Überforderter Hoffnungsträger

Von Michaela Arndorfer · · 2008/06

Die Vereinten Nationen lenken die allgemeine Aufmerksamkeit ein ganzes Jahr lang auf die Bedeutung der Kartoffel für die Welternährung. Grund genug, sich ihr Potenzial genauer anzusehen.

Nach Reis, Weizen und Mais steht die Kartoffel an vierter Stelle der Weltkalorienlieferanten. Tatsächlich hat die Kartoffel eine Reihe von Eigenschaften, die sie als „Sattmacher“ geradezu prädestiniert. Quantitativ betrachtet bringt kein Getreide auf einem Quadratmeter Boden vergleichbare Erträge. Eine exemplarische Hochrechnung ergibt: Während man von einem Hektar Reis 19 Personen ein Jahr lang ernähren kann, sind es bei Kartoffeln 22 Personen. Das ergibt ein Plus von 16%.
Weiters spricht für die Kartoffel, dass sie auf kargen Böden und in kühlen Hochlagen verlässliche Erträge bringt. In relativ kurzer Zeit (3-4 Monate je nach Anbaugebiet) bringt sie Biomasse hervor, von der 75 Prozent für den menschlichen Verzehr geeignet sind. Durch den Kartoffelanbau konnten in Europa Gebiete für die Landwirtschaft erschlossen werden, die bis ins 18. Jahrhundert als Grenzlagen galten.
Aus diesen Gründen gilt die Kartoffel heute als Hoffnungsträger für Schwellen- und Entwicklungsländer. Ungünstige Anbaulagen sollen ertragreicher und profitabler bewirtschaftet werden können. In Vietnam, Indien oder China ist die Kartoffel inzwischen eine Prestige fördernde Alternative zur herkömmlichen Volksnahrung Reis. Vor allem bei der städtischen Bevölkerung erfreut sie sich steigender Nachfrage. Für Bauernfamilien einkommensschwacher Regionen tun sich damit neue Absatzmärkte auf. Allerdings wird die Kartoffel in chinesischen Städten vor allem in Form von Pommes frites in den sich rasant ausbreitenden Fast-Food-Restaurants verzehrt. Ein weiteres Einsatzgebiet für den Kartoffelanbau ist die Subsistenzlandwirtschaft. Die Kartoffel eignet sich gut für Mischkulturen in kleinbäuerlichen Betrieben (zum Beispiel kombiniert mit Mais und Bohnen). In Ruanda, einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Erde, zählt die Kartoffel neben Hirse und Cassava zu den wichtigen Grundnahrungsmitteln.

Neben Ertrag und Anbaueigenschaften spricht auch der Nährwert für die Kartoffel. Außer Kohlenhydraten enthält sie nennenswerte Mengen an Protein und Vitamin C. 250 Gramm Kartoffeln täglich decken den empfohlenen Vitamin C-Bedarf eines Menschen. Dass der Kartoffel das Negativimage eines „Dickmachers“ anhaftet, hat sie dem Trend zu Pommes frites und Chips zu verdanken. In gekochter Form oder als Gemüsebeilage ist sie ein hochwertiges Nahrungsmittel.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass Kartoffeln nicht nur für den direkten menschlichen Verzehr produziert, sondern auch zu Schweinefleisch „veredelt“ werden. In China und Vietnam steigt die Bedeutung der Kartoffel als Mastfutter in kleinbäuerlichen Betrieben.
Nach Rekapitulation dieser Segnungen ist man leicht geneigt, dem Tenor der UN-Kampagne zuzustimmen: mehr davon! Doch verhält sich die Sache nicht ganz so einfach, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Zwei Faktoren drücken die Produktivität des Kartoffelanbaus.
Zum einen ist es die Verfügbarkeit qualitativ hochwertigen Pflanzgutes. Kartoffeln werden durch Knollen vermehrt, über die sehr leicht Krankheiten weitergegeben werden. Schwachwüchsige Pflanzen bringen eine geringe Ernte. Im Kleinanbau lebt man daher mit bescheidenen Erträgen. Umgerechnet sechs Tonnen pro Hektar erntet ein Kleinbauer in Ruanda; im Vergleich dazu werden in Deutschland auf der gleichen Fläche 40 Tonnen produziert – allerdings unter Einsatz von Hochertragssorten, kontrolliertem Pflanzgut, Dünger und Pestiziden. Die Produktivität durch Bereitstellung qualitativ guter Saatkartoffeln zu steigern, ist daher ein Bestreben verschiedener Entwicklungsprogramme etwa in Kenia und Vietnam.
Ganz generell nachteilig ist es, dass die Kartoffel für eine Vielzahl von Krankheiten und Schädlingen anfällig ist. Bakterien, Pilze, Viren, Kartoffelkäfer, Kartoffelmotte und vieles mehr. Im Subsistenzanbau, der weitgehend ohne Pestizide auskommen muss, wird ein gewisses Ausmaß an Krankheiten und Schädlingen toleriert. Durch Mischkultur kann der Druck gemildert werden. In größeren, marktorientierten Anbausystemen kommen Pestizide zum Einsatz. Untersuchungen in Ecuador haben ergeben, dass LandwirtInnen zirka sieben Spritzungen mit „Cocktails“ aus drei bis sieben teils hochtoxischen Pestiziden vornehmen.
In „Farmer Field Schools“ laufen dort Versuche, durch vorbeugende und biologische Pflanzenschutzmaßnahmen den Pestizideinsatz auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Ähnliche Projekte werden auch in anderen Entwicklungsländern (zum Beispiel in Kenia) verfolgt. Neben der Schutzwirkung für Umwelt und Mensch sind solche Maßnahmen angesichts steigender Ölpreise wichtig. Denn die Preise für Agro-Chemikalien ziehen mit.

