Triumpf der Straflosigkeit

Von Redaktion · · 2015/07

Susan George hat sich seit Beginn der Schuldenkrise der „Dritten Welt“ vor vier Jahrzehnten als Expertin zu Verschuldungsfragen profiliert. Als wir sie fragten, was die Banken aus dem Finanzkollaps von 2008 gelernt hätten, meinte sie sofort: „Dass sie ungestraft morden können“.

Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, und daher wollte ich eines nicht glauben: Dass die Banken aus der Krise von 2007-2008 gestärkt hervorgehen könnten, und das sogar auf politischer Ebene. Die Geldbußen, die einige bezahlt haben, sind zweifellos enorm – allein den Banken in den USA und der Europäischen Union (EU) wurden Strafen von 178 Mrd. US-Dollar aufgebrummt. Aber solche Beträge werden nun einfach als Teil der Aufwendungen im Bankgeschäft betrachtet. Niemand aus der Führungsriege der Branche kam hinter Gitter, nicht einmal für eine Nacht, und niemand wurde persönlich bestraft.

Obwohl wir noch nicht einmal die Nachwehen der Krise von 2007-2008 überstanden haben, wird sowohl auf politischer Ebene wie von den Banken selbst bereits an der nächsten Krise gebastelt. Mathematische Analysen haben aufgezeigt, wie eng die AkteurInnen auf den weltweiten Finanzmärkten miteinander verflochten sind: Ein einziger Insolvenzfall kann einen allgemeinen Kollaps auslösen. Sie haben uns an den Rand eines Abgrunds manövriert, und wir haben gute Gründe, pessimistisch zu sein.

Eigene Gesetze. Regierungen und internationale Institutionen haben keinerlei ernsthafte Absichten erkennen lassen, die Banken an die Zügel zu nehmen und damit die Gefahr einer neuerlichen Krise heraufbeschworen. Banken und BankmanagerInnen sind nicht nur zu groß oder zu wichtig, um pleite zu gehen oder ins Kittchen zu wandern, sondern auch zu wichtig, um einer nennenswerten Kontrolle unterworfen zu werden – für sie gelten nur die eigenen Gesetze.

Maßnahmen zum Schutz des Finanzsystems, die sich aufdrängen, wurden systematisch verworfen. Die entscheidende Trennung von Einlagen- und Kreditgeschäft einerseits und Investment Banking andererseits (die es der Branche verunmöglichen würde, Kundeneinlagen zum Spekulieren zu verwenden) ist nicht erfolgt. Mehr als 60 Jahre lang sorgte der im Rahmen des „New Deal“ in den 1930er Jahren verabschiedete Glass-Steagall Act in den USA für diese Trennung und schützte das Finanzsystem des Landes. Nachdem das Gesetz 1998 unter Präsident Bill Clinton aufgehoben wurde – nicht ohne tatkräftige Mithilfe des US-Finanzministers und Ex-Goldman Sachs-Vorstands Robert Rubin –, dauerte es weniger als ein Jahrzehnt, bis die Investmentbank Lehman Brothers in Konkurs ging und es zu einem Marktversagen beispielloser Größenordnung kam. Die Politik hört nicht auf die Stimme der Vernunft, sondern auf die Lobby der Banken. Auch sind die den Banken vorgeschriebenen Eigenkapitalquoten nach wie vor zu niedrig. Neue Steuern auf Finanzmarkttransaktionen? Keine Spur. Die von elf Ländern der Europäischen Union geplante Transaktionssteuer befindet sich weiterhin nur im Diskussionsstadium.

Das tägliche Handelsvolumen mit Finanzderivaten und Währungen liegt heute um 25 bis 30 Prozent über dem Vorkrisenniveau – es handelt sich um Billionenbeträge. Das jährliche Volumen des Derivathandels übersteigt die globale Wirtschaftsleistung um etwa das Hundertfache. Automatisierte, von Algorithmen gesteuerte Transaktionen sind der Motor dieses Wachstums – aber auch Maschinen und Mathematikfreaks sind nicht davor gefeit, gefährliche Fehler zu begehen.

