Vertrautes und fremdes Familienleben

Von Paloma Fernández de la Hoz · · 2000/06

Jeder weiß, was Familienleben ist. Die meisten von uns sind mit Vater, Mutter und Geschwistern aufgewachsen. Doch schon der Blick in den Nachbarhof kann hier und jetzt, das heißt auch in der Realität eines österreichischen Alltags Fremdes und Ungewohntes

Eine Ehe einzugehen, Kinder zu haben, zählte und zählt zu den wichtigsten Lebenszielen vieler Menschen verschiedener Epochen und Kulturen. Die Bedeutung der Familie erklärt sich aus einer Vielfalt von Bedürfnissen, die allen Menschen gemeinsam sind. Da ist die Sexualität, deren Grundvoraussetzungen biologisch verankert sind, die aber gleichzeitig auch eine Art der Kommunikation zwischen Menschen ermöglicht. Von all den Merkmalen, welche die Identität einer Person bestimmen (wie etwa ihr Alter, die Zeit und der Ort, in der sie lebt, die eigene Biographie, das Land, die Sprache usw.), ist das Geschlecht das Einzige, was diese Identität von Geburt an bis zum Tod prägt: Es gibt nur zwei wesentliche Formen, Mensch zu sein: Mann oder Frau. Auf dieser Dualität beruht die Fruchtbarkeit, die Möglichkeit, Kinder zu bekommen, was ein wesentliches Bedürfnis jeder Gesellschaft ist. Berücksichtigt man weiters die Kraft der Emotionen, die von der Sexualität so oft wachgerufen werden, so lässt sich verstehen, wie sensibel jede Gesellschaft bezüglich all dessen ist, was die Auffassung der Geschlechterrollen und die Kontrolle der Fruchtbarkeit betrifft.

Die sexuelle Partnerschaft sowie die Eltern-Kinder-Beziehung bilden die Grundlagen der Blutsbande, die zumindest bis heute – auch in hoch industrialisierten Gesellschaften – die wichtigsten Verbindungen zwischen Menschen darstellen. Kinder großzuziehen verlangt nach einem gewissen Grad an Stabilität im Zusammenleben der Erwachsenen, die zumindest in den ersten Jahren ihres Lebens für sie sorgen. Die Solidarität familiärer Lebensgemeinschaften ist in der Notwendigkeit zusammenzuhalten begründet, damit materielle Bedürfnisse befriedigt werden können.

Diese Vielfalt an Dimensionen des Familienlebens (Befriedigung der Sexualität, Zeugung von Nachkommen, emotionaler Zusammenhalt, Arbeitsgemeinschaft, Erziehung der Jüngeren und Vorbereitung auf ihre allmähliche Eingliederung in die Gesellschaft, das heißt in die Arbeitswelt sowie in die Bräuche und Vorstellungen der Gruppe) erklärt seinen hohen Stellenwert und auch sein politisches Gewicht: Familiäre Einheiten spielen eine unentbehrliche Rolle bei den Grundorientierungen einer Gesellschaft. Dazu kommt die zunehmende Bewertung dieses immer stärker als privat erfassten Lebensbereiches. Überhaupt ist die Möglichkeit dieser Wahrnehmung von Partnerschaft und Familie an sich ein historisches Novum. Denn allein die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem und die Betrachtung der sexuellen Partnerschaft und der Zeugung von Nachkommen als Angelegenheiten, in denen das Individuum den Anspruch auf Selbststeuerung erheben kann, war für die meisten EuropäerInnen bis zu diesem Jahrhundert und ist heute noch in vielen Regionen des Erdballs undenkbar.

Familienleben lässt sich somit in zahlreichen Formen quer durch die Geschichte und die Kulturen beobachten. Gerade die Relevanz der Familie im Leben eines Großteils der Individuen erklärt ihre Bedeutung. Sie ist so wichtig, dass wir Menschen oft dazu neigen, gerade jene Form, mit der wir vertraut sind, als die Beste, ja, sogar die „natürliche“ zu betrachten. Doch ein Blick auf die Geschichte sowie auf die unterschiedlichen Gesellschaften reicht, um sich der kulturellen Vielfalt familiärer Lebensformen bewusst zu werden.