Der biologische Kartoffelanbau – ohne Einsatz von Pestiziden – gelingt nur in klimatisch optimalen Anbaulagen. Warme Regionen mit hoher Luftfeuchtigkeit sind dafür ungeeignet, da dieses Klima viele Kartoffelkrankheiten fördert.
PflanzenzüchterInnen bemühen sich zwar um die Entwicklung resistenter Sorten. Es ist aber ein langwieriges Unterfangen und oft nur von kurzfristigen Erfolgen gekrönt. Die Entwicklung einer neuen Sorte erfordert immerhin zehn bis 15 Jahre. Und sie ist komplex, da es verschiedenste Krankheiten zu berücksichtigen gilt. Besonders hartnäckig ist die Kraut- und Knollenfäule. Der Erreger ist sehr anpassungsfähig und existiert inzwischen in Form zahlreicher aggressiver Stämme. Resistenzen neu gezüchteter Sorten werden rasch überwunden, sodass sich die Pflanzenzüchtung in einer Art permanentem „Rüstungswettlauf“ befindet. Ursache dafür ist auch der großflächige Anbau der Kartoffel, wobei wenige, am Markt nachgefragte Sorten dominieren. Dies ergibt ein ideales Experimentierfeld für die Selektion und Evolution neuer Pilzstämme.
Dass die Kartoffel das Welternährungsproblem lösen kann, darf bezweifelt werden. Patentlösungen gibt es nicht. Eine Wunderpflanze allein kann nicht helfen. Dass es auch im Pflanzenbau differenziertere Zugänge geben muss, zeigt sich, wenn man Aspekte der biologischen Vielfalt berücksichtigt.

Die Welternährung ruht heute auf wenigen Säulen. Nur sechs Nutzpflanzen decken 66 Prozent des weltweiten Kalorienbedarfs: Reis, Weizen, Mais, Hirse, Kartoffel und Süßkartoffel. In diese Pflanzen wird ein großer Teil der landwirtschaftlichen Forschung investiert. Global betrachtet wird eine Ausweitung des Kartoffelanbaus an diesen Verhältnissen nicht viel ändern.
Sicherlich, auf regionaler Ebene kann es Diversifizierungseffekte geben, wenn zum Beispiel eine Ernährungskultur wie jene Vietnams, die extrem stark vom Grundnahrungsmittel Reis abhängig ist, durch eine neue Nutzpflanze wie die Kartoffel bereichert wird. Solche Nahrungssysteme wären im Fall von Missernten oder eines Anstiegs der Weltmarktpreise (wie derzeit gerade der Fall) weniger verwundbar.
Es sollte aber nicht übersehen werden, dass mit der Konzentration auf immer dieselben Nahrungspflanzen das Potenzial anderer, sogenannter „untergenutzter und vernachlässigter Arten“ weiter unausgeschöpft und die Abhängigkeit von wenigen Weltwirtschaftspflanzen aufrecht bleibt. Viele regionale Nutzpflanzen werden durch einseitige Förderung „produktiver“ Nahrungspflanzen mitunter ganz aus dem Anbau verdrängt. Die Artenvielfalt der Yams-Wurzel in Afrika ist ebenso davon betroffen wie die traditionelle Knollenfrucht „Palawan“ auf den Philippinen. Obwohl diese Pflanzen oft nur regional auf kleinen Flächen gezogen werden, ist ihre Bedeutung für die Subsistenz-Landwirtschaft groß: als Notreserve bei Missernten, als „Lückenfüller“ in der Fruchtfolge, für den Erhalt der Bodenfruchtbarkeit etc.
Die Erforschung traditioneller Kulturpflanzen steht erst am Anfang. Im Vergleich dazu hat die Kartoffelforschung 150 Jahre Vorsprung und ist mit ungleich größeren finanziellen Mitteln ausgestattet. Nicht zuletzt sind es auch wirtschaftliche Interessen, die den Kartoffelanbau in Wachstumsmärkten wie China und Indien interessant machen. Zumal im Zuge der Modernisierung die KonsumentInnen dieser Länder „westliche“ Nahrungsmittel höher schätzen als lokale Nutzpflanzen, die häufig mit dem Stigma des „Arme-Leute-Essens“ behaftet sind.

Michaela Arndorfer ist Botanikerin und langjährige Mitarbeiterin des Vereins „Arche Noah“.

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