Viel Lärm um Nichts

Von Robert Poth · · 2003/05

Die in Doha beschlossene „Entwicklungsrunde“ der WTO steckt in einer ernsten Krise.

In Zeiten wachsender globaler Unsicherheit“ wäre ein zeitgerechter Abschluss der Doha-Runde ein dringend nötiger Beitrag zum „Vertrauen“, meinte WTO-Generaldirektor Supachai Panitchpakdi Anfang April vor einem informellen Treffen des Koordinierungsausschusses (TNC) der WTO-Verhandlungen in Genf. Ein Déjà-vu: Im November 2001 in Doha/Katar wurde die so genannte „Entwicklungsrunde“ mit gleichlautenden Appellen aus der Taufe gehoben, damals im Schatten der Anschläge vom 11. September. Seither ist die Weltwirtschaft nur noch maroder geworden, und es sieht nicht danach aus, als ob sie am Welthandel genesen würde – jedenfalls nicht an den Verhandlungen darüber. Denn diese stehen dort, wo sie bereits 1999 in Seattle waren: in einer Sackgasse.
Seit Seattle verweigern die Entwicklungsländer, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie brauchen Vertrauen darauf, dass sich etwas ändert – in ihrem Interesse. Doch ihre Anliegen sind nach wie vor blockiert: Im Bereich Patentschutz (TRIPS-Übereinkommen) und Gesundheit (Stichwort Medikamentenpreise) hat die Pharmaindustrie im Dezember ein US-Veto erreicht. Weder betreffend ihre Probleme mit der Umsetzung der Liberalisierung aus der Uruguay-Runde (1986-1994) noch die Erweiterung der so genannten „besonderen und unterschiedlichen Behandlung“ (SDT) der Entwicklungsländer gibt es Beschlüsse, und im Bereich Landwirtschaft stellen sich in erster Linie die EU und Japan quer. Die EU will nur einlenken, wenn die Entwicklungsländer ihrerseits Verhandlungen über die neuen Themen Investitionen, Wettbewerb, öffentliches Beschaffungswesen und Handelserleichterungen zustimmen. Die USA wiederum sagen, sie unterstützten diese EU-Forderung, um Brüssel im Agrarbereich zum Nachgeben zu bringen.

Wieder scheinen die Entwicklungsländer eine Nebenrolle in einem bilateralen EU-US-Konflikt zu spielen. Denn die EU beharrt auf den neuen Themen, weil sie auf multilateraler Ebene (aufgrund der Meistbegünstigungsklausel) jene wirtschaftlichen Vorteile wettmachen will, welche die USA mittels Druck im Rahmen bilateraler Abkommen durchsetzen. Und Brüssel heischt um Bündnispartner im Süden, indem darauf verwiesen wird, es ginge eigentlich um die zukünftigen Agrarmärkte in Entwicklungsländern, und der EU-Agrarmarkt werde nur als „Lockvogel“ benutzt. Doch die Entwicklungsländer beharren bisher darauf, dass die „Entwicklungsrunde“ erst einmal ihrem Namen gerecht werden soll, bevor sie neuen Themen zustimmen.
Welchen Anreiz haben die Entwicklungsländer, dem EU-Drängen nachzugeben? Wenn man von den kaum vorhersagbaren Effekten einer weiteren Liberalisierung des Dienstleistungshandels im Rahmen des GATS absieht, keinen großen. Denn das „Zuckerbrot“ der Liberalisierung des Landwirtschaftshandels ist nicht viel wert. Der letzte Kompromissvorschlag sieht etwa den Stopp der Exportsubventionen, Zollsenkungen von 40 bis 60 Prozent und die Kürzung handelsverzerrender Subventionen um 60 Prozent vor. Innerhalb von neun Jahren, so eine Schätzung, könnte dadurch das weltweite Einkommen um 100 Mrd. US-Dollar zunehmen, aber nur 20 Mrd. davon entfielen auf Entwicklungsländer. Das ist kaum mehr als Nichts: Steigt der Ölpreis um fünf Dollar pro Barrel, kostet das die ölimportierenden Entwicklungsländer pro Jahr in etwa dasselbe, und allein die jährlichen Überweisungen von GastarbeiterInnen in ihre Heimatländer im Süden betragen derzeit das Vierfache davon.

Selbst eine vollständige, weltweite Liberalisierung des gesamten Warenhandels inklusive Textil- und Landwirtschaftshandel würde nach Weltbankberechnungen von 2002 das Einkommen aller Entwicklungsländer bis 2015 um maximal 540 Mrd. Dollar (zu Preisen von 1997) erhöhen. Zählt man die Effekte einer autonomen Liberalisierung durch die Entwicklungsländer ab, verbleiben 124 Mrd. Dollar oder bloß 0,85% des geschätzten BIP von 2015 (14.500 Mrd. Dollar). Diesen hochgerechneten Gewinnen stellten Marc Weisbrot und Dean Baker vom Washingtoner Center for Economic and Policy Research (CEPR) im Vorjahr eigene Schätzungen zweier Kostenfaktoren der „Liberalisierung“ für die Entwicklungsländer gegenüber (siehe Grafik): Patentschutz (TRIPS) und die (bereits eingetretenen) Kosten der Erhöhung der Währungsreserven wegen der zunehmenden Volatilität der internationalen Finanzmärkte nach dem Zusammenbruch des Systems der festen Wechselkurse in den 70er Jahren. Bei Letzterem handelt es sich um „Opportunitätskosten“: die Differenz aus der niedrigen Verzinsung dieser Devisenreserven und ihrer Rendite bei produktiver Verwendung. Das Ergebnis: Allein die vollständige Umsetzung von TRIPS könnte die Entwicklungsländer (ohne Südkorea) etwa ebenso viel Wachstum kosten wie ihnen die Marktöffnung der reichen Länder bringt.

Mithin haben die Entwicklungsländer allen Grund, nicht nachzugeben. Was passiert, wenn bis zur nächsten Ministerkonferenz der WTO im September in Cancún (Mexiko) nichts passiert, ist völlig ungewiss. Manche Beobachter wie Chakravarthi Raghavan vom Nord-Süd-Nachrichtendienst SUNS fürchten, die USA könnten, nachdem sie bereits die UN-Charta für praktisch irrelevant erklärt haben, auch der WTO den Rücken zukehren, sofern ihnen das Ergebnis nicht passt. Aber dazu neigen bereits auch einige Entwicklungsländer. Nach dem ersten Tag der TNC-Beratungen in Genf sprach ein Vertreter eines führenden afrikanischen Landes inoffiziell bereits von einem „Affentheater“, das die Kosten seines Aufenthalts nicht rechtfertige.
Ein anderes Szenario bestünde darin, dass die Entwicklungsländer am Ende einem Deal zwischen den USA, der EU und Japan zustimmen, obwohl sie über den Tisch gezogen werden – als kleineres Übel: Sich für den Multilateralismus opfern, um das Faustrecht zu verhindern. Denn dabei ziehen sie jedenfalls den Kürzeren.

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