Massen riskanter, in handelbare Wertpapiere verwandelte Kreditforderungen könnten sich neuerlich in den Portfolios institutioneller Investoren (z.B. Investmentfonds, Pensionsfonds, Anm. d. Red.) ansammeln. Diesmal würden nicht „Subprime“-Hypothekarkredite auf den Markt geworfen werden, sondern Bündel anderer Forderungen, etwa aus Studienkrediten oder Konsumkrediten.

2008 sorgte die ungezügelte Spekulation auf den Rohstoffmärkten für eine Eskalation der Nahrungsmittelpreise; das Heer der Hungernden vergrößerte sich um 150 Millionen Menschen. Das wird sich in diesem oder im nächsten Jahr nicht wiederholen: Die Getreidepreise sind eingebrochen, und in den letzten beiden Jahren flossen 150 Mrd. Dollar aus diesen Märkten ab. Jedoch wurden auch andere Beschränkungen aus der Zeit des New Deal abgeschafft, und sobald der Klimawandel und sinkende Nahrungsmittelbestände wieder für ein profitables Umfeld sorgen, stünde einer neuerlichen Spekulationswelle nichts im Wege.

Steuerflucht. Die Steueroasen haben triumphiert. Sie helfen nicht nur dem reichsten Prozent, sondern sind auch darauf spezialisiert, Unternehmen bei der Steuervermeidung unter die Arme zu greifen. Was unsere größten Konzerne an Steuern zahlen, entspricht nicht mehr ihrem fairen Anteil. Frankreich etwa entgehen jedes Jahr Unternehmenssteuern in Höhe von 60 bis 80 Mrd. Dollar. Wie der Luxemburg Leaks-Skandal zeigte, brachte ein Mitgliedsland der EU mit den vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften als Komplizen mehr als 300 Unternehmen dazu, ihre Steuerpflicht in den Ländern zu umgehen, wo sie ihre Umsätze und Gewinne erzielen, und stattdessen die Steuer-Schlupflöcher in Luxemburg zu nutzen. Auch die britischen Inselparadiese mischen mit. Die größten Banken der EU erzielen wahrscheinlich 25 Prozent oder mehr ihres Umsatzes in Offshore-Steueroasen; so genau weiß das niemand.

Studien der Europäischen Zentralbank (EZB) zeigen, dass die 130 größten Banken der EU nicht zur Unterstützung der Realwirtschaft beitragen. Kleine und mittlere Unternehmen stellen zwar 80 bis 90 Prozent aller Arbeitsplätze, haben aber weiterhin große Probleme, an Kredite zu kommen. Seit 2008 haben die Banken ihre Kreditkonditionen ständig verschärft. Laut Finance Watch, einem progressiven Think-Tank in Brüssel, haben nur 28 Prozent aller Bankgeschäfte mit der Realwirtschaft zu tun – der Rest sorgt dafür, dass sich die Finanzmärkte aufblähen, wo Geld mit Geld verdient wird – ohne den langweiligen Umweg über Produktion und Vertrieb.

Die US-Wirtschaft expandiert und die Beschäftigung nimmt zu, aber mehr als 90 Prozent der zusätzlichen Einkommen entfallen auf das oberste Prozent. In Europa nimmt die Arbeitslosigkeit weiter zu, und anstatt zu wachsen, schlittert die Wirtschaft in eine Deflation.

Rekordgewinne. Bereits 2011 lagen die Gewinne der US-Banken wieder auf dem Rekordniveau, das sie vor der Krise erreicht hatten. 2009 gewährten die neun größten US-Banken unter Rückgriff auf staatliche Unterstützungen 5.000 HändlerInnen und ManagerInnen Boni von einer Million Dollar oder mehr. Zumindest fünf Mrd. an Steuergeldern flossen daher an Beschäftigte des Finanzsektors. Ihre britischen Gegenstücke erhielten 2010-2011 Boni von 20 Mrd. Dollar, und ihre französischen KollegInnen schnitten kaum schlechter ab.