In den Industrieländern sind gewaltige Veränderungen in Bezug auf die Partnerschaft im Gange: der Rückgang der Geburten- und Eheschließungszahlen, die Überalterung der Bevölkerung, die Zunahme der Scheidungsrate sowie die Zunahme von Ein- und Zweipersonen-Haushalten. Die Formen der Partnerschaft und des Zusammenlebens erweitern sich, was in krassem Gegensatz zu unserer unmittelbaren Vergangenheit, nicht aber zu historischen Zeiten steht: Tatsächlich hat es Jahrhunderte hindurch nicht nur in Westeuropa, sondern auch innerhalb Österreichs eine Vielfalt von Ehe- und Familienformen gegeben. Da haben EuropäerInnen im Vergleich zu anderen kulturellen Zusammenhängen eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit bewiesen. Dennoch, im Laufe des vorigen Jahrhunderts mündete diese Mannigfaltigkeit langsam in ein einheitliches Muster und eine präzise Form von Ehe und Familie. Die bürgerliche Familie setzte sich in Europa durch. Ab damals wurde die Ehe in der Form, wie sie heute in Westeuropa allgemein aufgefasst wird, für die einzig gültige Instanz gehalten, um den sexuellen Verkehr, das Zusammenleben von Partnern sowie die Zeugung und das Aufwachsen von Nachkommen zu legitimieren und zu regeln. Unter anderem deshalb wurden diese Formen von Ehe und Familie bis vor etwa zwanzig Jahren als unerschütterliche Pfeiler unserer Gesellschaft angesehen. Doch diese Pfeiler scheinen zu wanken, und zwar nicht so sehr, weil ihre Sinnhaftigkeit theoretisch infrage gestellt wird. Vielmehr kristallisieren sich neue Formen des Zusammenlebens heraus, die durch ihr Dasein und durch die Prozesse, die dadurch in Gang gesetzt werden, den Bereich des Privatlebens von Grund auf neu gestalten.

Neue Bezeichnungen bestätigen die Ausbreitung mancher familiärer Konstellationen (vollständige Familie versus Teilfamilie, Gattenfamilie) und auch das Aufkommen von neuen sozialen Gruppen (nicht eheliche Lebensgemeinschaften, Singles usw.).

Erstaunlich ist, dass die Pluralität von Lebensformen in der Vergangenheit und Gegenwart aus gegensätzlichen Gründen entstand. In der Vergangenheit Europas traten verschiedene Arten familiärer Gemeinschaften als eine Folge der Zerstückelung des menschlichen Raumes auf, weil die Menschen in differenzierten, voneinander getrennten Kulturkreisen (je nach Gegend, Land, Staat, Klasse, religiöser Tradition usw.) lebten. Diese Lebensräume haben in dem Maße wie sie mit anderen in Kontakt traten an Homogenität gewonnen. Ganz im Gegensatz dazu erfolgt heute die Pluralisierung der privaten Lebensformen gerade infolge einer Homogenisierung des Lebensstils, die auf eine intensive Zunahme der sozialen Kommunikation durch Massenmedien usw. zurückzuführen ist. Manches in Westeuropa weist auf einen einheitlichen zweidimensionalen Prozess hin: zunehmende Homogenität öffentlicher Verhaltensweisen, zunehmende Heterogenität privater Verhaltensweisen.

Was aber für uns selbstverständlich ist, kann von Menschen anderer Traditionen in unterschiedlichen sozialen Kontexten anders aufgefasst werden. Familiäre Lebensformen resultieren aus dem gesamten sozialen Organisationsgewebe einer Gesellschaft, das von einem Bündel von Faktoren geprägt ist. Zu diesen zählen unter anderem religiöse Vorstellungen, die Organisation der Arbeit, das Vorhandensein eines mehr oder minder herauskristallisierten Staates. All diese Faktoren können nicht einfach voneinander getrennt werden. Kommentare wie etwa: „Die Muslime bzw. die Serben tun so“ schlagen deshalb völlig fehl. Nur als erster Schritt, um Unterschieden näher zu kommen, können einzelne Faktoren in Betracht gezogen werden. Nachstehend einige Beispiele.

Stammreligionen – das heißt Religionen, denen ein Individuum durch seine Geburt und nicht auf Grund persönlicher Bekehrung angehört – wie etwa das Judentum und der Islam – bewerten Fruchtbarkeit tendenziell höher als das Christentum. Ähnliches gilt dort, wo Menschen ihre Abstammung auf einen gemeinsamen männlichen Ahnen zurückführen. So entstand die so genannte balkanische und südosteuropäische joint family, zu deren Merkmalen ein ausgeprägter Patriarchalismus (nicht einmal in Abwesenheit des Mannes können Frauen über das Erbe verfügen oder zum Haupt der Familie werden), eine scharfe Trennung zwischen Männer- und Frauenwelten mit genau definierten Geschlechterrollen innerhalb der Familie sowie in der Gesellschaft und die Bedeutung der Jungfräulichkeit als Garant der Reinheit der Abstammungslinie zählen. Die Logik der Männerabstammung erklärt auch, dass in diesen Familien nicht alle Verwandten – wie bei uns – im Prinzip gleich bedeutsam sind, sondern vor allem die Verwandten väterlicherseits. Denken wir nun an Menschen, deren Familienleben auf einer scharfen Trennung der Lebensbereiche von Männern und Frauen beruht. Erstere sind für die Öffentlichkeit, zweitere für das Haus zuständig.

