Vom Ich, Ich, Ich! zum Wir

Von Redaktion · · 2014/10

In der Kindererziehung müssen gemeinschaftliche Werte mindestens genauso wichtig sein wie individuelles Glück und Erfolg, findet Michaela Schonhöft.

In meinem gutbürgerlichen Berliner Heimatbezirk Pankow ist ein Streit entbrannt. Ein Streit um das Recht „hochbegabter Kinder“ auf Aufnahme in eine Sonderklasse. Als einzige weiterführende Schule im Bezirk gibt es am Rosa-Luxemburg-Gymnasium seit vielen Jahren so genannte „Schnell-Lerner-Klassen“. Voraussetzung für die Aufnahme sind exzellente Zeugnisse, eine Empfehlung der Grundschule und ein guter IQ-Test. 110 SchülerInnen erfüllten in diesem Jahr die Aufnahmebedingungen, 60 erhielten an der Schule einen Platz. Erboste Eltern, deren Kinder abgewiesen wurden, gründeten die Initiative „Bildung nach Bedarf“. In der Pressemitteilung der Initiative heißt es: „In anderen Bezirken wie zum Beispiel im Wedding, einem sozial schwachen Bezirk in Berlin, hatten sich wesentlich weniger Kinder zum Test angemeldet als in Pankow, wo es offenbar besonders viele leistungsfähige und -bereite Kinder gibt.“

Doch Intelligenz richtet sich quer durch alle Schichten nach der Gaußschen Normalverteilung. Das weisen Studien immer wieder nach. Für den Leistungswahn unter Eltern gilt dies offenbar nicht.

Jedes Kind ist etwas Besonderes, etwas sehr Spezielles, Unvergleichliches. Eltern in Österreich und Deutschland haben mittlerweile ein viel größeres Wissen über die Entwicklungsschritte ihrer Kinder als noch vor wenigen Jahrzehnten – und auch ein größeres Bedürfnis, darauf sehr individuell einzugehen. In meinem Kind, lautet insgeheim die Hoffnung, schlummert irgendein herausragendes Talent.

Kinder leiden an Größenwahn, weil die gesamte westliche Gesellschaft daran leidet, überspitzen dies die Psychologen Keith Campbell und Jean Twenge von der Universität Georgia und San Diego. Es drohe gar eine narzisstische Epidemie.

In meinem Heimatbezirk, in dem so sehr um zusätzliche Hochbegabten-Klassen gerungen wird, gibt es bisher nur wenige Schulen, in denen alle Kinder, ob mit Behinderungen oder ohne, mit Lernschwächen oder Super-Begabungen, gemeinsam lernen können. Die Schulleiterin einer Inklusionsschule am Prenzlauer Berg ist oft fassungslos angesichts der Skepsis und der häufig offenen aggressiven Ablehnung seitens der Eltern.

Eltern, die sich zu sehr auf die Förderung von Leistungsbereitschaft und Konkurrenzdenken stürzen, lassen ihre Kinder etwas ganz Wesentliches verpassen: Das Gefühl von Gemeinschaftlichkeit. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett schreibt in seinem Werk „Zusammenarbeit“: „Aus der Sicht anderer Kultur erscheint ein Mensch, der stolz darauf ist, andere nicht um Hilfe zu bitten, als eine zutiefst geschädigte Person, weil die Angst vor sozialer Einbindung sein Leben beherrscht. Der moderne Kapitalismus hat Konkurrenz und Kooperation aus dem Gleichgewicht gebracht.“

Kapitalismus und kooperatives Verhalten müssen jedoch kein Widerspruch in sich sein. Japan ist als ein Land bekannt, in dem Hochleistung eine große Rolle spielt, auch in der Schule. Wenig bekannt ist, dass gerade im Kindergarten und in den Grundschulen sehr viel Wert auf die soziale Entwicklung der Kinder gelegt wird, auf die Förderung von Empathie. Japanische Kinder lernen früh, auch auf die anderen in der Gruppe Acht zu geben, Mitleid zu empfinden, die Sicht des Gegenübers zuzulassen.

In vielen Ländern Asiens versuchen sich Eltern an einem Hybrid. Ihnen ist Individualismus in der Erziehung zunehmend wichtig, gemeinschaftliche Werte wollen sie aber nicht aufgeben. Moderne asiatische Eltern haben einen Erziehungsstil entwickelt, der ihre Kinder möglicherweise besser wappnet als das „westliche“ einseitige Streben nach Leistungsbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit. Die türkische Soziologin Cigdem Kagitsibasi nennt dieses Hybrid aus Individualismus und Gemeinschaftssinn „autonome Verbundenheit“. Sie glaubt, das sei die gesündeste Form des Zusammenlebens.

Kindern tut es gut, sich als Individuum zu erfahren. Aber sie profitieren auch davon, sich als Teil der Gesellschaft zu erleben. Glück bedeutet eben nicht nur individuelles Glück, sondern vor allem auch gemeinschaftliche Zufriedenheit. 

Michaela Schonhöft ist Journalistin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann, zwei kleinen Kindern und zwei Teenagern in Berlin. Im Jahr 2013 hat sie ihr Buch „Kindheiten: Wie kleine Menschen in anderen Ländern groß werden“ (Pattloch Verlag) veröffentlicht.

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