Saftige Boni sind eine der Ursachen für den „Großen Sprung nach vorn“ in Sachen Ungleichheit. Falls jemand die erschreckenden Vergleiche des Vermögensanteils der MilliardärInnen mit dem Anteil, der für den Rest der Welt übrig bleibt, nicht kennt: Sehen Sie sich die Zahlen von Oxfam an, oder noch besser die jährlichen World Wealth Reports, denen sich die schwindelerregenden Vermögen nicht des reichsten Prozents – arme Schlucker! – sondern des reichsten Zehnmillionstels entnehmen lassen.

Für die Forbes-Liste der MilliardärInnen von 2014 qualifizierten sich 1.542 Erdlinge mit einem Gesamtvermögen von 6,5 Billionen Dollar. Ungleichheit ist nicht nur in Geld gemessen obszön. In The Spirit Level* haben Richard Wilkinson und Kate Pickett gezeigt, dass Ungleichheit mit jedem kostspieligen gesellschaftlichen Übel korreliert, von Krankheiten über Gewalt bis zu Adipositas und Gefängnispopulationen. Aber hat man einmal den Status eines Milliardärs oder einer Milliardärin erreicht, ist es dank der heutigen Struktur der Finanzmärkte ziemlich schwierig, ihn wieder zu verlieren.

Belohnung. Die Banken haben auch gelernt, wie sie internationale Institutionen dazu bringen können, sie in schlechten Zeiten genauso zu belohnen wie in guten, für geniale Investments genauso wie für schlichte Dummheiten. Euro-Länder wie Deutschland und Frankreich finanzieren den Europäischen Finanzstabilitätsmechanismus, damit er der griechischen (irischen, spanischen, …) Regierung Geld geben kann, das sie an die griechischen (irischen, spanischen, …) Banken durchreichen, damit diese ihre Schulden bei den französischen und deutschen Banken begleichen können. Die meisten begreifen nicht, dass die enormen „Darlehen“ der Troika (Europäische Kommission, EZB und Internationaler Währungsfonds) an Griechenland von 2010 bis 2012 nicht dazu gedacht waren, „den Griechen zu helfen“, sondern das Geld den Banken zukommen zu lassen, die griechische Anleihen gekauft hatten. Warum taten sie das? Gute Frage: Weil sie auf Euro lauteten, aber etwas höher verzinst waren als etwa deutsche Euro-Anleihen.

Das letzte Buch von Susan George ist „How to Win the Class War: Lugano Report II“, Transnational Institute, Amsterdam 2013.

Wer bezahlt? Die Troika hat also sicherzustellen, dass die Banken ihr Geld zurückbekommen, und diese indirekte Bankenrettung mit drastischen Sparmaßnahmen zu verknüpfen. Ganz ohne Verluste aus den Investments in Südeuropa und der europäischen Peripherie kommen die Banken nicht davon, aber sie verlieren bei weitem weniger als ohne das von der Troika organisierte Geldkarussel. Den Preis zahlen die Menschen, die an der Krise keine Schuld trifft: der Hunger greift um sich, Krankenhäuser und Schulen werden geschlossen, die Gewalt nimmt zu, junge Menschen wandern aus. All das lässt sich bis zu einem gewissen Grad beziffern, nicht jedoch, was unzählige schuldlose Menschen tatsächlich erleiden. Als ich sagte, die Banken hätten gelernt, dass sie ungestraft morden können, war das nicht bloß rhetorisch gemeint …

Und so kommen wir zum Punkt, an dem sich die LeserInnen fragen: „Ja, aber was können wir tun?“

Die meisten Antworten sind bekannt. Viele bestehen darin, das Gegenteil dessen zu tun, was zuvor kurz beschrieben wurde. Die Banken müssen nach ihren Geschäftsfeldern getrennt, Finanztransaktionen besteuert und die halblegalen Steueroasen verboten werden; Luxemburg muss angewiesen werden, seine Steuerschlupflöcher für Konzerne zu schließen; eine Unterzeichnung der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) kommt nicht in Frage.