Eine Lehrerin an einer Wiener Schule mag sich vielleicht wundern, dass die Eltern eines Schülers kaum zu den Elternabenden bzw. den Sprechstunden kommen. Wie könnte dies aber anders sein, wenn etwa der Vater berufstätig ist und die Mutter nicht allein zum Besuch kommen darf? Wenn das Paar schließlich erscheint, dann redet nur der Mann, der vielleicht große Schwierigkeiten hat, in der Frau – unserer Lehrerin -, die ihm über die Entwicklung des Kindes berichtet, einen ebenbürtigen Gesprächspartner zu sehen.

Dass die Sexualität und überhaupt die Leiblichkeit uns allen gemeinsam ist, sie aber in unterschiedlichen Gesellschaften andere Akzente haben kann, erklärt auch kulturelle Missverständnisse, die entstehen können, wenn Menschen ein und dieselbe Handlung völlig anders interpretieren. So erzählte kürzlich eine Lehrerin von dem Problem, das eine fromme moslemische Familie aus der Türkei mit der Schule hatte, die ihre Tochter besuchte. Das Mädchen musste zum Schwimmunterricht, was bedeutete, vor der ganzen Klasse im Badeanzug zu erscheinen. Die Oberschenkel zu zeigen, ist für diese Familie aber völlig unsittlich. Bei ihnen wird die Leiblichkeit anders gesehen und bewertet.

Auch das familiäre Leben lässt sich auf unterschiedliche Art und Weise organisieren. Menschen, deren Familie ein gemeinsames Haus teilt, wundern sich vielleicht über unsere „Intimität auf Distanz“, das heißt über die Tatsache, dass Eltern und Kinder nicht unter einem Dach leben. Eine Flüchtlingsfrau aus Bosnien etwa, die einige Jahre in Graz lebte, konnte trotz aller Dankbarkeit gegenüber Österreich und der Anerkennung der Hilfe, die ihr und ihrer Familie zuteil wurde, ihr Entsetzen nicht verbergen, weil sie eine österreichische Nachbarin hatte, die sehr alt war und dennoch allein wohnte, obwohl sie zwei Kinder in anderen Städten hatte. Solange sie neben ihr lebte, leistete sie ihr regelmäßig Gesellschaft, kam auf Besuch und brachte Kuchen. „Es ist schrecklich“, erklärte sie, „im Alter allein gelassen zu sein.“

Diese Solidarität mit den Nachbarn – eine Ausdehnung der Verwandtschaft – zählt für sie geradezu zu den familiären Verpflichtungen, und zwar verstanden als alltägliche Begleitung. Im Gegensatz dazu gibt es in einem Wiener Bezirk eine Familie aus der inneren Türkei, deren mangelhafte Kinderbetreuung einige österreichische NachbarInnen beklagten: „Die Kinder werden allein gelassen. Niemand passt auf sie auf.“ Dies entsprach nicht genau der Wirklichkeit, sondern vielmehr der Vorstellung der BeobachterInnen, dass Kinder durch die eigenen Eltern betreut werden sollen. In der Tat gibt es in derselben Gasse auch andere Familien, die aus derselben Region zugewandert sind. Sie bilden eine Art Netzwerk, das sich unter anderem rund um die Uhr die Betreuung der Kinder auf der Straße sowie im nahe gelegenen Park teilt, sodass jedes von ihnen stets in Sichtweite eines Erwachsenen bzw. älteren Jugendlichen ist.

Diese Überlegungen zu der Vielfalt familiärer Lebensformen in Betracht zu ziehen, lohnt sich gerade heute, wo der Pluralismus unserer Gesellschaft zunimmt, und zwar aus zwei unterschiedlichen Gründen: Zum einen kommt es in den westeuropäischen Ländern – darunter auch in Österreich – erneut zu einer Vielfalt familiärer Lebensformen; zum anderen wird die Welt immer kleiner, sodass Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Lebensweisen immer mehr voneinander wissen und sogar ganz nahe beieinander leben, etwa als NachbarInnen oder ArbeitskollegInnen. Diese physische Nähe bedeutet aber nicht unbedingt, ähnliche Einstellungen – etwa zur Familie – zu haben. Auch das Gegenteil stimmt. Menschen, die aus anderen Ländern als MigrantInnen nach Österreich kamen, sind deshalb nicht zwangsläufig „anders“. Eines ist auf jeden Fall klar: In einer pluralistischen Gesellschaft gemeinsam mit Menschen anderer Erfahrungen und Werte zu leben, verlangt danach, langsam mit Unterschieden leben zu lernen, wenn wir das Bild der anderen nicht verzerren, uns nicht hinter Voreingenommenheiten verschanzen wollen.

Paloma Fernández de la Hoz ist Familienforscherin und Mitarbeiterin der Katholischen Sozialakademie Österreichs

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