügen erholte, unter dem Ansturm der Mongolen zu leiden hatte. Pluralistische und von endlosen Debatten begleitete Auslegungen des Islam würden die MuslimInnen spalten und schwächen, so sein Argument. Sie müssten stattdessen zu einem reinen Islam zurückkehren. Nichts dürfte metaphorisch oder symbolisch verstanden werden; alles müsste auf einer einheitlichen, wortwörtlichen Auslegung des Koran beruhen.

Im 18. Jahrhundert wurden die Ansichten Ibn Taimiyyas von Mohammed ibn Abd al-Wahab aufgegriffen, dem Begründer der nach ihm benannten Erweckungsbewegung. Als Antwort auf die fortschreitende Kolonisierung der muslimischen Gesellschaften befürwortete Abd al-Wahab „die Rückkehr zum Koran und zur Sunna“ (den Taten und Worten des Propheten) in einem wortwörtlichen Sinne. Wiederum wurde eine puristische, wörtliche Auslegung als Lösung der politischen Probleme des Islam gesehen. Der Wahhabismus wurde schließlich die Staatsreligion Saudi-Arabiens.
Heute ist der Wahhabismus unter militanten MuslimInnen wieder in Mode. Er breitete sich wie ein Lauffeuer aus, als Ende der 80er Jahre die Revolution im Iran kläglich gescheitert war, Erdölreichtümer sinnlos vergeudet worden waren und sich sämtliche Hoffnungen auf eine „kulturelle Wiedergeburt“ in der muslimischen Welt zerschlagen hatten. Die Antwort auf Armut, Korruption, Despotismus und zügellose Globalisierung wird in einem Rückzug auf eine immer romantischere Auffassung des Islam gesehen. Allerdings hat der modernistische Wahhabismus seiner monolithischen wörtlichen Auslegung eine weitere Dimension hinzugefügt: Er besteht nun darauf, dass seine Auffassung des Islam nur im Rahmen eines „islamischen Staates“ umgesetzt werden kann, womit der Islam auf eine bloße politische Ideologie reduziert wird.

Sobald aber der Islam als Ideologie zum Programm einer Machtelite wird, verliert er seine Menschlichkeit und wird zu einem Schlachtfeld, auf dem Moral, Vernunft und Gerechtigkeit bereitwillig auf dem Altar der politischen Zweckmäßigkeit geopfert werden, wovon die Ereignisse im postrevolutionären Iran, die Aktivitäten islamischer Bewegungen in Algerien, Ägypten und Pakistan sowie die Taten der al-Qaida-AnhängerInnen Zeugnis ablegen.
Der Schritt von einer Vielfalt der Auslegungen des Islam zu einer einheitlichen, monolithischen Vision ist natürlich eine Form der Reduktion. Ähnliches geschah mit ganzheitlichen islamischen Begriffen. Ein Beispiel dafür ist die Reduktion der Bedeutung von „ijma“, wörtlich „Übereinstimmung der Menschen“, dem zentralen Begriff des gemeinschaftlichen Lebens im Islam, auf den Konsens einiger weniger Auserwählter. Der Begriff geht auf die Praxis des Propheten Mohammed als Führer der ursprünglichen Gemeinschaft der MuslimInnen zurück. Wenn der Prophet Mohammed eine Entscheidung treffen wollte, rief er gewöhnlich die ganze muslimische Gemeinschaft – die zugegebenermaßen damals nicht sehr groß war – in die Moschee. Dann folgte eine Diskussion, Argumente dafür und dagegen wurden vorgebracht, bis schließlich die Versammlung zu einem Konsens gelangte. Ein demokratischer Geist war daher ein zentrales Element des gemeinschaftlichen und politischen Lebens im frühen Islam. Aber mit der Zeit haben Kleriker und Religionsgelehrte das Volk aus dem Konzept entfernt und ijma auf den „Konsens der Religionsgelehrten“ reduziert. Kein Wunder, dass Autoritarismus, Theokratie und Despotismus in der muslimischen Welt regieren.

Ein weiteres Beispiel ist der Begriff der „umma“, der weltweiten spirituellen Gemeinschaft der MuslimInnen, die nun im Sinne eines Nationalstaats verstanden wird. Sogar Despoten wie Saddam Hussein werden verteidigt, indem auf „Umma-Bewusstheit“ oder die „Einheit der Umma“ verwiesen wird. Jihad wird nun ausschließlich als „Heiliger Krieg“ interpretiert. Diese Übersetzung ist pervers, nicht nur, weil die spirituellen, geistigen und sozialen Komponenten des Begriffs entfernt wurden, sondern weil er auf die Bedeutung von Krieg mit allen Mitteln reduziert wurde, einschließlich des Terrorismus. Heute kann daher jeder jedem den Jihad erklären, ohne ethische oder moralische Grundlage oder Begründung. Nichts könnte perverser sein oder auf pathologische Weise weiter entfernt von der ursprünglichen Bedeutung von Jihad. Die anderen Bedeutungen des Begriffs, wozu der persönliche Kampf, die geistige Anstrengung und der Aufbau der Gesellschaft gehören, sind verschwunden. „Istislah“, normalerweise als „öffentliches Interesse“ oder Allgemeinwohl übersetzt und eine bedeutende Quelle des islamischen Rechts, ist aus dem Bewusstsein von MuslimInnenn beinahe völlig verschwunden.
Aber die Gewalt, die heiligen muslimischen Begriffen angetan wurde, verblasst angesichts der reduktionistischen Weise, in der der Koran sowie die Worte und Taten des Propheten Mohammed verbreitet werden. Beinahe alles und jedes wird gerechtfertigt, indem einzelne Teile von Versen aus ihrem Kontext gerissen zitiert werden. Aussprüche des Propheten Mohammed werden zitiert, um extremste Verhaltensweisen zu rechtfertigen. Sogar die persönliche Erscheinung des Propheten, sein Bart und seine Kleidung, wurden in einen Fetisch verwandelt: So ist es nicht nur die Pflicht eines „guten Muslim“, einen Bart zu tragen, auch seine Länge und Form müssen bestimmten Vorschriften entsprechen. Der Prophet wurde auf Zeichen und Symbole reduziert – der Geist seines Verhaltens, die Moral und ethische Dimension seiner Handlungen, seine Demut und sein Mitgefühl, die allgemeinen Grundsätze, die er befürwortete, alles wurde der Logik einer absurden Reduktion unterworfen.

Was können MuslimInnen tun, um aus der aktuellen Sackgasse herauszukommen? MuslimInnen müssen sich dessen bewusst werden, dass der Islam keine vorgefertigten Antworten für alle ihre Probleme bietet. Er bietet stattdessen eine ethische und moralische Perspektive, innerhalb welcher MuslimInnen sich bemühen müssen, Antworten für menschliche Probleme zu finden. Der Weg vorwärts, hin zu einer neuen, aktuellen Wertschätzung des Islam führt über eine Abkehr von der Reduktion und eine Hinwendung zur Synthese, von der einheitlichen wörtlichen Auslegung des Islam zu seinem pluralistischen Verständnis.

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Ziauddin Sardar, Schriftsteller, Journalist und Wissenschaftler, ist Autor zahlreicher Bücher über den Islam, darunter „Introducing Islam und The Future of Muslim Civilization“. Sein letztes Buch, „The A to Z of Postmodern Life“, erschien im Frühjahr im V

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