Die Regeln für die EZB sind zu ändern. Die EZB gewährt derzeit keine Darlehen an Länder, sondern nur an private Banken. Letztere beschaffen sich bei der EZB Kredite, die mit weniger als einem Prozent verzinst sind, und können dann von Ländern jeden Zinssatz verlangen, den der Markt gerade hergibt, oft mehr als sechs Prozent – ein weiteres Geschenk an den Bankensektor. Stattdessen sollte die EZB solche günstigen Darlehen direkt an Länder gewähren, und wir bräuchten gemeinsame Euro-Anleihen. Die Sparpolitik ist einzustellen, denn sie funktioniert nicht, weder für die Menschen noch für die Wirtschaft.

Im Norden Europas wird das nicht verstanden: Im Deutschen hat das Wort „Schulden“ auch die Bedeutung von Sünde – aber die anhaltende Krise ist kein Problem der Moral. Wir brauchen niemanden, der sich reumütig auf die Brust schlägt (und dann andere bezahlen lässt), sondern eine intelligentere Wirtschaftspolitik. Ein Ökonom aus Deutschland brachte es in der Financial Times auf den Punkt: „Deutsche Ökonomen lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Diejenigen, die Keynes nicht gelesen haben, und diejenigen, die Keynes nicht verstehen.“

Zu allererst muss man sich vergegenwärtigen, dass die Schulden eines Staates und die Schulden einer Familie nicht dasselbe sind. In der uns bekannten Geschichte wurden die meisten Staatsschulden tatsächlich erlassen. Jedenfalls sind aber „die Kapitalströme im Auge zu behalten, nicht die Kapitalbestände“, wie der US-Ökonom Paul Krugman betont: Solange Länder weiter Zinsen zahlen, können sie auf ewige Zeiten verschuldet bleiben. Länder verschwinden nicht. Griechenland beispielsweise hat ohne Zinszahlungen einen Budgetüberschuss, und ein Zinssatz von einem Prozent ist leistbar. Griechenland sollte auch seine Verteidigungsausgaben zusammenstreichen, die Kirche besteuern – den größten Grund- und Immobilieneigentümer des Landes – und „sich die Oligarchen vorknöpfen“, wie es die regierende Syriza-Partei ausdrückt.

Gefährliche Zukunft. Die nächste Krise, so sie ausbricht, wird sehr tiefgreifend sein und lebensgefährlich für gewöhnliche BürgerInnen, die ihre Ersparnisse, ihre Versicherungen, Pensionen und mehr verlieren könnten. Ich denke nicht an bombensichere Bunker wie in den 1950er Jahren, an das Horten von Vorräten und einen Revolver in jedem Haus, aber wir wären gut beraten, bereits jetzt krisenfestere Sozialsysteme aufzubauen und auf einen weit höheren Grad an Eigenständigkeit hinzuarbeiten. Die Menschen sind durchaus fähig, näher zusammenzurücken, und sie tun das instinktiv oder gezwungenermaßen, wenn sie mit einem wirtschaftlichen Zusammenbruch konfrontiert sind wie die Menschen in Argentinien vor 15 Jahren oder in Griechenland heute. Sie organisieren Suppenküchen und Gemeinschaftsgärten, betreiben Gesundheitskliniken und Kindergärten auf ehrenamtlicher Basis und führen alternative Währungen und Wohnformen ein, um nur Beispiele anzuführen.

Aber wichtig ist vor allem, gegen die tödliche neoliberale Ideologie vorzugehen, die unser Denken und Handeln vergiftet hat, während sie den Banken gestattet, ungestraft zu morden.

Copyright New Internationalist

*) Richard G. Wilkinson and Kate Pickett, The Spirit Level: Why More Equal Societies Almost Always Do Better, 2009, Allen Lane.

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